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New Orleans, Louisiana
Peter Beauforts Sprechzimmer erinnerte eher an das Arbeitszimmer eines wohlhabenden Professors als an das Sprechzimmer eines Arztes. Auf den Bücherregalen standen in Leder gebundene Folianten. Schöne Landschaften, in Öl gemalt, schmückten die Wände. Jedes Möbelstück war antik, liebevoll poliert und in gutem Zustand. Nirgendwo ein Zeichen von Stahl oder Chrom, von Linoleum gar nicht zu reden. Keine Augenhintergrundtafeln, keine anatomischen Drucke, keine Traktakte über Medizin, keine Skelette, die von Haken hingen. Dr. Beaufort selbst trug einen geschmackvollen Maßanzug; weißer Kittel und herabbaumelndes Stethoskop fehlten. In Kleidung, Verhalten und Erscheinung vermied er jeden Hinweis auf seinen Beruf als Mediziner.
Pendergast ließ sich auf den Besuchersessel nieder. In seiner Jugend hatte er viele Stunden hier verbracht, den Arzt mit Fragen über Anatomie und Physiologie bombardiert und über die Geheimnisse von Diagnose und Therapie diskutiert.
»Beaufort«, sagte er. »Vielen Dank, dass Sie mich so früh am Morgen empfangen.«
Der Pathologe lächelte. »Früher haben Sie mich immer so genannt«, erwiderte er. »Finden Sie nicht, dass Sie jetzt alt genug sind, um mich mit Peter anzureden?«
Pendergast neigte den Kopf. Der Ton des Arztes war beschwingt, sehr höflich. Doch Pendergast kannte ihn so gut, dass ihm auffiel, wie unbehaglich ihm zumute war.
Eine Aktenmappe lag zugeklappt auf dem Schreibtisch. Beaufort schlug sie auf, setzte seine Brille auf und studierte die oberste Seite. »Aloysius …« Seine Stimme verklang, und er räusperte sich.
»Sie müssen nicht taktvoll sein, dazu besteht kein Anlass«, sagte Pendergast.
»Verstehe.« Beaufort zögerte. »Gut, dann will ich offen sprechen. Die Untersuchungsergebnisse sind eindeutig. Beim Leichnam in dem Grab handelt es sich um den Leichnam von Helen Pendergast.«
Als Pendergast nichts erwiderte, fuhr Beaufort fort. »Wir haben Übereinstimmungen auf einer Vielzahl von Ebenen festgestellt. Zunächst einmal besteht zwischen der DNA aus der Bürste und der DNA des Leichnams eine Merkmalsübereinstimmung.«
»Wie genau?«
»Über jeden Schatten eines mathematischen Zweifels hinaus. Ich habe ein halbes Dutzend Analysen jeder der vier Proben aus der Haarbürste und dem Leichnam angeordnet. Aber es ist nicht nur die DNA. Auch die Röntgenaufnahmen des Gebisses stimmen überein. Lediglich ein einziges kleines Loch im Zweier – dem rechten oberen Backenzahn. Ihre Frau hatte immer noch wunderschöne Zähne, obwohl so viel Zeit vergangen ist …«
»Fingerabdrücke?«
Beaufort räusperte sich erneut. »Bei der Hitze und Feuchtigkeit in diesem Teil des Landes … also, ich konnte zwar lediglich einige partielle Fingerabdrücke sichern, die jedoch ebenfalls übereinstimmen.« Beaufort schlug eine Seite um. »Meine forensische Analyse ergab, dass der Leichnam eindeutig teilweise von einem Löwen verzehrt wurde. Zusätzlich zu den, äh, biologischen Spuren vom Zeitpunkt des Todes – Zahnspuren und so weiter an den Knochen – wurde Leo pantera-DNA gefunden. Löwen-DNA.«
»Sie sagten, die Fingerabdrücke seien nur partiell. Das ist nicht ausreichend.«
»Aloysius, die Ergebnisse der DNA-Analyse sind schlüssig. Es handelt sich um den Leichnam Ihrer Frau.«
»Das kann nicht sein, denn Helen ist noch am Leben.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Beaufort breitete in einer resignierten Geste die Hände aus. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das sage, aber das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Die Wissenschaft sagt uns, dass es sich anders verhält, und vor allem Sie respektieren doch die Wissenschaft.«
»Die Wissenschaft irrt.« Pendergast legte die Hand auf die Stuhllehne und wollte sich erheben. Aber dann sah er den Ausdruck auf Beauforts Gesicht und verharrte. Es war deutlich, dass der Pathologe noch mehr zu sagen hatte.
