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Gemeinde St. Charles, Louisiana
Dr. Peter Lee Beaufort folgte dem mobilen forensischen Labor – in diskretem Grau lackiert – durch das Seitentor des Friedhofs Saint-Savin. Ein Friedhofswärter ließ den einen Torflügel zuschwingen und verriegelte das Tor. Langsam fuhren die beiden Fahrzeuge, Beauforts Kombi und das mobile Labor, über den schmalen, kiesbestreuten Weg, der von grazilen Hartriegel- und Magnolienbäumen gesäumt war. Saint-Savin gehörte zu den ältesten Friedhöfen von Louisiana. Die Gräber und Grünanlagen waren makellos gepflegt. Im Lauf der letzten zweihundert Jahre waren einige der berühmtesten Persönlichkeiten von New Orleans hier beigesetzt worden.
Bestimmt wären sie höchst erstaunt, sinnierte Beaufort, wenn sie wüssten, welche Prozedur auf dem Friedhof heute stattfand.
Der Weg gabelte sich, dann gabelte er sich nochmals. Vor dem mobilen Labor konnte Beaufort jetzt eine kleine Gruppe von Fahrzeugen erkennen: Behördenfahrzeuge, ein Rolls-Royce-Oldtimer, ein Saint-Savin-Van. Der Laborwagen parkte auf einem schmalen Seitenstreifen hinter ihnen. Beaufort folgte ihm und warf einen Blick auf die Uhr.
Zehn Minuten nach sechs. Die Sonne stieg gerade über den Horizont und schien auf die Grünflächen und den Marmor. Exhumierungen wurden stets früh am Morgen durchgeführt, um so die größtmögliche Diskretion zu garantieren.
Beaufort stieg aus dem Auto. Als er sich dem Familiengrab näherte, sah er Arbeiter in Schutzkleidung, die Sichtschirme um eines der Gräber aufstellten. Es war ein selbst für Anfang November ungewöhnlich kühler Tag, wofür Beaufort zutiefst dankbar war. Exhumierungen an heißen Tagen waren immer unerfreulich.
Wenn man bedachte, wie reich die Familie Pendergast war und auf welch lange Geschichte sie zurückblicken konnte, handelte es sich um verhältnismäßig wenige Gräber. Beaufort, der die Pendergasts seit Jahrzehnten kannte, wusste sehr gut, dass die meisten Angehörigen der Familie es vorgezogen hatten, sich im Familiengrab auf der Penumbra-Plantage beisetzen zu lassen. Doch einige hegten eine eigentümliche Aversion gegen diese neblige, überwucherte Begräbnisstätte – oder die Gewölbe darunter – und zogen eine traditionellere Beisetzung vor.
Er trat um die Sichtschirme herum und stieg über den niedrigen schmiedeeisernen Zaun, der die Grabstätte umgab. Neben den Technikern entdeckte er die Totengräber, Saint-Savins Bestatter, den Friedhofsleiter und einen korpulenten, nervös wirkenden Mann, bei dem es sich vermutlich um Jennings handelte, den Vertreter des Gesundheitsamtes. Am anderen Ende stand Aloysius Pendergast selbst, reglos und stumm wie ein Gespenst. Beaufort musterte ihn neugierig. Als er Pendergast zuletzt gesehen hatte, war er noch ein junger Mann gewesen. Sein Gesicht hatte sich kaum verändert, aber er war hagerer als damals. Über dem schwarzen Anzug trug er einen langen, cremefarbenen Mantel, der nach Kamelhaar aussah, aber vermutlich, nach dem seidigen Glanz zu urteilen, eher aus Vicuña war.
