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Esterhazy beobachtete die hektische Betriebsamkeit, die plötzlich an Deck der Vergeltung herrschte, während das motorisierte Dinghy sich unerwartet vom Marinakomplex her näherte. Mit einem Fernglas besah er sich das kleine Boot durch die getönten Fensterscheiben im großen Salon. So unwahrscheinlich eine derartige Vorgehensweise auch war, er fragte sich, ob es sich wohl um Pendergast handeln konnte. Aber nein, es war jemand, den er noch nie gesehen hatte und der ein wenig unsicher im Bugbereich des kleinen Boots hockte.
Falkoner kam herüber. »Ist er das?«
Esterhazy schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne die Person nicht.«
»Ahoi, die Yacht!«, sagte der Mann, der im Bug saß. Er trug übertrieben maritime Kleidung: marineblauer Blazer, Mütze, Ascotkrawatte.
»Hallo«, rief Falkoner ihm freundlich zu.
»Ich bin ein Nachbar«, sagte der Mann. »Ich habe Ihre Yacht bewundert. Störe ich Sie?«
»Überhaupt nicht. Möchten Sie an Bord kommen?«
»Gern.« Der Mann wandte sich zu dem Marina-Angestellten um, der den Außenbordmotor bediente. »Bitte warten Sie.«
Der Mitarbeiter nickte.
Der Yachtbesitzer betrat die Boardingplattform am Heck der Yacht, während Falkoner den Heckspiegel öffnete, damit er an Bord kommen konnte. Als der Mann an Deck trat, strich er seinen Blazer glatt und streckte die Hand aus. »Betterton mein Name. Ned Betterton.«
»Ich bin Falkoner.«
Esterhazy schüttelte Betterton die Hand, dabei lächelte er, sagte aber nicht, wie er hieß. Beim Lächeln schmerzten die Kratzer in seinem Gesicht. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Constance war eingeschlossen im Laderaum, mit Handschellen gefesselt, der Mund geknebelt und mit Klebeband versehen. Und trotzdem lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er sich an ihren Gesichtsausdruck im sicheren Unterschlupf in der Upper East Side erinnerte. Zwei Dinge waren ihm im Gedächtnis haften geblieben, so eindeutig wie die Tatsache, dass er lebte: Hass und Klarheit des Verstandes. Die Frau war mitnichten eine Irre, so wie er angenommen hatte. Und ihr Hass auf ihn war in seiner Intensität und Mordlust enorm beunruhigend. Er merkte, dass er nicht wenig verunsichert war.
»Meine Yacht liegt da drüben«, Betterton wies mit dem Daumen vage über die Schulter, »und da habe ich mir gedacht, ich komm mal kurz rüber, um Ihnen einen angenehmen Abend zu wünschen. Und weil mich – um ehrlich zu sein – Ihre Yacht fasziniert.«
»Schön, dass mein Schiff Ihnen gefällt«, erwiderte Falkoner und warf Esterhazy einen kurzen Blick zu. »Hätten Sie Lust auf eine kleine Besichtigungstour?«
Betterton nickte begierig. »Danke, ja.«
Esterhazy sah, dass Bettertons Blick überallhin schweifte, dass der Mann alles musterte. Es wunderte ihn, dass Falkoner ihm eine Besichtigung angeboten hatte – es ging irgendwie etwas Falsches, Unechtes von dem Mann aus. Er sah nicht aus wie ein Yachtbesitzer, der blaue Blazer war Billigware, außerdem trug er No-name-Deckschuhe von der Landratten-Sorte.
Sie betraten den wunderschön ausgestatteten Salon, während Falkoner zu einer Schilderung der technischen Eigenschaften und edlen Ausstattungsmerkmale der Vergeltung anhob. Betterton hörte mit fast kindlichem Eifer zu und sah sich nach wie vor um, als wollte er alles in seinem Gedächtnis einprägen.
»Wie viele Leute haben Sie an Bord?«, fragte Betterton.
»Wir haben eine achtköpfige Crew. Dann noch mich und meinen Freund hier, der aber nur für ein paar Tage auf Besuch ist.« Falkoner lächelte. »Und wie sieht’s auf Ihrem Boot aus?«
Betterton winkte ab. »Drei Mann Besatzung. Haben Sie mit ihr in letzter Zeit irgendwelche Fahrten unternommen?«
»Nein. Wir haben hier seit mehreren Wochen festgemacht.«
»Und Sie waren die ganze Zeit über an Bord? Das ist aber schade, selbst auf so einem prächtigen Boot. Wo Ihnen doch ganz New York zu Füßen liegt.«
»Bedauerlicherweise hatte ich keine Zeit für Ausflüge.«
Sie gingen durch den Speiseraum bis in die Galley, wo Falkoner eine Menükarte hervorholte und dabei die Qualitäten des Kochs pries. Esterhazy folgte stumm und fragte sich, worauf das hier hinauslief.
»Pazifische Scholle an Trüffelbutter und Mousse aus Schwarzwurzelgemüse«, sagte Betterton mit einem Blick aufs Menü. »Sie essen gut hier.«
»Möchten Sie vielleicht zum Abendessen bleiben?«, fragte Falkoner.
