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New York City

Mit raschen Schritten ging Judson Esterhazy – in seiner Rolle als Dr. Poole – über den Flur des Mount Mercy Hospitals, Felder neben sich. Sie folgten Dr. Ostrom, dem ärztlichen Direktor, der einen höflichen, diskreten und äußerst professionellen Eindruck machte. Ausgezeichnete Eigenschaften für einen Mann in seiner Position.

»Ich glaube, Sie werden die Morgenvisite höchst interessant finden«, sagte Esterhazy zu Ostrom. »Wie ich Doktor Felder hier bereits erklärt habe, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie unter einer selektiven Amnesie leidet, was meine Person betrifft.«

»Ich bin gespannt«, sagte Ostrom.

»Und Sie haben ihr nichts von mir erzählt und sie auch nicht auf irgendeine Weise auf die Visite vorbereitet?«

»Ihr wurde nichts gesagt.«

»Ausgezeichnet. Wir sollten die eigentliche Visite recht kurz halten. Was immer sie zu wissen oder nicht zu wissen vorgibt, der emotionale Stress wird, auch wenn er höchstwahrscheinlich unbewusst bleibt, erheblich sein.«

»Eine kluge Vorsichtsmaßnahme«, pflichtete Felder bei.

Sie bogen um eine Ecke und warteten, dass ein Pfleger eine Metalltür aufschloss.

»Sie wird sich höchstwahrscheinlich unwohl fühlen«, fuhr Esterhazy fort. »Das liegt zum Teil sicherlich auch daran, dass ihr ihre unterdrückten Erinnerungen im Zusammenhang mit meiner damaligen Therapie Unbehagen bereiten.«

Ostrom nickte.

»Noch eine letzte Sache. Am Ende der Visite wäre ich gern kurz allein mit ihr.«

Ostrom ging langsamer und blickte fragend nach hinten über die Schulter.

»Ich möchte gern herausbekommen, ob ihr Verhalten sich auf irgendeine Weise ändert, sobald Sie nicht mehr im Zimmer sind, oder ob sie weiterhin so tut, als würde sie mich nicht wiedererkennen.«

»Ich sehe kein Problem darin«, sagte Ostrom. Er blieb vor einer Tür – wie die anderen mit einer Nummer versehen – stehen, dann klopfte er leise an.

»Treten Sie ein«, ließ sich eine Stimme von drinnen vernehmen.

Ostrom schloss die Tür auf, dann ging er Felder und Esterhazy voran in einen kleinen fensterlosen Raum. Das Mobiliar bestand lediglich aus einem Bett, einem Tisch, einem Bücherregal und einem Plastikstuhl. Auf dem Stuhl saß eine junge Frau, in einem Buch lesend. Sie blickte auf, als die drei Männer eintraten.

Esterhazy musterte sie neugierig. Er hatte sich gefragt, wie Pendergasts Mündel wohl aussehen würde – und wurde aufs angenehmste überrascht. Constance Greene war sehr, mehr noch: äußerst attraktiv. Schlank und zierlich, kurzes dunkelbraunes Haar, makellose Porzellanhaut und veilchenblaue Augen, die wach und klug, aber seltsam unergründlich wirkten. Sie schaute von einem Mann zum anderen. Als ihr Blick auf Esterhazy fiel, hielt sie inne, allerdings ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck veränderte.

Esterhazy machte sich keine Sorgen, dass sie ihn als Pendergasts Schwager wiedererkannte. Pendergast war nicht der Typ, der Fotos von Familienangehörigen im Haus aufstellte.

»Doktor Ostrom«, sagte sie, legte ihr Buch auf den Tisch und stand höflich auf. Esterhazy sah, dass sie in Sartres Das Sein und das Nichts gelesen hatte. »Und Doktor Felder, wie reizend, Sie wiederzusehen.«

Esterhazy war fasziniert. Ihre Bewegungen, ihre Art zu sprechen, ihr ganzes Wesen schien einer früheren, würdevolleren Epoche anzugehören. Es schien fast so, als habe sie sie zu Gurken-Sandwiches und Hagebuttentee ins Zimmer gebeten. Sie wirkte so gar nicht wie eine irre Kindsmörderin, die in einer geschlossenen Abteilung untergebracht war.