»Einmal abgesehen davon«, sprach Beaufort weiter, »gibt es noch etwas, das Sie wissen sollten. Vielleicht ist es unbedeutend.« Er wollte die Sache bagatellisieren, aber Pendergast spürte, dass es keine Kleinigkeit war. »Sind Sie vertraut mit der Untersuchung der mitochondrialen DNA?«
»Ganz allgemein, als Instrument der Forensik.«
Beaufort nahm die Brille ab, putzte sie und setzte sie sich wieder auf. Er wirkte seltsam verlegen. »Dann verzeihen Sie mir, wenn ich etwas wiederhole, was Sie bereits wissen. Die mitochondriale DNA ist vollständig getrennt von der regulären DNA eines Menschen. Es handelt sich um genetisches Material, das in den Mitochondrien jeder Zelle sitzt und unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird – in weiblicher Linie. Das bedeutet, alle Nachkommen – ob männlich oder weiblich – einer bestimmten Frau haben eine identische mitochondriale DNA, die wir mtDNA nennen. Diese DNA ist ein höchst wirksames Instrument der Forensik, und es gibt separate Datenbanken darüber.«
»Was ist damit?«
»Als Teil einer ganzen Batterie von Untersuchungen, denen ich die Überreste Ihrer Frau unterzogen habe, habe ich sowohl die DNA als auch die mtDNA durch einen Verbund von etwa fünfunddreißig medizinischen Datenbanken laufen lassen. Dadurch wurde Helens DNA bestätigt, aber es gab auch einen Treffer in einer der … etwas ungewöhnlicheren Datenbanken. Bezüglich ihrer mtDNA.«
Pendergast wartete.
Beauforts Verlegenheit schien sich zu vertiefen. »Einer Datenbank, die von der DTG unterhalten wird.«
»Der DTG?«
»Doctors’ Trial Group. Die Ärzteprozess-Gruppe.«
»Die Nazijäger?«
Beaufort nickte. »Richtig. Die Organisation wurde gegründet, um die Naziärzte im Dritten Reich, die aktiv Beihilfe zum Verbrechen des Holocaust geleistet haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Sie ist aus den sogenannten Ärzteprozessen entstanden, die nach dem Krieg in Nürnberg geführt wurden. Eine ganze Reihe von Ärzten ist nach Kriegsende aus Deutschland geflohen und nach Südamerika gegangen, und seither jagt die DTG sie. Die Organisation unterhält eine wissenschaftlich einwandfreie Datenbank mit genetischen Informationen über diese Ärzte.«
Als Pendergast sprach, war seine Stimme sehr ruhig. »Um was für eine Art Treffer handelt es sich genau?«
Der Mediziner nahm ein Blatt Papier aus der Mappe. »Eine Übereinstimmung mit einem Doktor Wolfgang Faust. Geboren neunzehnhundertacht in Ravensbrück in Deutschland.«
»Und was genau bedeutet das?«
Beaufort holte tief Luft. »In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs war Faust SS-Arzt in Dachau. Nach dem Krieg verschwand er. Neunzehnhundertfünfundachtzig konnte die DTG ihn endlich aufspüren. Aber es war zu spät, ihn zur Rechenschaft zu ziehen – er war bereits achtundsiebzig gestorben, eines natürlichen Todes. Die Organisation fand sein Grab und veranlasste eine Exhumierung, um die Überreste zu untersuchen. So ist Fausts mtDNA in die DTG-Datenbank gelangt.«
»Dachau«, flüsterte Pendergast. Er fixierte Beaufort scharf. »Und welche Verwandtschaftsbeziehung bestand nun zwischen diesem Arzt und Helen?«
»Sie stammen beide von derselben Vorfahrin ab. Es könnte eine Generation zurückliegen oder hundert.«
»Haben Sie weitere Information über diesen Arzt?«
»Wie zu erwarten, ist die DTG eine ziemlich zugeknöpfte Organisation. Es heißt, dass es Verbindungen zum Mossad gibt. Abgesehen von der öffentlich zugänglichen Datenbank sind die Akten der Gruppe versiegelt. Über Faust ist wenig bekannt, und ich habe keine weitergehenden Nachforschungen angestellt.«
»Und was bedeutet das alles?«
»Nur eine genealogische Nachforschung kann offenlegen, welche Verwandtschaftsbeziehung zwischen Helen und Doktor Faust besteht. Eine solche genealogische Forschung müsste die Abstammung Ihrer Frau in der weiblichen Linie zurückverfolgen – Mutter, Großmutter mütterlicherseits, Urgroßmutter mütterlicherseits und so fort. Dasselbe gilt für Faust. Es bedeutet lediglich, dass dieser Nazi-Arzt und Ihre Frau eine gemeinsame Vorfahrin mütterlicherseits haben. Dabei könnte es sich durchaus um eine Frau handeln, die im Mittelalter gelebt hat.«
Pendergast zögerte einen Augenblick. »Hat meine Frau über Faust Bescheid gewusst?«
»Das hätte nur sie Ihnen sagen können.«
»In dem Fall«, sagte Pendergast fast wie zu sich selbst, »werde ich sie fragen müssen, wenn ich sie sehe.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Und dann sagte Beaufort: »Helen ist tot. Diese … donquichottehafte Überzeugung, der Sie nachhängen, bereitet mir Sorgen.«
Als Pendergast sich erhob, war seine Miene undurchdringlich. »Vielen Dank, Beaufort, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Bitte denken Sie über das nach, was ich gerade gesagt habe. Bedenken Sie die Familiengeschichte …«
Pendergast brachte ein kaltes Lächeln zustande. »Eine weitere Hilfe Ihrerseits ist unnötig. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.«