»Danke, aber ich habe schon eine Verabredung.«
Sie gingen weiter durch einen holzvertäfelten Korridor. »Würden Sie gern die Brücke sehen?«
»Selbstverständlich.«
Sie erklommen eine Treppe zum Oberdeck und zum Steuerhaus.
»Das ist Captain Joachim«, sagte Falkoner.
»Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Betterton, während er sich umsah. »Sehr eindrucksvoll.«
»Ja, ich bin ganz zufrieden damit«, antwortete Falkoner. »Die Unabhängigkeit, die einem eine solche Yacht verleiht, ist durch nichts zu ersetzen. Aber das wissen Sie ja selbst am besten. Das Loran-System an Bord ist auf dem neuesten Stand.«
»Das glaube ich gern.«
»Haben Sie auch ein Loran auf Ihrem Boot?«
»Natürlich.«
»Eine großartige Erfindung.«
Esterhazy warf Falkoner einen Blick zu. Loran? Diese alte Technik war längst durch GPS ersetzt worden. Auf einmal verstand er, was Falkoner hier spielte.
»Und welche Art Schiff besitzen Sie?«, fragte Falkoner.
»Oh, es ist ein, äh, Chris Craft. Fünfundzwanzig Meter lang.«
»Ein Fünfundzwanzig-Meter-Chris-Craft. Hat es denn eine ordentliche Reichweite?«
»Oh, sicher.«
»Und welche?«
»Achthundert Seemeilen.«
Falkoner schien darüber nachzudenken. Dann fasste er Betterton am Arm. »Kommen Sie. Wir zeigen Ihnen eine der Gästekabinen.«
Sie verließen die Brücke und stiegen zwei Ebenen in den Wohnbereich auf dem Unterdeck hinab. Aber Falkoner blieb hier nicht stehen, sondern stieg eine weitere Treppe zu den Maschinenräumen hinunter. Er ging einen Flur voran bis zu einer Tür ohne Kennzeichnung. »Ich bin neugierig«, sagte er, als er die Tür öffnete. »Was für eine Maschine hat Ihre Yacht? Und was ist ihr Heimathafen?«
Sie betraten keine Gästekabine, sondern einen spartanisch wirkenden Lagerraum. »Ach, mich interessiert das Seemännische nicht allzu sehr«, sagte Betterton, lachte und wedelte mit der Hand. »Das überlasse ich lieber meinem Kapitän und der Besatzung.«
»Komisch«, antwortete Falkoner, während er den Deckel einer Segel-Backskiste anhob. »Ich selbst mache lieber alles allein.« Er zog aus der Backskiste eine große Abdeckplane aus Segeltuch und entrollte sie auf dem Boden.
»Das hier ist eine Gästekabine?«, fragte Betterton.
»Nein«, antwortete Falkoner und schloss die Tür. Er warf Esterhazy einen kurzen Blick zu, der etwas beängstigend Kaltes verströmte.
Betterton sah auf die Uhr. »Also, vielen Dank für die Besichtigungstour. Ich glaube, ich mache mich wieder auf …«
Er stockte, als er das zweischneidige Kampfmesser in Falkoners Hand erblickte.
»Wer sind Sie?«, fragte Falkoner leise. »Und was wollen Sie?«
Betterton blickte von Falkoner zum Messer und wieder zu Falkoner. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Meine Yacht liegt kurz hinter der …«
So schnell wie eine zuschlagende Schlange packte Falkoner eine von Bettertons Händen und stach mit der Messerspitze in das Gewebe zwischen Zeige- und Mittelfinger.
Betterton schrie auf vor Schmerz und versuchte, seine Hand loszureißen. Aber Falkoner verstärkte nur seinen Griff und zog Betterton nach vorn, so dass er über der Segeltuchplane stand.
»Wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Bringen Sie mich nicht dazu, mich zu wiederholen. Judson, geben Sie mir Feuerschutz.«
Esterhazy holte seine Pistole hervor und trat einen Schritt zurück. Ihm war speiübel. Das hier war unnötig. Und Falkoners offenkundiger Eifer machte alles nur noch schlimmer.
»Sie begehen einen schweren Fehler«, fing Betterton an, dessen Stimme plötzlich leise und drohend klang. Aber bevor er weiterreden konnte, packte Falkoner das Messer wieder fester und drückte es noch tiefer hinein, diesmal in die Haut zwischen Mittel- und Ringfinger.
»Ich bring dich um«, keuchte Betterton.
Während Esterhazy mit wachsendem Entsetzen zusah, hielt Falkoner das Handgelenk des Fremden mit eisernem Griff gepackt und bohrte weiter mit dem Messer.
Betterton strauchelte, er stöhnte, sagte aber kein Wort.
»Sagen Sie mir, warum Sie hier sind.« Falkoner drehte das Messer tiefer ins Fleisch.
»Ich bin ein Dieb«, keuchte Betterton.
