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Langsam kam Constance wieder zu Bewusstsein. Es war stockfinster. Ihr war speiübel, und sie hatte rasende Kopfschmerzen. Sie stand einen Augenblick reglos nach vorn gebeugt da, bis sie einen klareren Kopf bekam. Und dann, ganz plötzlich, fiel ihr ein, was passiert war.

Sie versuchte, sich zu bewegen, stellte aber fest, dass ihre Hände mittels einer Kette um die Taille gefesselt waren und ihre Beine an irgendetwas hinter ihr festgebunden waren – diesmal extrem stramm. Ihr Mund war mit Klebeband verschlossen. Die Luft war feucht und roch nach Diesel, Öl und Schimmel. Constance spürte ein sanftes Schaukeln und hörte, wie Wasser gegen einen Rumpf schlug. Sie befand sich auf einem Schiff.

Sie horchte. Es waren Leute an Bord – über ihr waren gedämpfte Stimmen zu hören. Sie blieb völlig regungslos stehen und sammelte ihre Gedanken, ihr Herz schlug langsam und regelmäßig. Ihre Glieder waren steif und wund. Sie musste Stunden, vielleicht viele Stunden bewusstlos gewesen sein.

Die Zeit verstrich. Und dann hörte sie Schritte, die näher kamen. Auf einmal erschien ein schmaler Lichtstrahl, und kurz darauf wurde eine Glühbirne eingeschaltet. Sie schaute hin. Im Türrahmen stand der Mann, der sich als Esterhazy und Dr. Poole ausgab. Er erwiderte ihren Blick, seine attraktiven Gesichtszüge waren von Nervosität und auch den Kratzern entstellt, die sie ihm beigebracht hatte. Hinter ihm, in einem schmalen Flur, sah sie eine zweite Gestalt im Schatten.

Er trat auf sie zu. »Wir verlegen Sie. Um Ihrer eigenen Sicherheit willen. Bitte leisten Sie keinen Widerstand.«

Sie starrte ihn nur an. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht sprechen.

Er zog ein Messer aus der Hosentasche und schnitt die Klebebandschichten durch, mit denen ihre Beine an einem senkrechten Pfeiler festgebunden waren. Im nächsten Moment war sie frei.

»Kommen Sie.« Er streckte den Arm aus und hakte seine Hand unter einen ihrer mit Handschellen gefesselten Arme. Sie taumelte nach vorn, die Füße taub, die Beine verkrampft, bei jeder Bewegung zuckten Schmerzen hindurch. Er stieß sie vor sich her und schob sie sanft in Richtung der winzigen Tür. Sie beugte den Kopf und ging durch die Tür, Esterhazy folgte.

Die Gestalt im Schatten stand dahinter – eine Frau. Constance erkannte sie wieder, es war die rothaarige Frau aus dem angrenzenden Garten. Die Frau erwiderte ihren Blick kühl, ein leises Lächeln auf den Lippen.

Pendergast hatte den Brief also doch nicht erhalten. Es hatte nichts genützt, ihn zu schreiben. In Wirklichkeit hatte es sich offenbar um eine Art List gehandelt.

»Nehmen Sie den anderen Arm«, sagte Esterhazy zu der Frau. »Man weiß nie, was sie als Nächstes tut.«

Die Frau packte Constance am anderen Arm, und gemeinsam führten Esterhazy und die Frau sie über einen Korridor bis zu einer weiteren, kleineren Lukentür. Constance ließ sich widerstandslos weiterziehen, mit gesenktem Kopf. Als Esterhazy sich vorbeugte, um die Lukentür zu öffnen, sammelte Constance ihre Kräfte, dann drehte sie sich schnell um und versetzte der Frau einen Rammstoß mit dem Kopf. Die andere stürzte nach hinten und prallte gegen das Schott. Esterhazy wirbelte herum, und da wollte Constance auch ihm einen Kopfstoß verpassen, aber er schlang die Arme um sie und hielt sie fest. Die Frau rappelte sich auf, beugte sich über Constance, zog ihren Kopf an den Haaren zurück und schlug ihr fest ins Gesicht, einmal, zweimal.

»Das ist nicht nötig«, herrschte Esterhazy sie an. Er zog Constance zu sich herum. »Du tust, was wir dir sagen, oder die Leute hier werden dir richtig weh tun. Verstanden?«

Sie starrte zurück, brachte kein Wort heraus, versuchte immer noch, wieder zu Atem zu kommen.

Er stieß sie in den dunklen Raum hinter der Lukentür, dann folgte er ihr, zusammen mit der Rothaarigen. Wieder standen sie in einem Laderaum, im Boden befand sich eine weitere Luke. Esterhazy löste die Verriegelung und klappte die Luke auf, woraufhin ein dunkler, muffiger Raum zum Vorschein kam. In dem schummrigen Licht sah Constance, dass es sich um den untersten Bereich des Kielraums handelte, dort, wo der Rumpf sich v-förmig verjüngte – zweifellos im Bugbereich des Schiffs.

Esterhazy wies lediglich in die Richtung der dunklen, klaffenden Lukenöffnung.

Constance wich zurück.

Plötzlich verspürte sie einen Hieb an der einen Kopfseite; die Frau hatte sie fest mit der flachen Hand geschlagen. »Geh da runter!«

»Lassen Sie mich das machen«, sagte Esterhazy verärgert.

Constance setzte sich, streckte die Beine in die Öffnung und ließ sich langsam hinab. Der Raum war größer, als er aussah. Sie blickte auf und sah, dass die Frau sie erneut schlagen wollte, diesmal mit der Faust. Aber Esterhazy legte ihr die Hand unsanft auf den Arm. »Das ist nicht nötig. Ich sage das nicht noch einmal.«

Eine Träne stieg in Constances Auge auf, aber sie schüttelte sie weg. Sie hatte in mehr Jahren, als sie sich erinnern konnte, nicht mehr geweint, und sie dachte nicht daran, vor diesen Leuten in Tränen auszubrechen. Es musste am Schock liegen, als sie die Frau erkannt hatte. Und da ging ihr auf, wie sehr sie sich an die vage Hoffnung geklammert hatte, die der Brief genährt hatte.

Sie setzte sich und lehnte sich mit dem Rücken an das Schott. Die Luke schloss sich hinter ihr, gefolgt von einem metallischen Quietschen, als sie verriegelt wurde.

Es war stockdunkel im Raum, noch finsterer als in dem Laderaum, in dem sie sich zuvor befunden hatte. Das Geräusch von Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schwappten, erfüllte den Kielraum, so dass sie fast das Gefühl hatte, sich unter Wasser zu befinden.

Sie fühlte sich unwohl, so, als müsste sie sich übergeben. Aber wenn das passierte, würde das Klebeband auf ihrem Mund dazu führen, dass sie sich verschluckte, vielleicht sogar erstickte. Das durfte sie nicht zulassen.

Sie verlagerte ihr Gewicht und versuchte, eine bequeme Haltung einzunehmen und ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Sie war schließlich dunkle, enge Räume gewohnt. Das hier war nichts Neues. Überhaupt nichts Neues.