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Augusta, Maine

Aloysius Pendergast saß im Keller des Staatsarchivs des Bundesstaates Maine, umgeben von den Akten des Pflegeheims Bay Manor. Stirnrunzelnd sah er auf die kalkgetünchte Wand aus Betonschalstein und tippte sichtlich verärgert mit dem Fingernagel auf die Tischplatte.

Bei seiner gründlichen Suche nach der Krankenakte von Emma Grolier hatte er nur eine einzige Karteikarte gefunden. Diese verwies darauf, dass die vollständige Akte auf ärztliche Anweisung an einen Dr. Judson Esterhazy weitergeleitet worden war, Leiter einer Klinik in Savannah, Georgia. Diese Weiterleitung hatte ein halbes Jahr nach Helens angeblichem Tod in Afrika stattgefunden. Die Karteikarte war von Esterhazy unterzeichnet, die Unterschrift war echt.

Was hatte Esterhazy mit diesen Unterlagen angestellt? Sie hatten sich nicht im Safe in seinem Haus in Savannah befunden. Es war fast sicher, dass er die Akte vernichtet hatte – sofern Pendergasts Theorie zutraf, die in seinem Kopf langsam Gestalt annahm. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es ein Versehen, dass die Rechnungen des Pflegeheims noch existierten. Emma Grolier. War es möglich …? Langsam und nachdenklich stand er auf und schob den Stuhl bedächtig zurück.

Während er aus dem Keller nach oben ging und zurück in die nachmittägliche Kälte trat, klingelte sein Handy. D’Agosta.

»Constance ist geflohen«, sagte er ohne jede Einleitung.

Pendergast blieb abrupt stehen. Einen Augenblick lang sagte er nichts, dann öffnete er eilig die Tür seines Mietwagens und stieg ein. »Unmöglich. Sie hat kein Motiv zu fliehen.«

»Trotzdem, sie ist entflohen. Und halten Sie sich fest, denn was ich Ihnen gleich sage, wird Sie umhauen.«

»Wann ist es passiert? Wie?«

»Um die Mittagszeit. Eine bizarre Geschichte. Constance befand sich auf einem Ausflug.«

»Außerhalb des Krankenhauses?«

»Im Zoo im Central Park. Wie’s aussieht, hat einer der Ärzte ihr bei der Flucht geholfen.«

»Doktor Ostrom? Doktor Felder? Unmöglich.«

»Nein. Offenbar heißt er Poole. Ernest Poole.«

»Wer zum Teufel ist Poole?« Pendergast ließ den Motor an. »Und was in drei Teufels Namen hat eine geständige Kindsmörderin außerhalb der Mauern des Mount Mercy zu suchen?«

»Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Sie können wetten, dass die Presseleute ihren großen Tag haben, wenn sie das herausfinden – was ihnen vermutlich gelingen wird.«

»Halten Sie die Sache um jeden Preis von der Presse fern.«

»Ich gebe mein Bestes. Natürlich werden die Leute vom Morddezernat in der Sache ermitteln.«

»Rufen Sie sie zurück. Ich will nicht, dass dort ein Haufen Detectives herumläuft.«

»Keine Chance. Die Beamten müssen ermitteln. Das ist das ganz normale Verfahren.«

Vielleicht zehn Sekunden lang saß Pendergast regungslos da und überlegte. Schließlich sagte er: »Haben Sie sich über die Vorgeschichte dieses Doktor Poole informiert?«

»Noch nicht.«

»Wenn das Morddezernat sich mit etwas beschäftigen muss, dann lassen Sie die Beamten ermitteln. Die werden schon feststellen, dass es sich bei diesem Poole um einen Betrüger handelt.«

»Sie wissen, wer er ist?«

»Ich möchte im Moment nicht darüber spekulieren.« Pendergast machte wieder eine Pause. »Ich war ein Trottel, dass ich das nicht vorausgesehen habe. Ich habe geglaubt, dass Constance im Mount Mercy absolut sicher ist. Ein furchtbarer Irrtum, ein weiterer furchtbarer Irrtum.«

»Nun ja, sie ist vermutlich nicht wirklich in Gefahr. Vielleicht hat sie sich ja in den Arzt verliebt, ist wegen irgendeiner Art Flirt geflohen …« D’Agosta merkte selbst, dass das nicht besonders überzeugend klang.

»Vincent, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Constance nicht geflohen ist. Sie ist entführt worden.«

»Entführt?«

»Ja. Zweifellos von diesem sogenannten Doktor Poole. Halten Sie das von der Presse fern, und halten Sie die Leute vom Morddezernat davon ab, im Trüben zu fischen.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

»Danke.« Und damit gab Pendergast Gas, fuhr auf die eisglatte Straße, wobei das Heck des Mietwagens ausbrach und Schnee aufwirbelte, und machte sich auf den Weg zum Flughafen und nach New York City.