25
Edinburgh, Schottland
»»Sie können Ihr Hemd wieder anziehen, Mr. Pendergast.« Der nicht mehr ganz junge Arzt legte seine Instrumente in die abgegriffene Gladstone-Tasche zurück, eins nach dem anderen, hektisch und pedantisch: Stethoskop, Blutdruckmessgerät, Ohrenspiegel, Ministablampe, Augenspiegel, tragbarer EKG-Monitor. Er schloss die Tasche, sah sich in der luxuriösen Hotelsuite um und richtete seinen missbilligenden Blick schließlich wieder auf Pendergast. »Die Wunde ist schlecht verheilt.«
»Ja, ich weiß. Die Umstände der Rekonvaleszenz waren … nicht optimal.«
Der Arzt zögerte. »Die Wunde wurde offenkundig durch eine Kugel hervorgerufen.«
»Ganz recht.« Pendergast knöpfte sein weißes Hemd zu und schlüpfte in einen seidenen Morgenmantel mit gedecktem Paisleymuster. »Ein Jagdunfall.«
»Solche Unfälle müssen gemeldet werden.«
»Vielen Dank, aber die Behörden wissen alles, was nötig ist.«
Das Stirnrunzeln des Arztes vertiefte sich. »Sie sind immer noch sehr geschwächt. Sie leiden unter akutem Blutmangel nach Ihrem plötzlichen schweren Blutverlust, hinzu kommt ein zu langsamer Herzschlag. Ich empfehle Ihnen mindestens zwei Wochen Bettruhe, vorzugsweise in einem Krankenhaus.«
»Ich weiß Ihre Diagnose zu schätzen, Doktor, und werde es mir überlegen. Wenn Sie mir jetzt bitte einen Bericht über meine Vitalfunktionen geben könnten sowie den EKG-Ausdruck, kümmere ich mich gern um Ihre Rechnung.«
Fünf Minuten später verließ der Arzt die Suite und schloss leise die Tür hinter sich. Pendergast wusch sich im Badezimmer die Hände und griff zum Telefon.
»Ja, Mr. Pendergast, womit kann ich dienen?«
»Bitte lassen Sie eine kleine Stärkung auf meine Suite bringen. Old Raj Gin und Noilly Prat. Und Zitrone.«
»Sehr wohl, Sir.«
Pendergast legte auf, ging ins Wohnzimmer, öffnete die Glastüren und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Das Getöse der Stadt drang gedämpft zu ihm herauf. Es war ein kühler Abend. Unter ihm, auf der Princess Street, warteten mehrere Taxis vor dem Hoteleingang, und ein Lastwagen rollte vorbei. Reisende strömten in die Waverley Station. Pendergast hob den Blick über die Altstadt, hin zu dem ausladenden, sandfarbenen Komplex des hell erleuchteten Edinburgh Castle, das sich gegen den purpurnen Himmel des Sonnenuntergangs abhob.
Es klopfte, dann ging die Tür der Suite auf. Ein Zimmerkellner trat ein, in der Hand ein Silbertablett mit Gläsern, Eis, einem Cocktailshaker, Zitronenscheiben auf einem Tellerchen und zwei Flaschen.
»Danke«, sagte Pendergast, trat vom Balkon und drückte dem Mann einen Schein in die Hand.
»Es war mir ein Vergnügen, Sir.«
Der Zimmerkellner ging. Pendergast gab das Eis in den Cocktailshaker und fügte mehrere Fingerbreit Gin und einen Schuss Vermouth hinzu. Er schüttelte das Gemisch eine Minute lang, goss es in eins der Gläser und gab eine Zitronenscheibe hinzu. Mit dem Glas ging er auf den Balkon hinaus, setzte sich auf einen Stuhl und versank tief in Gedanken.
Eine Stunde verstrich. Pendergast mixte sich einen zweiten Drink und kehrte auf den Balkon zurück, wo er eine weitere Stunde regungslos saß. Schließlich trank er aus, zog ein Handy aus seiner Tasche und wählte.
Es klingelte mehrmals, ehe sich eine schläfrige Stimme meldete. »D’Agosta.«
»Hallo, Vincent.«
»Pendergast?«
»Ja.«
»Wo sind Sie?« Die Stimme war augenblicklich hellwach.
