14
Malfourche, Mississippi
Ned Betterton fuhr vor der schmuddeligen Flachglas-Ladenfront des Ideal Café vor, betrat die nach Bacon und Zwiebeln riechenden Räumlichkeiten und bestellte einen Kaffee, süß und leicht. Das Ideal war eigentlich gar kein Café, aber Malfourche war ja eigentlich auch keine richtige Stadt. Ganz verarmt und halb verlassen, geriet das Leben hier langsam völlig aus den Fugen. Die Jugendlichen, die irgendetwas konnten, hauten so schnell wie möglich ab, flohen in größere und aufregendere Städte, so dass die Verlierer zurückblieben. Vier Generationen ging das nun schon so, und was dabei herauskam, war eine Stadt wie Malfourche. Verflucht, er war in genau so einem Kaff aufgewachsen. Nur war er nicht weit genug weggerannt. Nein, bitte streichen: Er rannte immer noch, rannte wie der Teufel, kam aber nirgendwo an.
Wenigstens der Kaffee war ganz ordentlich, und wenn er erst mal drin war, fühlte er sich in dem Café wie zu Hause. Zugegeben, ihm gefielen zünftige Läden wie der hier, mit ihren rauhen, aber herzlichen Kellnerinnen, den Truckern, die dickbäuchig an die Theke marschierten, den fetttriefenden Burgern und den Bestellungen, die aus vollem Hals gerufen wurden, und dem starken, frisch gebrühten Kaffee.
Er hatte als Erster in seiner Familie die Highschool absolviert, vom College gar nicht zu reden. Ein kleines und rauflustiges Kind, war er von seiner alleinerziehenden Mutter großgezogen worden, sein Vater saß im Knast, weil er eine Coca-Cola-Abfüllfabrik ausgeraubt hatte. Zwanzig Jahre, dank eines Karrieristen von Staatsanwalt und eines Richters Gnadenlos. Sein Vater war im Bau an Krebs gestorben, und es war die Verzweiflung gewesen, die ihn umgebracht hatte, das wusste Betterton. Und dann hatte der Tod des Vaters seine Mutter umgebracht.
Infolgedessen neigte Betterton zu der Annahme, dass jeder, der über eine herausgehobene Autoritätsposition verfügte, ein lügnerischer, egoistischer Dreckskerl war. Und genau deshalb hatte er sich auch zum Journalismus hingezogen gefühlt, mit dem er, wie er glaubte, diese Leute mit echten Waffen bekämpfen konnte. Allerdings hatte er mit seinem Abschluss in Kommunikationswissenschaften nur einen Job beim Ezzerville Bee an Land ziehen können, wo er in den vergangenen fünf Jahren gearbeitet hatte, während er sich gleichzeitig bei größeren Zeitungen bewarb. Der Bee war ein Wochenblatt, das überwiegend aus Annoncen bestand und stapelweise an Tankstellen und Supermärkten auslag. Der Eigentümer, Chefredakteur und Verleger Zeke Kranston, hatte eine Heidenangst davor, jemanden zu beleidigen, wenn auch nur die klitzekleine Chance bestand, dass der Betreffende in seiner Zeitung inserierte. Deshalb keine investigativen Geschichten, keine Enthüllungsberichte, keine schonungslosen politischen Artikel. »Die Aufgabe des Ezzerville Bee besteht darin, Anzeigen zu verkaufen«, war Kranstons ständiger Spruch, wenn er den durchgekauten Zahnstocher aus dem Mund genommen hatte, der ihm ständig von seiner Unterlippe zu hängen schien. »Versuchen Sie nur nicht, ein neues Watergate auszugraben. Das entfremdet uns nur die Leserschaft – und die Geschäftsleute.« Die Folge war, dass Bettertons Mappe mit Arbeitsproben aussah wie etwas aus Woman’s World: nichts als Bekanntmachungen, kurze Artikel über gerettete Hunde und Berichte von Kirchen-Flohmärkten mit Kaffee und Kuchen, Highschool-Footballspielen und Nachbarschaftsfeiern. Mit einer solchen Mappe war es kein Wunder, dass ihn keine ernstzunehmende Zeitung zum Vorstellungsgespräch einlud.
Betterton schüttelte den Kopf. Verdammt, er hatte keine Lust, sein restliches Leben in Ezzerville zu versauern, aber um das zu verhindern, gab es nur eine Möglichkeit: Er musste eine große Exklusivstory landen. Ob es sich dabei um einen Kriminalfall handelte, eine Public-Interest-Story oder um Außerirdische mit Ionenstrahlkanonen, spielte keine Rolle. Eine Geschichte mit Schmackes, mehr brauchte er nicht.