Beaufort hatte die Bekanntschaft der Familie Pendergast als junger Pathologe der Gemeinde St. Charles gemacht. Nach etlichen Vergiftungen, für die eine verrückte alte Tante verantwortlich war, war er zur Penumbra-Plantage gerufen worden. Wie hieß die Tante noch mal – Cordelia? Nein, Cornelia. Er erschauderte bei der Erinnerung. Aloysius war damals noch ein Junge gewesen und hatte den Sommer auf Penumbra verbracht. Trotz der furchtbaren Umstände des Besuchs hatte der junge Aloysius sich an ihn gehängt wie eine Klette und war ihm überallhin gefolgt, fasziniert von forensischer Pathologie. Die folgenden Sommer hatte er Beauforts Labor im Keller des Krankenhauses heimgesucht. Der Junge lernte außerordentlich schnell und besaß eine selten anzutreffende, ausgeprägte Neugier. Zu ausgeprägt und beunruhigend morbid. Natürlich verblasste seine morbide Neugierde im Vergleich zu der seines Bruders … Aber der Gedanke war zu peinigend, und Beaufort schob ihn beiseite.
Wie aufs Stichwort blickte Pendergast auf und erhaschte seinen Blick. Er kam herbei und ergriff Beauforts Hand. »Mein lieber Beaufort«, sagte er. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Pendergast hatte schon immer – selbst als Junge – die Angewohnheit besessen, ihn nur mit dem Nachnamen anzureden.
»Es ist mir ein Vergnügen, Aloysius. Wie schön, Sie nach all den Jahren einmal wiederzusehen. Es tut mir nur leid, dass es unter diesen besonderen Umständen geschieht.«
»Aber ohne den Tod hätten wir uns nie kennengelernt, nicht wahr?«
Pendergast fixierte ihn mit seinen durchdringenden, silbrigen Augen, und als Beaufort über den Satz nachdachte, lief ihm ein Schauder den Rücken hinunter. Er hatte Aloysius Pendergast noch nie nervös oder aufgeregt erlebt. Und doch schien er, trotz aller äußeren Ruhe, heute beides zu sein.
Die Sichtschirme um das Grab herum waren aufgestellt, und Beaufort wandte seine Aufmerksamkeit den dortigen Vorgängen zu. Jennings hatte ständig auf die Uhr geschaut und nervös an seinem Kragen gezupft. »Fangen wir an«, sagte er mit hoher, nervöser Stimme. »Darf ich bitte die Exhumierungslizenz sehen?«
Pendergast zog sie aus der Manteltasche und reichte sie ihm. Der Vertreter des Gesundheitsamtes warf einen Blick darauf, nickte und gab sie zurück. »Vergessen Sie nicht, unsere Verantwortung gilt vor allem dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Wahrung der Würde der Verstorbenen.«
Er blickte auf den Grabstein mit der schlichten Inschrift:
HELEN ESTERHAZY PENDERGAST
»Stimmen wir alle überein, dass es sich hier um das richtige Grab handelt?«
Allgemeines Kopfnicken.
Jennings trat einen Schritt zurück. »Nun gut. Die Exhumierung kann beginnen.«
Zwei Totengräber, die zusätzlich zu ihrer Schutzkleidung Handschuhe und Gesichtsmasken trugen, begannen, ein Rechteck aus dem dichten grünen Rasen auszustechen und die Grassoden gekonnt zu lösen, in Streifen aufzurollen und vorsichtig beiseitezulegen. Ein Arbeiter stand mit einem winzigen Friedhofsbagger bereit.
Als der Rasen entfernt war, machten sich die beiden Totengräber mit Spaten an die Arbeit. Abwechselnd stachen sie in die schwarze Erde und warfen diese ordentlich auf eine danebengelegte Plastikplane. Die Grube nahm Gestalt an, während die Totengräber die Wände zu scharfen Kanten und Flächen zurechtstachen. Dann traten sie zurück; der Bagger fuhr langsam vorwärts und senkte mit seinem Arm einen großen Eimer in das Loch.