»Im Hotel Balmoral in Edinburgh.«
»Wie ist Ihr Gesundheitszustand?«
»So gut, wie man es erwarten kann.«
»Und Esterhazy – was ist mit ihm passiert?«
»Es ist ihm gelungen, mir zu entwischen.«
»Herr im Himmel. Wie das?«
»Die Details sind ohne Belang. Es genügt zu sagen, dass gewisse Umstände auch einen genau durchdachten Plan zunichtemachen können.«
»Wo ist er jetzt?«
»In der Luft. Auf einem internationalen Flug.«
»Wie können Sie sich da so sicher sein?«
»Der Minibus, den er gestohlen hat, wurde auf einer Zufahrtsstraße vor dem Edinburgh Airport gefunden.«
»Wann?«
»Heute Nachmittag.«
»Gut. Sein Flieger ist also noch nicht gelandet. Sagen Sie mir, wohin dieser Schweinehund will, und ich werde für ein Empfangskomitee sorgen.«
»Ich fürchte, das kann ich nicht.«
»Warum denn nicht? Sagen Sie mir nicht, dass Sie ihn einfach nur entkommen lassen wollen.«
»Darum geht’s nicht. Ich habe bereits mit dem Grenzschutz Rücksprache gehalten. Kein Judson Esterhazy hat Schottland verlassen. Hunderte von anderen Amerikanern, ja, aber kein Judson.«
»Gut, dann war der stehengelassene Minibus nur eine List. Er hat sich irgendwo da drüben verkrochen.«
»Nein, Vincent – ich habe die Sache aus allen erdenklichen Blickwinkeln durchdacht. Er ist eindeutig außer Landes geflohen, vermutlich in die Vereinigten Staaten.«
»Wie soll er denn das schaffen, ohne die Passkontrolle zu passieren?«
»Nach der gerichtlichen Untersuchung hat er Schottland mit großem Tamtam verlassen. Er hat die Passkontrolle passiert, Abreisedatum und Flugnummer sind bekannt. Aber es gibt keine Unterlagen über seine Rückkehr nach Schottland – obwohl wir beide wissen, dass er wieder im Land war.«
»Das ist unmöglich. Nicht bei den heutigen Sicherheitskontrollen auf den Flughäfen.«
»Es ist möglich, wenn man einen falschen Pass benutzt.«
»Einen falschen Pass?«
»Er muss sich in den Staaten einen beschafft haben, als er nach der Gerichtsverhandlung dorthin zurückgekehrt ist.«
Es gab eine kurze Pause. »Es ist praktisch unmöglich, heutzutage einen US-Pass zu fälschen. Es muss eine andere Erklärung geben.«
»Es gibt keine. Er besitzt einen falschen Pass – was ich zutiefst beunruhigend finde.«
»Er kann sich nicht verstecken. Wir hetzen die Hunde auf ihn.«
»Er weiß jetzt, dass ich noch lebe und mir sehr viel daran liegt, ihn aufzuspüren. Darum wird er untertauchen. Nach ihm zu suchen, ist daher im Moment sinnlos. Er hatte ganz offensichtlich professionelle Hilfe. Und deshalb muss ich mit meiner Untersuchung einen anderen Weg einschlagen.«
»Ach ja? Und welchen?«
»Ich muss auf eigene Faust herausfinden, wo meine Frau sich aufhält.«
Das wurde mit einer noch längeren Pause quittiert. »Hm, Pendergast … So leid es mir tut, aber Sie wissen, wo sich Ihre Frau befindet. Im Grab Ihrer Familie.«
»Nein, Vincent. Helen ist am Leben. Ich bin mir dessen so sicher, wie ich es mir je im Leben über irgendetwas war.«
D’Agosta stieß einen hörbaren Seufzer aus. »Lassen Sie nicht zu, dass er Ihnen das antut. Merken Sie denn nicht, was los ist? Er weiß, wie viel Helen Ihnen bedeutet hat. Er weiß genau, dass Sie alles dafür geben würden, dass Sie alles tun würden, um sie zurückzubekommen. Er verarscht Sie – aus seinen eigenen sadistischen Gründen.«
Als Pendergast nichts erwiderte, fluchte D’Agosta leise. »Ich nehme an, das bedeutet, dass Sie sich nicht länger versteckt halten.«
»Das hat keinen Sinn mehr. Aber ich habe vor, auch in absehbarer Zukunft unterhalb des Radars zu operieren. Es besteht kein Grund, meine Bewegungen zu überwachen.«
»Kann ich irgendetwas tun? Von hier aus?«
»Sie können im Mount Mercy Hospital nach Constance sehen. Sorgen Sie dafür, dass es ihr an nichts fehlt.«
»Geht klar. Und Sie? Was wollen Sie machen?«
»Das, was ich Ihnen gerade eben gesagt habe. Meine Frau finden.« Und damit beendete Pendergast das Gespräch.