Er trank seinen Kaffee aus, bezahlte und trat hinaus in den morgendlichen Sonnenschein. Vom Black-Brake-Sumpf wehte ein leichter Wind unangenehm warm und übelriechend in die Stadt. Betterton stieg in den Wagen, ließ den Motor an und stellte die Klimaanlage auf höchste Stufe. Aber er fuhr nirgendwo hin, noch nicht. Bevor er sich in diese Geschichte einarbeitete, wollte er sie erst mal gründlich durchdenken. Mit großer Mühe und vielen Versprechungen hatte er Kranston dazu gebracht, darüber schreiben zu dürfen. Es handelte sich um eine seltsame Human-Interest-Story, die zum ersten Beispiel für echten Journalismus in seiner Mappe werden könnte. Und er hatte vor, diese Gelegenheit bis zum Äußersten zu nutzen.
Betterton saß in seinem Wagen, in dem es langsam kühler wurde, ging durch, was er sagen, welche Fragen er stellen wollte, und versuchte, die Einwände vorwegzunehmen, die mit Sicherheit kommen würden. Nach fünf Minuten war er so weit. Er kämmte sich noch einmal das feucht-schlaffe Haar und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann warf er einen Blick auf die Internet-Karte, die er ausgedruckt hatte, legte den Vorwärtsgang ein, wendete und verließ die Stadt auf derselben maroden Straße, auf der er gekommen war.
Selbst als kleiner Lokalreporter, das hatte er gelernt, tat man gut daran, jedem Klatsch, jedem Gerücht – egal wie banal – Beachtung zu schenken. Und ihm waren Gerüchte über ein geheimnisvolles Paar zu Ohren gekommen, über sein Verschwinden vor Jahren und das plötzliche Wiederauftauchen vor einigen Monaten sowie über einen vorgetäuschten Selbstmord, der irgendwann stattgefunden haben sollte. Als Betterton am Morgen die örtliche Polizeistation aufgesucht hatte, hatte sich das Gerücht als zutreffend erwiesen. Außerdem hatte der irrsinnig kurze und beiläufige Polizeibericht mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Betterton blickte erst auf die Karte, dann auf die Reihen der trist wirkenden Schindelhäuser beidseits der Straße voller Schlaglöcher. Da war das Haus, ein kleiner Bungalow, weiß gestrichen und eingerahmt von Magnolien.
Langsam fuhr er an den Randstein, stellte den Motor aus und blieb noch eine Minute lang sitzen, um sich mental auf das Gespräch einzustellen. Dann stieg er aus, strich sein Sportsakko glatt und ging entschlossenen Schritts zur Tür. Keine Türklingel, nur ein Türklopfer. Betterton klopfte laut und vernehmlich an.
Er hörte, wie das Klopfen durchs ganze Haus hallte. Einen Augenblick lang nichts, dann das Geräusch, wie jemand zur Tür kam. Sie ging auf. Im Flur stand eine hochgewachsene, elegante Frau. »Ja?«
Betterton hatte natürlich nicht gewusst, was ihn erwartete, aber mit einer so attraktiven Frau hatte er nun auch nicht gerechnet. Nicht jung, natürlich nicht, aber über alle Maßen attraktiv.
»Mrs. Brodie? June Brodie?«
Die Frau musterte ihn aus kühlen blauen Augen. »Ja, das ist richtig.«
»Betterton mein Name. Ich komme vom Ezzerville Bee. Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
»Wer ist da, June?«, ließ sich eine hohe Stimme aus dem Inneren des Hauses vernehmen. Gut, dachte Betterton. Sie sind beide da.
»Wir haben Leuten von der Presse nichts zu sagen«, sagte June Brodie. Sie trat einen Schritt zurück und wollte die Tür schließen.
Betterton stellte einen Fuß in die Tür. »Bitte, Mrs. Brodie. Ich weiß bereits alles. Ich war bei der Polizei, die Angelegenheit ist öffentlich zugänglich. Ich werde den Artikel schreiben, komme, was da wolle. Ich dachte nur, dass Sie vielleicht gern Gelegenheit hätten, sich in der Sache zu äußern.«
Sie sah ihn eine Weile an, durchbohrte ihn beinahe mit ihrem intelligenten Blick. »Von was für einer Sache reden Sie?«
»Davon, dass Sie Ihren Selbstmord vorgetäuscht haben und zwölf Jahre spurlos verschwunden waren.«
Kurzes Schweigen. »June?« Wieder rief die Männerstimme nach ihr.
