22
Malfourche
Milde Nachtluft drang durch das offene Fenster ins Wohnzimmer und bewegte die Tüllgardinen. June Brodie, die gerade die Formulare des in Mississippi zuständigen Amts für Alten- und Krankenpflege ausfüllte, spürte den Windhauch auf ihrem Gesicht und blickte auf. Abgesehen vom leisen Flüstern des Windes war die Nacht still. Sie sah auf die Uhr: fast zwei Uhr morgens. Aus dem Nebenzimmer war schwach das tiefe Geleier eines Fernsehmoderators zu hören. Bestimmt sah Carlton sich eine dieser militärgeschichtlichen Dokumentarsendungen an, die seine Leidenschaft waren.
Sie nahm einen Schluck aus der Colaflasche, die neben ihrem Ellbogen stand. Sie hatte es immer geliebt, Cola aus Glasflaschen zu trinken. Es erinnerte sie an ihre Kindheit und die altmodischen Getränkeautomaten, bei denen man ein schmales Glasfenster öffnen und die Flaschen am Hals herausziehen musste. Aus der Flasche schmeckte die Cola anders, davon war sie überzeugt. Doch in den letzten zehn Jahren, draußen in den Sümpfen, hatte sie sich mit Aluminiumdosen zufriedengeben müssen. Charles Slade konnte das Glitzern des Lichts auf Glas nicht ertragen, daher war praktisch kein unverdecktes Glas auf Spanish Island erlaubt gewesen. Selbst die Zylinder der Spritzen waren aus Plastik.
Sie stellte die Flasche zurück auf den Untersetzer. Die Rückkehr zu einem normalen Leben hatte noch andere Vorteile. Carlton konnte seine Fernsehsendungen sehen, ohne Kopfhörer aufsetzen zu müssen. Die Rollos konnten weit geöffnet werden, um Licht und frische Luft ins Zimmer zu lassen. Sie konnte das Haus mit frischen Blumen schmücken – Rosen und Gardenien und ihren Lieblingsblumen, Calla-Lilien –, ohne befürchten zu müssen, dass ihr Duft verzweifelte Proteste hervorrufen würde. Sie hielt sich in Form, sie mochte schöne Kleider und modische Frisuren, und jetzt würde sie Gelegenheit haben, sie auch vorzuführen. Zugegeben, sie waren in der Stadt mehr als üblich angestarrt worden – manchmal misstrauisch, manchmal nur neugierig –, aber die Leute aus der Nachbarschaft gewöhnten sich bereits daran, dass die Brodies zurück waren. Die Ermittlungen der Polizei waren abgeschlossen. Der nervige Journalist vom Ezzerville Bee war nicht wieder aufgetaucht. Zwar hatte eine Zeitung in Houston nach seinem Artikel eine kleine Meldung gebracht, aber die Nachricht schien sich nicht weiter verbreitet zu haben. Nach Slades Tod hatten sie sich Zeit gelassen – fast fünf Monate –, damit auch bestimmt niemand je erfuhr, wo sie gelebt und was sie getan hatten. Erst dann hatten sie ihr öffentliches Wiederauftauchen durchgezogen. Das Geheimnis ihres Lebens im Sumpf würde genau das bleiben – ein Geheimnis.
Etwas wehmütig schüttelte June Brodie den Kopf. Sie mochte sich das zwar alles einreden, aber trotzdem gab es Zeiten – Zeiten wie diese, in der Stille der Nacht –, in denen ihr Charles Slade so sehr fehlte, dass es fast körperlich weh tat. Zugegeben, ihre jahrelange Pflege des ausgezehrten Körpers des Mannes, dessen Geist durch Krankheiten und eine pathologische Überempfindlichkeit gegenüber allen Sinnesreizen verheert war, hatte ihre Liebe abgeschwächt. Doch früher hatte sie ihn rasend geliebt. Ihr war klar gewesen, dass es falsch war, absolut unfair gegenüber ihrem Mann. Aber als Vorstandschef von Longitude hatte Slade eine solche Macht besessen, er sah so wahnsinnig gut aus, war so charismatisch – und auf seine Weise war er sehr freundlich zu ihr gewesen … Sie war gewillt gewesen, mehr als gewillt, ihre Stelle als Krankenschwester aufzugeben und sich ganz ihm zu widmen, am Tag und – sehr häufig – auch in der Nacht.
