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Nazis. Corrie legte die Plastikplane zurück auf den Bücherstapel und achtete darauf, nicht damit zu rascheln. Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Jetzt ergab alles, was Betterton ihr erzählt hatte, Sinn. Das Gebäude existierte seit dem Zweiten Weltkrieg; der Stadtteil war von deutschen Einwanderern bewohnt worden; der Killer, von dem der Reporter gesprochen hatte, hatte einen deutschen Akzent. Und jetzt das hier.
Das waren gar keine Drogenschmuggler. Das waren Nazis, und sie mussten seit dem Zweiten Weltkrieg in diesem Haus agieren. Sogar nach der deutschen Kapitulation, sogar nach den Nürnberger Prozessen, sogar nach der sowjetischen Besatzung Ostdeutschlands und dem Fall der Berliner Mauer hatten sie von hier aus operiert. Es war unglaublich, unfassbar. All diese Nazis der ersten Stunde mussten doch inzwischen tot sein, oder? Wer waren diese Leute? Und was in Gottes Namen trieben sie heute, nach all den Jahren?
Sollte Pendergast von dieser Sache nichts wissen, und sie vermutete, dass er nichts wusste, dann war es zwingend erforderlich, dass sie mehr in Erfahrung brachte.
Sie bewegte sich jetzt mit großer Vorsicht, ihr Herz schlug schnell. Zwar hatte sie keinerlei Anzeichen für Aktivitäten gefunden, keinerlei Hinweise darauf, dass jemand gekommen oder gegangen war, trotzdem konnten sich Leute im Haus befinden. Sie konnte da einfach nicht sicher sein.
In der Ecke stand ein Tisch mit irgendwelchen elektronischen Gerätschaften, ebenfalls von einer schmuddeligen Plastikplane bedeckt. Sie hob eine Ecke an, langsam, leise, und sah diverse alte Funkgeräte. Als Nächstes widmete sie sich den Aktenschränken und untersuchte die Beschriftungen. Sie waren auf Deutsch geschrieben, aber sie konnte kein Deutsch. Sie wählte aufs Geratewohl einen Aktenschrank aus, stellte fest, dass er verschlossen war, und holte ihre Picks heraus. In einer Minute hatte sie das simple Schloss geknackt und die Schublade aufgezogen. Nichts. Die Schublade war leer. Aber nach den Staubrändern zu urteilen, sah es so aus, als sei das Schubfach bis vor kurzem noch voll gewesen.
Etliche weitere Schubfächer bestätigten das. Was für Unterlagen auch immer darin aufbewahrt worden waren, sie waren verschwunden – allerdings noch nicht lange.
Als sie ihre Taschenlampe hervorholte und damit kurz im Raum umherleuchtete, entdeckte sie in jeder der gegenüberliegenden Wände Türen. Eine davon musste nach oben führen. Sie ging zur nächstgelegenen, ergriff den Türknauf und zog die Tür ganz vorsichtig auf, wobei sie das Quietschen der rostigen Türangeln auf ein absolutes Mindestmaß reduzierte.
Im Licht der Taschenlampe sah sie einen Raum, der auf dem Boden, an der Decke und allen vier Wänden weiß gefliest war. In der Mitte war ein Stahlstuhl mit dem Boden verschraubt, unter dem Stuhl befand sich ein Abfluss. Stählerne Handschellen hingen von den Lehnen und Beinen des Stuhls. In der Ecke lag ein aufgerollter Schlauch, daneben befand sich ein rostiger Wasserhahn.
Sie zog sich zurück, fühlte sich dabei ein wenig übel, und ging zur Tür auf der anderen Seite des Raums. Diese führte zu einer schmalen Treppe.
Oben auf dem Treppenabsatz befand sich eine weitere geschlossene Tür. Corrie horchte sehr lange, dann ergriff sie den Türknauf und schob die Tür einen Zentimeter weit auf. Eine kurze Inspektion mit Hilfe des Dentalspiegels zeigte eine staubbedeckte, ausgediente Küche. Sie schob die Tür weit auf und sah sich dahinter um, dann ging sie leise durch das Esszimmer und dann in das dahinter gelegene, opulente Wohnzimmer. Es war in bayrischem Jagdhaus-Stil eingerichtet: Geweihe an holzvertäfelten Wänden, wuchtiges, gedrechseltes Mobiliar, Landschaften in schweren Rahmen, Gestelle mit alten Gewehren und Stutzen. Über dem Kamin hing ein zotteliger Wildschweinkopf mit leuchtend gelben Stoßzähnen und funkelnden Glasaugen. Rasch überflog sie die Bücherborde und durchsuchte einige Schränke. Die Dokumente und Bücher waren allesamt auf Deutsch.