Mrs. Brodie öffnete die Tür und trat einen Schritt zur Seite.
Rasch, ehe sie es sich anders überlegen konnte, betrat Betterton das Haus. Geradeaus lag ein sauberes, aufgeräumtes Wohnzimmer, das ein wenig nach Mottenkugeln und Bohnerwachs roch. Der Raum war fast leer: ein Sofa, zwei Sessel, ein Sofatisch auf einem Perserteppich. Seine Schritte klackten auf dem Holzfußboden. Betterton hatte den Eindruck, als sei das Haus erst kürzlich bezogen worden. Wenige Augenblicke später wurde ihm klar, dass dies tatsächlich der Fall war.
Ein kleiner Mann, blass und schmächtig, trat aus einem dunklen Flur, einen Teller in der einen Hand und ein Geschirrtuch in der anderen. »Wer war das …«, begann er und hielt inne, als sein Blick auf Betterton fiel.
June Brodie drehte sich zu dem Mann um. »Das ist Mr. Betterton. Er ist Zeitungsreporter.«
Er blickte – plötzlich feindselig – von seiner Frau zu Betterton und dann wieder zu seiner Frau. »Was will er?«
»Er schreibt an einem Artikel über uns. Über unsere Rückkehr.« In ihrem Tonfall lag etwas – nicht ganz Hohn, nicht ganz Ironie –, das Betterton ein wenig nervös machte.
Behutsam stellte der Mann den Teller auf dem Sofatisch ab. Er war so nachlässig gekleidet wie seine Frau elegant.
»Sie sind Carlton Brodie?«, fragte Betterton.
Der Mann nickte.
»Erzählen Sie doch mal, was Sie wissen oder glauben zu wissen«, sagte June Brodie. Sie hatte ihm demonstrativ keinen Stuhl, keine Erfrischung angeboten.
Betterton legte los. »Ich weiß, dass Ihr Auto vor mehr als zwölf Jahren auf der Archer Bridge zurückgelassen wurde. In dem Wagen befand sich ein Abschiedsbrief, in Ihrer Handschrift geschrieben, in dem stand: Ich kann nicht mehr. Alles mein Fehler. Verzeih mir. Der Fluss wurde abgesucht, doch eine Leiche wurde nie gefunden. Ein paar Wochen später statteten Polizeibeamte Ihrem Ehemann, Carlton, einen Folgebesuch ab, stellten dabei jedoch nur fest, dass er zu einer Reise von unbestimmter Dauer und mit unbekanntem Ziel aufgebrochen war. Das war das Letzte, was man von den Brodies hörte – bis sie vor ein paar Monaten plötzlich wie aus dem Nichts hier wieder aufgetaucht sind.«
»So könnte man die Geschichte zusammenfassen«, sagte June Brodie. »Aber das ergibt noch lange keine Story, oder?«
»Im Gegenteil, Mrs. Brodie, es ist eine faszinierende Geschichte, und ich glaube, dass die Leser des Bee das genauso sehen würden. Was bringt eine Frau dazu, so etwas zu tun? Wo hat sie die ganze Zeit gesteckt? Und warum kehrt sie nach mehr als einem Jahrzehnt zurück?«
June Brodie runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Es folgte ein kurzes, frostiges Schweigen.
Nach einer Weile seufzte Mr. Brodie. »Schauen Sie mal, junger Mann, ich fürchte, die ganze Sache ist nicht so interessant, wie Sie glauben.«
»Carlton, du bist ihm keine Rechenschaft schuldig.«
»Nein, Schatz, ich glaube, es ist besser, wenn wir es ihm erzählen«, widersprach Mr. Brodie. »Es einmal sagen und uns weigern, nochmals darauf zu sprechen zu kommen. Wir ziehen die ganze Sache nur in die Länge, wenn wir nicht kooperieren.« Er drehte sich zu Betterton um. »Wir machten damals in unserer Ehe gerade eine schwierige Zeit durch.«
Betterton nickte.
»Es ging uns schlecht«, fuhr Mr. Brodie fort. »Dann kam Junes Arbeitgeber bei einem Brand ums Leben, und als die Firma Longitude Pharmaceuticals bankrottging, verlor June ihren Job. June wusste nicht mehr weiter, war halb verrückt. Sie musste fort – fort von allem. Und ich auch. Es war töricht von ihr, einen Selbstmord zu inszenieren, aber andererseits hatte sie auch kaum eine andere Wahl. Später bin ich auf sie zugegangen. Da haben wir uns entschlossen zu reisen, wir stiegen in einer Pension ab, das Haus war Liebe auf den ersten Blick, wir stellten fest, dass es zum Verkauf stand, kauften es und führten die Pension mehrere Jahre lang … Aber … na ja, wir sind älter und klüger geworden, und jetzt geht es uns besser, und so haben wir uns entschlossen, nach Hause zurückzukehren. Das ist alles.«
»Das ist alles«, wiederholte Betterton tonlos.