Der Bagger und die beiden Totengräber wechselten sich ab. Die Totengräber schaufelten das Loch, während der Bagger die Erde herausholte. Die versammelte Gruppe schaute in geradezu liturgischer Stille zu. Als die Grube tiefer wurde, stieg ihnen ein Geruch in die Nase: lehmig und seltsam würzig, wie Humus und Waldboden. Leichter Dunst stieg aus dem Grab in die frühmorgendliche Luft. Jennings, der Mann vom Gesundheitsamt, griff in die Manteltasche, zog eine Gesichtsmaske hervor und legte sie an.
Beaufort warf einen unauffälligen Blick auf den FBI-Agenten. Der starrte wie gebannt auf die sich vertiefende Grube, mit einer Miene, die zumindest Beaufort nicht deuten konnte. Pendergast war der Frage, warum er den Leichnam seiner Frau ausgraben lassen wolle, ausgewichen. Er hatte nur gesagt, dass das mobile forensische Labor auf alle nur denkbaren Untersuchungen hinsichtlich der Identität vorbereitet sein sollte. Selbst für eine Familie, die auf so noble Art exzentrisch war wie die Pendergasts, schien das unerklärlich und verstörend.
Es wurde eine Viertelstunde, dann eine halbe Stunde lang weitergegraben. Die beiden Männer mit Masken und Schutzkleidung legten eine kurze Pause ein, dann machten sie sich wieder an die Arbeit. Einige Minuten später stieß einer der Spaten mit einem lauten, hohlen Plonk auf einen schweren Gegenstand.
Die Männer, die um das offene Grab herumstanden, schauten einander an. Alle außer Pendergast, dessen Blick unverwandt auf die gähnende Grube zu seinen Füßen gerichtet war.
Die Totengräber glätteten die Wände des Grabs, vorsichtiger jetzt, und gruben dann tiefer. Allmählich legten sie den Standard-Betonbehälter frei, in dem der Sarg ruhte. Der Bagger, der mit Tragriemen ausgerüstet war, hob den Betondeckel an und gab den Sarg darinnen frei. Er war aus Mahagoni, noch schwärzer als die ihn umgebende Erde, besetzt mit Messinggriffen und Beschlägen. Ein neuer Geruch stieg in die bereits belastete Atmosphäre: ein schwacher Verwesungsgeruch.
Vier weitere Männer, die die »Hülle« trugen – einen neuen Sarg, der sowohl den alten Sarg als auch die exhumierten sterblichen Überreste aufnehmen würde –, erschienen am Grab. Sie stellten ihn auf den Boden und traten vor, um den Totengräbern zu helfen. Während die Gruppe schweigend zusah, wurden neue Gurtbänder ins Grab hinabgelassen und unter den Sarg geschoben. Gemeinsam – langsam, vorsichtig und per Hand – hievten die sechs Männer den Sarg aus seinem Ruheplatz.
Beaufort schaute zu. Erst schien der Sarg sich gegen die Störung zu sträuben, dann aber löste er sich ächzend und stieg allmählich nach oben.
Die Zeugen traten zurück, um Platz zu machen, und die Friedhofsarbeiter hoben den Sarg aus dem Grab und stellten ihn auf den Boden neben den geräumigeren neuen Sarg. Jennings zog Gummihandschuhe über und trat vor. Er kniete vor der Kopfseite des Sargs nieder und beugte sich vor, um sich das Namensschild anzusehen.
»Helen Esterhazy Pendergast«, las er durch den Mundschutz vor. »Ich gebe zu Protokoll, dass der Name auf dem Sarg mit dem Namen auf der Exhumierungslizenz übereinstimmt.«
Jetzt wurde das Behältnis geöffnet. Beaufort sah, dass das Innere aus einer geteerten Zinkverkleidung bestand, bedeckt mit einer Plastikmembran und mit Isopon versiegelt. Alles ganz normal. Auf ein Nicken von Jennings hin – der rasch zurückgewichen war – hoben die Friedhofsarbeiter den Sarg von Helen Pendergast erneut an, trugen ihn mit Hilfe der Gurtbänder zu dem geöffneten Behältnis und bugsierten ihn hinein. Pendergast verfolgte es wie erstarrt, mit bleichem Gesicht und verhülltem Blick. Regungslos hatte er der Exhumierung beigewohnt, nur gelegentlich geblinzelt.