Sie ging auf den Flur. Hier blieb sie stehen, kaum atmend, und horchte. Alles blieb still. Schließlich stieg sie die Treppe hinauf, eine Stufe nach der anderen, und hielt nach jedem Schritt inne, um zu lauschen. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock wartete sie wieder, betrachtete die geschlossenen Türen und öffnete dann die erstbeste. Dahinter befand sich ein Raum, der bis auf ein leeres Bettgestell, einen Tisch, einen Stuhl und ein Bücherregal fast ohne Möbel war. Ein zerbrochenes Fenster ging in den hinteren Garten hinaus, auf dem Fenstersims lagen noch die Glasscherben. Das Fenster war vergittert.
Sie sah sich die anderen Zimmer im zweiten Stock an. Alle waren ähnlich – alles Schlafzimmer, alle ausgeräumt –, bis auf den letzten Raum. Bei diesem handelte es sich um ein völlig verstaubtes Fotolabor samt Dunkelkammer, zusätzlich standen mehrere Druckerpressen und primitiv aussehende Fotokopiergeräte darin. Vor einer Wand standen Regale mit Kupferdruckplatten aller Größen, viele mit aufwendigen und offiziell aussehenden Mustern und Siegeln geprägt. Anscheinend handelte es sich um eine alte Fälscherwerkstatt.
Zurück im Flur, stieg sie die Treppe in den dritten Stock hinauf. Sie gelangte auf einen großen Dachboden, der in zwei Räume unterteilt war. Der erste – der Raum, in dem sie jetzt stand – war ziemlich eigenartig. Auf dem Boden lagen dicke, persisch aussehende Teppiche. Dutzende Kerzen, groß und dick, standen in kunstvollen, freistehenden Kerzenhaltern, Stränge aus geschmolzenem Wachs hingen wie Stalaktiten von den Aufsätzen der Halter. An den Wänden hingen Teppiche mit bizarren gelben und goldfarbenen Symbolen, manche eingenäht, andere aus dickem Filz angefertigt: Hexagramme, astronomische Symbole, lidlose Augen, ineinandergreifende Dreiecke, fünf- und sechszackige Sterne. Unten an einem solchen Wandvorhang war ein einziges Wort zu lesen, eingefasst von einem Wappenschild: ARARITA. In einer Ecke des Raums führten drei Stufen zu etwas, das wie ein Altar aussah.
Das hier war einfach zu gruselig, Corrie zog sich zurück. Ein Zimmer noch, dann würde sie von hier verschwinden.
Fröstelnd trat sie durch den niedrigen Durchgang in den zweiten Raum im Dachgeschoss. Er war voller Bücherborde und hatte früher wohl mal als Bibliothek oder vielleicht Studierstube gedient. Aber jetzt waren alle Bücherregale leer, die Wände nackt bis auf eine mottenzerfressene Nazi-Flagge, die schlaff von der gegenüberliegenden Wand hing.
Mitten im Raum stand ein großer industrieller Papierschredder neueren Datums, er wirkte auf absurde Weise deplaziert in dieser Zeitkapsel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auf einer Seite davon standen ein Dutzend kippliger Papierstapel, auf der anderen eine Reihe schwarzer Müllsäcke voll mit dem geschredderten Papier. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Tür offen, die zu einem Wandschrank gehörte.
Sie dachte an die leeren Aktenschränke im Untergeschoss, die leeren Schlafzimmer. Was immer hier abgelaufen war, es würde bald der Vergangenheit angehören. Alles in der Wohnung deutete darauf hin, dass die belastenden Inhalte entfernt worden waren.
Corrie erkannte – und dabei empfand sie leise Furcht: Wenn diese Arbeiten noch im Gange waren, dann konnten sie jederzeit wieder aufgenommen werden.
Es handelte sich hier um die einzigen Schriftstücke, die im Haus verblieben waren. Pendergast würde sie mit Sicherheit sehen wollen. Schnell und leise ging sie zu den Papierstapeln hin und sah sie sich an. Die meisten gingen zurück bis zum Zweiten Weltkrieg und waren mit einem Nazi-Briefkopf versehen, komplett mit Hakenkreuzen und alter deutscher Frakturschrift. Sie verfluchte sich, weil sie kein Deutsch konnte, und durchstöberte die Schriftstücke, wobei sie darauf achtgab, sie in der richtigen Reihenfolge und denselben Stapeln zu lassen und alle herauszusuchen, die von besonderem Interesse sein könnten.