»Wenn Sie den Polizeibericht gelesen haben, dann wissen Sie ja bereits alles. Es gab natürlich Ermittlungen. Aber das liegt ja schon lange zurück. Es war kein Betrug im Spiel, es gab keine Flucht aus Schulden, keinen Versicherungsbetrug, keinen Gesetzesverstoß. Also wurde die Sache fallengelassen. Und jetzt wollen wir einfach nur in Ruhe und Frieden hier leben.«
Betterton dachte eine Weile darüber nach. Die Pension war im Polizeibericht erwähnt worden, allerdings ohne nähere Angaben. »Wo liegt denn diese Pension?«
»In Mexiko.«
»Wo in Mexiko?«
Kurzes Zögern. »In San Miguel de Allende. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Ort in den Bergen von Zentralmexiko.«
»Und wie heißt die Pension?«
»Casa Magnolia. Wunderschön gelegen. In fußläufiger Entfernung zum Mercado des Artesanias.«
Betterton holte tief Luft. Ihm fielen keine weiteren Fragen ein. Und weil der Mann so offen und ehrlich gewesen war, konnte er auch nicht nachhaken. »Nun ja, ich danke Ihnen, dass Sie so offen mit mir gesprochen haben.«
Brodie antwortete mit einem Nicken und nahm Teller und Geschirrtuch vom Tisch.
»Darf ich Sie anrufen? Ich meine, falls ich weitere Fragen habe?«
»Das dürfen Sie nicht«, sagte June Brodie kurz angebunden. »Guten Morgen.«
Draußen, auf dem Weg zum Wagen, ging Betterton flotteren Schritts. Es war immer noch eine gute Story. Na gut, vielleicht nicht die größte Exklusiv-Story, die man an Land ziehen konnte, aber die Geschichte würde die Leute aufmerken lassen und sich gut in seiner Mappe machen. Eine Frau, die ihren Selbstmord vorgetäuscht und ihren Mann dazu überredet hatte, sie ins Ausland zu begleiten, und schließlich nach zwölf Jahren nach Hause zurückkehrte. Eine Human-Interest-Story mit einem Dreh. Mit ein wenig Glück könnten die Nachrichtenagenturen davon Wind bekommen.
»Ned, du alter Halunke«, sagte er, während er die Wagentür öffnete. »Okay, dann ist es eben nicht Watergate, aber vielleicht kriegst du mit der Geschichte ja die Kurve und kommst endlich raus aus Ezzerville.«
Mit ausdrucksloser Miene und kalten blauen Augen blickte June Brodie durchs Fenster dem Wagen hinterher, bis er sich in der Ferne verlor. Dann drehte sie sich zu ihrem Ehemann um. »Meinst du, er hat uns die Geschichte abgenommen?«
Carlton Brodie trocknete den Porzellanteller ab. »Die Polizei hat sie uns abgenommen, oder nicht?«
»Damals hatten wir keine andere Wahl. Aber jetzt ist die Geschichte ans Licht gekommen.«
»Sie war bereits ans Licht gekommen.«
»Aber sie hat nicht in den Zeitungen gestanden.«
Brodie lachte. »Du hältst zu große Stücke auf den Ezzerville Bee.« Dann hielt er inne und blickte sie an. »Was ist denn?«
»Weißt du nicht mehr, was Charles gesagt hat? Dass er immer so große Angst hatte? ›Wir müssen uns weiter versteckt halten‹, das hat er immer wieder gesagt. ›Im Verborgenen leben. Die können nicht wissen, dass wir am Leben sind. Die würden nach uns suchen‹.«
»Und?«
»Und was passiert, wenn die die Zeitung lesen?«
Wieder kicherte Brodie. »June, bitte. Es gibt keine die. Slade war alt. Alt, krank, psychisch gestört und enorm paranoid. Glaub mir, es ist besser so. Mit der Geschichte rausrücken, und zwar so, wie wir es wollen, ohne dass Gerüchte ins Kraut schießen und spekuliert wird. Alles im Keim ersticken.« Und damit ging er, immer noch den Teller abtrocknend, zurück in die Küche.