»Bitte nehmen Sie doch Platz, Constance«, sagte Dr. Ostrom. »Wir bleiben nur kurz. Doktor Poole hier ist zufällig in der Stadt, und da dachten wir, Sie würden ihn vielleicht gern treffen.«

»Doktor Poole«, wiederholte Constance, während sie sich wieder auf den Stuhl setzte. Als sie sich zu Esterhazy umwandte, blitzte in ihrem eigenartig fernen Blick eine Spur von Neugier auf.

»Ganz recht«, sagte Felder.

»Sie können sich nicht an mich erinnern?«, fragte Esterhazy, wobei er seine Stimme so modulierte, dass sie wohlwollende Sorge zum Ausdruck brachte.

Constance runzelte leicht die Stirn. »Ich hatte nicht das Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir.«

»Nicht, Constance?« Jetzt klang sein Tonfall ein ganz klein wenig enttäuscht und mitleidig.

Sie schüttelte den Kopf.

Aus dem Augenwinkel sah Esterhazy, dass Ostrom und Felder einen kurzen, bedeutungsvollen Blick wechselten. Die Sache lief genau so, wie er gehofft hatte.

Constance sah ihn ein wenig forschend an, dann wandte sie sich zu Ostrom um. »Was hat Ihnen den Eindruck verschafft, dass ich diesen Herrn gern treffen möchte?«

Ostrom errötete leicht und nickte in Richtung Esterhazy.

»Schauen Sie, Constance«, sagte Esterhazy, »ich habe Sie früher einmal behandelt, vor Jahren, auf die Bitte Ihres, äh, Vormunds.«

»Sie lügen«, sagte Constance schroff und erhob sich wieder. Dann drehte sie sich erneut zu Ostrom um. Jetzt drückte ihre Miene Verwirrung und Beunruhigung aus. »Doktor Ostrom, ich habe diesen Mann noch nie im Leben gesehen. Und ich möchte Sie dringend bitten, ihn aus diesem Zimmer zu entfernen.«

»Es tut mir leid, dass es zu diesem Durcheinander gekommen ist, Constance.« Ostrom warf Esterhazy einen fragenden Blick zu. Der wiederum deutete mit knapper Geste an, dass es an der Zeit sei zu gehen.

»Wir gehen jetzt, Constance«, fügte Felder hinzu. »Doktor Poole hat gebeten, kurz mit Ihnen allein sein zu dürfen. Wir warten so lange vor der Tür.«

»Aber …«, begann Constance und verstummte dann. Sie sah Esterhazy an. Einen Moment lang war er bestürzt, welch große Feindseligkeit in ihrem Blick lag.

»Bitte fassen Sie sich kurz, Doktor«, sagte Ostrom, als er die Tür aufschloss und öffnete. Er verließ den Raum, gefolgt von Felder. Erneut schloss sich die Tür.

Esterhazy trat einen Schritt von Constance fort, ließ die Arme fallen und nahm eine möglichst gelassene Körperhaltung ein. Die junge Frau strahlte etwas aus, das alle Alarmglocken bei ihm schrillen ließ. Er musste aufpassen – extrem gut aufpassen.

»Sie haben ja recht, Miss Greene«, sagte er leise. »Sie sind mir noch nie im Leben begegnet. Ich habe Sie zu keinem Zeitpunkt behandelt. Das war alles ein Täuschungsmanöver.«

Constance, die hinter dem Tisch saß, schaute ihn nur an; ihr Argwohn war geradezu mit Händen greifbar.

»Ich heiße Judson Esterhazy. Ich bin Aloysius’ Schwager.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Constance. »Er hat Ihren Namen nie erwähnt.« Ihre Stimme klang leise und völlig neutral.