Während sie sich durch die Stapel arbeitete und die Dokumente umschichtete, wobei sie sich nur ein, zwei aus jedem riesigen Packen genauer ansah, wurde ihr klar, dass die Dokumente, die ganz unten lagen, neueren Datums waren als die oben. Sie wandte sich von den älteren Dokumenten ab und konzentrierte sich auf die neueren. Sie waren alle auf Deutsch verfasst, so dass sie ihre Bedeutung nicht herausbekommen konnte. Trotzdem sammelte sie jene Dokumente ein, die am wichtigsten aussahen, die mit den meisten Stempeln und Siegeln, dazu andere, auf denen mit großen roten Buchstaben stand:
Was in ihren Augen ziemlich so aussah wie der Stempel TOP SECRET.
Plötzlich fiel ihr Blick auf einen Namen auf einem der Dokumente: ESTERHAZY. Sie erkannte ihn sofort wieder, das war der Mädchenname von Pendergasts verstorbener Frau Helen. Der Name tauchte überall in dem Dokument auf, und während sie die direkt darunter liegenden Dokumente durchsah, fand sie weitere, die ebenfalls diesen Namen trugen. Sie sammelte sie alle ein und stopfte sie in ihren Rucksack.
Und dann stieß sie auf einen Packen Dokumente, die nicht auf Deutsch, sondern teils auf Spanisch und – glaubte sie – teils auf Portugiesisch verfasst waren. Sie konnte Spanisch, wenigstens so einigermaßen, aber die meisten dieser Unterlagen waren ziemlich langweilig: Rechnungen, Bestellscheine, Listen mit Ausgaben und Rückerstattungen, dazu jede Menge Krankenakten mit den Namen der Patienten, geschwärzt oder nur mit Initialen vermerkt. Trotzdem stopfte sie die am wichtigsten aussehenden in ihren Rucksack, der inzwischen zum Bersten voll war.
Da hörte sie ein Dielenbrett knarren.
Sie schrak zusammen, Adrenalin wurde ausgeschüttet. Sie horchte. Nichts.
Langsam schloss sie ihren Rucksack und stand auf, wobei sie darauf achtete, keinerlei Geräusche zu machen. Die Tür stand nur einen Spaltbreit offen, durch den ein Streifen schummriges Licht fiel. Sie lauschte weiter und hörte nach einem Augenblick wieder ein Knarren. Es war leise, kaum hörbar … wie wenn jemand vorsichtig auftrat.
Sie saß in der Falle, im Dachgeschoss, aus dem nur eine Treppe nach unten führte. Es gab keine Fenster, keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Aber es wäre falsch, in Panik zu geraten; es könnte ja an ihrer hyperaktiven Phantasie liegen, dass sie etwas gehört hatte. Sie wartete in dem Schummerlicht, alle Sinne hellwach.
Wieder ein Knarren, diesmal höher und näher. Nein, sie bildete sich das nicht nur ein: Jemand war definitiv im Haus – und stieg die Treppe herauf.
Vor lauter Aufregung wegen der Dokumente hatte sie vergessen, sich ganz leise zu verhalten. Hatte die Person auf der Treppe sie gehört?
Äußerst vorsichtig ging sie durchs Zimmer zu dem Wandschrank, der auf der gegenüberliegenden Seite offen stand. Es gelang ihr, da hinzukommen, ohne dass eine einzige Holzdiele knarrte. Sie stellte sich in den Wandschrank und zog die Tür fast, aber nicht ganz zu und hockte sich in der Dunkelheit hin. Ihr Herz schlug derart heftig und so schnell, dass sie fürchtete, der Eindringling könnte es hören.
Wieder ein kaum vernehmbares Knarren – und dann ein leises Stöhnen. Die Tür zum Zimmer ging auf. Corrie spähte aus dem Wandschrank und traute sich kaum zu atmen. Nach einer langen Zeit, in der alles still war, betrat eine Gestalt den Raum.
Corrie hielt den Atem an. Der Mann war schwarz gekleidet, trug eine runde, getönte Brille, sein Gesicht lag im Dunkeln. Ein Einbrecher?
Er ging in die Mitte des Raums, blieb dort stehen und zückte schließlich eine Pistole. Dann drehte er sich zu dem Wandschrank um, hob die Waffe und zielte auf die Wandschranktür.
Corrie kramte verzweifelt in ihrem Rucksack.
»Komm da bitte sofort raus«, sagte die Stimme mit starkem Akzent.
Nach einem langen Moment stand Corrie auf und stieß die Tür auf.
Der Mann lächelte. Er löste den Sicherheitshebel und zielte genau.
»Auf Wiedersehen«, sagte er auf Deutsch.