»Interessante Geschichte«, sagte Falkoner. »Aber ich nehme sie Ihnen nicht ab.«
»Ich …«, begann Betterton, aber in einem plötzlichen Ausbruch von Gewalttätigkeit stieß Falkoner ihm das Knie in den Unterleib und versetzte ihm einen Kopfstoß. Betterton stürzte auf die Plane. Er stöhnte, aus seiner gebrochenen Nase strömte Blut.
Falkoner zog eine Ecke der Plane über Betterton wie ein Laken, dann kniete er darauf nieder und setzte sich auf Bettertons Brust. Mit dem Messer zeichnete er eine Linie an der weichen Unterseite des Kinns nach. Betterton, der nicht aufstehen konnte und halb betäubt war, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und stöhnte wirr.
Falkoner seufzte, ob aus Bedauern oder Ungeduld, konnte Esterhazy nicht erkennen, stach dann mit dem Messer in das weiche Fleisch unmittelbar über dem Hals, unterhalb des Kinns, und versenkte es zwei Fingerbreit in den Gaumen des Mannes.
Jetzt schrie Betterton endlich auf und wehrte sich wie wild. Nach einem Augenblick zog Falkoner das Messer heraus.
Betterton hustete und spuckte Blut. »Reporter«, sagte er nach einem Moment. Es klang wie ein nasses Gurgeln, war schwer zu verstehen.
»Reporter? Der was recherchiert?«
»Den Tod … von June und Carlton Brodie.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte Falkoner.
»Ortsansässige … Autovermietung … Fluggesellschaft.«
»Das hört sich schon glaubwürdiger an«, sagte Falkoner. »Haben Sie irgendjemandem von mir erzählt?«
»Nein.«
»Gut.«
»Sie müssen mich gehen lassen … Ein Mann wartet auf mich … im Boot …«
Mit einer brutalen Bewegung zog Falkoner das Messer fest über die Kehle des Reporters und sprang gleichzeitig zurück, um dem Blutschwall auszuweichen.
»O mein Gott!«, rief Esterhazy und trat schockiert und entsetzt einen Schritt zurück.
Betterton hob die Hände an die Wunde, aber es war eine instinktive Bewegung. Während dunkelrotes Blut zwischen den Fingern des Mannes hervortrat, zog Falkoner die Plane um Beine, die bereits spastisch zuckten.
Esterhazy starrte hin, wie gelähmt vor Schreck. Falkoner stand auf, wischte das Messer an der Plane ab, richtete seine Kleidung, wischte sich die Hände ab und blickte mit einer Miene auf den sterbenden Reporter herab, die sehr nach Befriedigung aussah. Er drehte sich zu Esterhazy um. »Bisschen stark für Sie, Judson?«
Esterhazy gab keine Antwort.
Sie stiegen wieder zwei Ebenen hinauf; Esterhazy hatten die Brutalität und Falkoners sichtliche Freude daran völlig verstört. Er folgte Falkoner durch den Salon aufs Hinterdeck. Das kleine Motorboot wartete immer noch im Schatten der Yacht.
Falkoner beugte sich über die Reling und sprach mit dem Mann im Boot, dem, der Betterton zur Yacht übergesetzt hatte. »Vic, die Leiche ist unten im vorderen Laderaum. Komm nach Einbruch der Dunkelheit zurück und schaff sie weg. Diskret.«
»Ja, Herr Falkoner«, sagte der Mann im Boot.
»Du wirst eine passende Geschichte brauchen, die erklärt, warum dein Passagier nicht zur Hafenanlage zurückgekehrt ist. Er ist ein prima Kerl, wir haben ihn zu einer kurzen Kreuzfahrt eingeladen.«
»Sehr gut.«
»Ich schlage vor, die Leiche im Riverside Park zu deponieren. Oben in den Hundertern – da ist die Bebauung immer noch ziemlich lückenhaft. Lass es aussehen wie einen Raubüberfall. Ich würde sie zwar lieber auf See über Bord werfen, aber das wäre letztlich schwieriger zu erklären.«
»Ja, Herr Falkoner.« Der Mann ließ den Motor an und kehrte zum Marinakomplex zurück.
Falkoner sah dem davonfahrenden Dinghy eine Minute lang hinterher. Dann warf er Esterhazy einen Blick zu. Seine Miene wirkte angespannt. »Ein verdammter ahnungsloser Reporter – und er hat mich gefunden. Hat die Vergeltung gefunden.« Er kniff die Augen zusammen. »Mir fällt da nur eine Möglichkeit ein: Er ist Ihnen gefolgt.«
»Das kann nicht sein. Ich habe extrem gut aufgepasst. Außerdem bin ich nie auch nur in der Nähe von Malfourche gewesen.«
Das wurde mit einem langen Blick aus leicht zugekniffenen Augen quittiert, aber schließlich schien sich Falkoner zu entspannen. »Ich nehme an, wir können das hier als erfolgreichen Probelauf bezeichnen, ja?«
Esterhazy schwieg.
»Wir sind bereit für diesen Pendergast. Solange Sie den Haken mit dem richtigen Köder versehen haben und sicher sind, dass er kommt.«
»Nichts, was Pendergast betrifft, ist sicher«, sagte Esterhazy schließlich.