»Das ist typisch Aloysius. Hören Sie, Constance. Helen Esterhazy war meine Schwester. Dass sie von einem Löwen gefressen wurde, war vermutlich das Schlimmste, was ihm je widerfahren ist – außer vielleicht, dass seine Eltern bei dem Brand in New Orleans ums Leben gekommen sind. Sie kennen ihn sicherlich gut genug, um zu wissen, dass er keiner ist, der gern von der Vergangenheit spricht, vor allem nicht von einer derart schmerzlichen. Aber er hat mich gebeten, ihm zu helfen, weil ich der Einzige bin, dem er vertrauen kann.«

Constance blieb hinter dem Schreibtisch sitzen, schwieg und starrte ihn nur an.

»Wenn Sie mir nicht glauben, hier ist mein Pass.« Er zog ihn aus der Tasche und klappte ihn auf. »Esterhazy ist kein verbreiteter Name. Ich habe Großtante Cornelia, die Giftmischerin, gekannt, die in eben diesem Zimmer untergebracht war. Ich bin auf der Plantage der Familie gewesen, in Penumbra. Ich bin mit Aloysius in Schottland auf die Jagd gegangen. Welche Beweise brauchen Sie noch?«

»Warum sind Sie hier?«

»Aloysius hat mich geschickt, damit ich Ihnen helfe, hier herauszukommen.«

»Das ergibt keinen Sinn. Er hat es geregelt, dass ich hierher überstellt werde, und er weiß, dass ich mit meiner Situation völlig zufrieden bin.«

»Sie verstehen nicht. Er hat mich nicht hierhergeschickt, damit ich Ihnen helfe, sondern weil er Ihre Hilfe benötigt.«

»Meine Hilfe?«

Esterhazy nickte. »Schauen Sie, er hat eine furchtbare Entdeckung gemacht. Es sieht ganz danach aus, als sei seine Frau – meine Schwester – nicht zufällig ums Leben gekommen.«

Constance runzelte die Stirn.

Esterhazy wusste, dass er am meisten ausrichten konnte, wenn er möglichst nahe bei der Wahrheit blieb. »Helens Gewehr war am Tag der Löwenjagd mit Platzpatronen geladen. Und jetzt hat sich Pendergast auf die Suche begeben, um die verantwortliche Person zu finden. Allerdings sind die Dinge außer Kontrolle geraten. Er kann das nicht allein schaffen. Er braucht die Hilfe derjenigen, denen er am meisten vertraut. Soll heißen: mich und Sie.«

»Was ist mit Lieutenant D’Agosta?«

»Der Lieutenant hatte ihm geholfen. Und hat für seine Mühe eine Kugel ins Herz geschossen bekommen. Er ist nicht tot, aber schwer verletzt.«

Constance erschrak.

»Ganz recht. Ich sagte ja, die Dinge sind außer Kontrolle geraten. Darum habe ich die einzige Maßnahme ergriffen, die mir möglich war, um mit Ihnen in Kontakt zu treten. Ich habe so getan, als hätte ich Kenntnis von Ihnen und … Ihrem Fall. Das war natürlich eine List.«

Constance starrte ihn noch immer an. Die Feindseligkeit war größtenteils aus ihren Gesichtszügen gewichen, aber die Unsicherheit war geblieben.

»Ich werde einen Weg finden, Sie hier herauszuholen. Bis dahin streiten Sie bitte auch weiterhin ab, dass Sie mich kennen. Sie können auch ein zunehmend besseres Erinnerungsvermögen vortäuschen – entscheiden Sie selbst, womit Sie sich wohler fühlen. Spielen Sie einfach mit. Ich habe nur eine Bitte: Helfen Sie mir dabei, dass ich Sie hier herausbekomme. Denn uns läuft die Zeit davon. Pendergast benötigt Ihren wachen Verstand, Ihre Intuition, Ihre Recherchefähigkeiten. Und jede Stunde zählt. Sie können sich ja nicht vorstellen – ich habe im Moment leider nicht die Zeit, Ihnen alles zu erklären –, was für Truppen in diesem Moment gegen ihn aufmarschieren.«

Constance schaute ihn immer noch an; ihre Miene drückte gleichermaßen Misstrauen, Besorgnis und Unentschlossenheit aus. Am besten ging er jetzt, damit sie über alles nachdenken konnte. Esterhazy drehte sich um und klopfte leise an die Tür. »Doktor Ostrom? Doktor Felder? Wir können gehen.«