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Das Jagdhotel ragte vor ihm auf, aus den Fenstern fiel ein verschwommenes gelbliches Licht und drang durch den strömenden Regen. Judson Esterhazy ergriff den Türklopfer aus schwerem Eisen, zog die Tür auf und betrat taumelnd die Diele, an deren Wänden Rüstungen standen und riesige Geweihe hingen.
»Hilfe! Helft mir!«
Es war Mittagszeit, die Hotelgäste standen vor einem knisternden Kaminfeuer in der großen Halle und tranken Kaffee und Tee sowie Malt aus kleinen Whiskygläsern. Sie wandten sich um und blickten ihn erstaunt an.
»Mein Freund ist erschossen worden!«
Ein dröhnender Donner übertönte kurz seine Stimme und rüttelte an den bleiverglasten Fenstern.
»Erschossen!«, wiederholte Esterhazy und sank auf dem Boden zusammen. »Ich brauche Hilfe!«
Nach einer Weile, während alle starr vor Entsetzen waren, kamen mehrere Personen zu ihm herübergeeilt. Auf dem Boden liegend, die Augen geschlossen, spürte Esterhazy, wie sich die Leute um ihn scharten, und hörte Geflüster.
»Treten Sie zurück«, ertönte die gestrenge schottische Stimme von Cromarty, dem Hotelpächter. »Er muss Luft bekommen. Treten Sie bitte zurück.«
Esterhazy wurde ein Glas Whisky an den Mund gehalten. Er trank einen Schluck, schlug die Augen auf und versuchte, sich aufzusetzen.
»Was ist denn passiert? Was wollen Sie sagen?«
Cromartys Gesicht – penibel gestutzter Vollbart, Metallgestellbrille, sandfarbenes Haar, kantiges Kinn – schwebte über ihm. Das Täuschungsmanöver war Esterhazy leichtgefallen. Er war tatsächlich von Entsetzen gepackt, ausgekühlt bis auf die Knochen, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er trank noch einen Schluck. Der torfige Malt kratzte zwar in der Kehle, weckte aber auch die Lebensgeister.
»Mein Schwager … wir waren auf Rotwild-Pirsch im Mire …«
»Im Mire?« Cromartys Tonfall klang plötzlich scharf.
»Ein kapitaler Bursche …« Esterhazy schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen.
»Kommen Sie mit zum Kamin.« Cromarty fasste ihn am Arm und half ihm auf. Robbie Grant, der alte Wildhüter, kam in den Raum geeilt und ergriff Esterhazy am anderen Arm. Gemeinsam halfen sie ihm, die durchnässte, zerrissene Tarnjacke auszuziehen, und führten ihn zu einem Sessel am Kamin.
Esterhazy ließ sich darauf nieder.
»Sprechen Sie«, sagte Cromarty. Die anderen Gäste standen um sie herum, die Gesichter ganz weiß vor Schreck.
»Oben am Beinn Dearg. Wir hatten einen Rothirsch gesehen. Unten im Foulmire.«
»Aber Sie kennen doch die Vorschriften!«
Esterhazy schüttelte den Kopf. »Ja, gewiss, aber er war einfach gigantisch. Ein Dreizehnender. Mein Schwager hat darauf bestanden. Wir sind ihm bis tief ins Mire gefolgt. Bis hinunter zur Marsch. Dann haben wir uns getrennt –«
»Sind Sie denn von Sinnen?« Das fragte der Wildhüter, Robbie Grant, mit schriller Tenorstimme. »Getrennt haben Sie sich?«
»Wir mussten den Hirsch stellen. Ihn in Richtung Marsch treiben. Nebel zog auf, die Sicht war schlecht, er ist aus der Deckung gekommen … Da habe ich eine Bewegung gesehen und geschossen …« Esterhazy holte tief Luft. »Ich habe meinen Schwager mitten in die Brust getroffen …« Er schlug die Hände vors Gesicht.
»Sie haben einen Verletzten im Moor zurückgelassen?«, fragte Cromarty zornig.
»O Gott.« Esterhazy brach in unkontrolliertes Schluchzen aus. »Er ist in ein Sumpfloch gestürzt … ist darin eingesunken …«
»Moment.« Cromartys Stimme klang eiskalt. Langsam, leise, jedes einzelne Wort betonend, sagte er: »Wollen Sie mir weismachen, Sir, dass Sie ins Mire gegangen sind, dass Sie Ihren Schwager angeschossen haben und dass er in ein Sumpfloch gestürzt ist? Wollen Sie mir das erzählen?«
Esterhazy nickte wortlos. Er verbarg noch immer sein Gesicht.