Als der Sarg sicher in dem neuen Behältnis untergebracht war, wurde der Deckel geschlossen und befestigt. Der Friedhofsverwalter trat vor, ein kleines Namensschild aus Messing in der Hand. Während die Arbeiter ihre Wegwerf-Schutzkleidung ablegten und sich die Hände mit Desinfektionslösung wuschen, hämmerte er das Namensschild auf das Behältnis.
Beaufort rührte sich. Jetzt war es fast an der Zeit, dass er mit der Arbeit begann. Die Arbeiter hoben den neuen Sarg an den Griffen an, und er führte sie zur Heckklappe des mobilen forensischen Labors, das in der Nähe auf dem Kiesstreifen, im Schatten der Magnolien, parkte. Der Generator surrte leise. Beauforts Assistent öffnete die Hecktüren und half den Friedhofsarbeitern, den Sarg hochzuheben und hineinzuschieben.
Beaufort wartete, bis die Hecktüren wieder geschlossen waren, dann folgte er den Arbeitern zurück zu dem abgeschirmten Grab. Die Gruppe war immer noch versammelt und würde das auch bleiben, bis die Prozedur beendet war. Einige Arbeiter fingen damit an, das alte Grab zuzuschütten, während andere mit Hilfe des Baggers anfingen, daneben ein neues Grab auszuheben. Wenn Beauforts Arbeit an den sterblichen Überresten beendet war, würden sie im neuen Grab beigesetzt werden. Beaufort wusste, dass die Voraussetzung für eine Genehmigung der Exhumierung war, dass Pendergast den Leichnam umbetten ließ, und sei die Entfernung noch so klein. Trotzdem – Pendergast musste einen enormen Druck auf den nervösen, schwitzenden Jennings ausgeübt haben.
Endlich regte sich Pendergast und schaute zu ihm hin. Die angespannte Erwartung und die Achtsamkeit in dem bleichen Gesicht hatten sich noch vertieft.
Beaufort trat zu ihm und sagte mit leiser Stimme: »Wir sind so weit. Also, welche Untersuchungen möchten Sie genau durchgeführt haben?«
Der FBI-Agent schaute ihn an. »Genproben, Haarproben, Fingerabdrücke, falls möglich, Röntgenaufnahmen der Zähne. Alles.«
Beaufort versuchte, es möglichst taktvoll auszudrücken. »Es würde helfen, wenn ich wüsste, welchem Zweck das Ganze dient.«
Ein langer Moment verstrich, bevor Pendergast entgegnete: »Der Leichnam im Sarg ist nicht der meiner Frau.«
Beaufort nahm die Information in sich auf. »Was bewegt Sie zu der Annahme, dass es … einen Irrtum gegeben hat?«
»Führen Sie bitte nur die Untersuchungen durch«, sagte Pendergast ruhig. Seine weiße Hand tauchte aus dem Anzug auf; darin hielt er eine Haarbürste in einem verschließbaren Plastikbeutel. »Sie werden eine Probe ihrer DNA brauchen.«
Beaufort nahm den Beutel an sich, verwundert über einen Mann, der die Haarbürste seiner Frau noch zwölf Jahre nach ihrem Tod unberührt gelassen hatte. Er räusperte sich. »Und wenn der Leichnam doch der Ihrer Frau ist?«
Als er keine Antwort auf die Frage erhielt, stellte Beaufort eine andere. »Möchten Sie, äh, dabei sein, wenn wir den Sarg öffnen?«
Pendergasts gespenstischer Blick ließ Beaufort das Blut in den Adern gefrieren. »Es ist mir gleichgültig.«
Pendergast wandte sich wieder dem Grab zu und sagte nichts mehr.