»Herrgott noch mal. Kann es denn sein, dass er noch lebt?«
Esterhazy schüttelte den Kopf.
»Sind Sie ganz sicher?«
»Absolut sicher«, stieß Esterhazy keuchend hervor. »Er ist versunken. Es … es tut mir so leid!«, rief er klagend. »Ich habe meinen Schwager umgebracht!« Er schaukelte hin und her und hielt sich dabei die Hände an den Kopf. »Lieber Gott, verzeih mir!«
Betretenes Schweigen.
»Er hat den Verstand verloren«, sagte der Wildhüter leise. »Ein klarer Fall von Moorfieber.«
»Schaffen Sie die Leute raus«, sagte Cromarty unwirsch und wies auf die Gäste. Dann wandte er sich an den Wildhüter. »Robbie, ruf die Polizei.« Schließlich drehte er sich zu Esterhazy um. »Ist das hier das Gewehr, mit dem Sie Ihren Schwager angeschossen haben?« Er zeigte auf die Waffe, die Esterhazy mit hereingebracht hatte und die nun auf dem Boden lag.
Esterhazy nickte. Er fühlte sich so elend.
»Dass mir ja keiner etwas anrührt.«
Sich in gedämpftem Tonfall unterhaltend und kopfschüttelnd verließen die Gäste in murmelnden Grüppchen das Zimmer. Ein Blitz zuckte, gefolgt von knallendem Donner. Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Esterhazy saß im Sessel, nahm langsam die Hände vom Gesicht und spürte, wie die angenehme Wärme des Kaminfeuers durch die nasse Kleidung drang. Eine ebenso wundersame Wärme kroch in sein Innerstes und verdrängte langsam den Horror. Erleichterung, ja Euphorie machte sich in ihm breit. Es war vorbei, vorbei, vorbei. Er hatte nichts mehr von Pendergast zu befürchten. Der Geist war zurück in der Flasche. Der Mann war tot. Und was Pendergasts Partner betraf, D’Agosta, und diese Polizistin aus New York, Hayward – durch den Mord an Pendergast hatte er der Schlange den Kopf abgeschlagen. Das war wirklich das Ende. Und allem Anschein nach kauften ihm die schottischen Einfaltspinsel seine Geschichte auch noch ab. Nichts konnte ans Licht kommen und irgendeine seiner Aussagen widerlegen. Er war zurückgegangen und hatte alle Patronenhülsen eingesammelt – bis auf die eine, die gefunden werden sollte. Pendergasts Gewehr und die Patronenhülsen der Schüsse, die sich während der Rangelei gelöst hatten, hatte er auf dem Rückweg in einem Sumpf versenkt, so dass sie niemals gefunden werden würden. Somit würde nur ein Rätsel bleiben: Wo war das Gewehr? Was aber erklärlich wäre. Ein Gewehr konnte durchaus dauerhaft verlorengehen, wenn es erst einmal im Mire versunken war. Die Leute wussten nichts von Pendergasts Pistole, sie hatte Esterhazy ebenfalls verschwinden lassen. Und die Spur des Hirschs ließ sich, sofern sie das Gewitter überstand, voll und ganz mit seiner Version der Geschichte in Einklang bringen.
»Verdammt noch mal«, murmelte Cromarty, ging zum Kaminsims, nahm sich eine Flasche Scotch und goss sich ein großes Glas voll. Er trank in kleinen Schlucken, schritt vor dem Kamin auf und ab und ignorierte Esterhazy.
Grant kehrte ins Zimmer zurück. »Die Polizei ist schon auf dem Weg, die Beamten kommen aus Inverness, Sir. Unterstützt von einem Spurensicherungsteam der Northern Constabulary. Und sie bringen Draggen mit.«
Cromarty drehte sich um, stellte das Glas ab, schenkte sich noch einen Whisky ein und sah Esterhazy wütend an. »Und Sie rühren sich nicht vom Fleck, bis die Beamten hier sind, Sie verfluchter Idiot.«
Noch ein Donnerschlag erschütterte das alte Jagdhotel aus Feldstein, während der Wind über die Moorlandschaft pfiff.