Im Nebenzimmer war es still geworden. Carlton musste den Fernseher ausgestellt haben, um seiner anderen Leidenschaft zu frönen: dem Kreuzworträtsel der Londoner Times.
June Brodie blickte seufzend auf die Formulare, die auf ihrem Schoß lagen. Apropos Job, sie sollte sich besser daranmachen, diese Papiere auszufüllen. Ihre Zulassung als examinierte Pflegefachkraft war schon vor 2004 abgelaufen, und die Gesetze in Mississippi verlangten, dass sie …
Unvermittelt schaute sie auf. Carlton stand in der Tür, einen höchst eigenartigen Ausdruck im Gesicht.
»Carlton?«, sagte sie. »Was ist denn? Was …«
In diesem Augenblick trat eine andere Gestalt aus der Dunkelheit hinter ihrem Mann hervor. June Brodie stockte der Atem. Es war ein großer, hagerer Mann in einem dunklen, teuer aussehenden Trenchcoat. Eine schwarze Lederkappe war tief in die Stirn gezogen; die Augen musterten sie mit ruhiger Distanz. In einer seiner behandschuhten Hände hielt er eine Pistole, und die war auf die Schädelbasis ihres Mannes gerichtet. Der Lauf wirkte seltsam lang, bis sie erkannte, dass die Waffe mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war.
»Hinsetzen«, sagte der Mann und stieß Carlton auf das Zweiersofa neben ihr. Obwohl June Brodie einen Adrenalinschub verspürte, so dass ihr Herz laut klopfte, fiel ihr sogleich der ausländische Akzent des Mannes auf. Europäisch, niederländisch vielleicht, wahrscheinlicher deutsch.
Er blickte sich im Zimmer um, bemerkte das offene Fenster, schloss es und zog die Vorhänge vor. Er legte seinen Trenchcoat ab und hängte ihn über einen Stuhl. Dann zog er den Stuhl heran, so dass er vor dem Ehepaar saß, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Die Faustfeuerwaffe hing locker herab. Er zog die Hose an den Knien hoch und zog beiläufig die Manschetten heraus, so, als habe er einen Tausend-Dollar-Anzug statt Einbrecherkluft an. Als er sich vorbeugte, fiel June ein langes, dünnes, wurmförmiges Muttermal unter dem einen Auge auf. Absurderweise dachte sie: Warum lässt er das hässliche Ding nicht entfernen?
»Ich frage mich«, sagte er mit angenehmer Stimme, »ob Sie mich wohl über etwas aufklären könnten.«
June Brodie warf einen verstohlenen Blick auf ihren Mann.
»Könnten Sie mir bitte sagen, was moon pie ist?«
Im Raum blieb es still. Hatte sie sich vielleicht verhört?
»Regionale Spezialitäten interessieren mich«, fuhr der Mann fort. »Ich bin jetzt seit einem Tag in diesem eigentümlichen Teil Ihres Landes. Ich kenne den Unterschied zwischen crawfish und crayfish – es gibt keinen, beides bedeutet Flusskrebs. Ich habe grits und, wie nennt man es noch mal, hush puppies gekostet – frittierte Maismehlbällchen. Aber ich komme einfach nicht dahinter, was für eine Pastete moon pie ist.«
»Es ist keine Pastete«, sagte Carlton mit hoher, gezwungener Stimme. »Sondern ein großer Keks. Man macht ihn aus Marshmallows und Graham-Crackern. Und Schokolade.«
»Verstehe. Danke schön.« Der Mann hielt inne und musterte sie nacheinander. »Und würden Sie jetzt vielleicht so freundlich sein, mir zu sagen, wo Sie beide die letzten zwölf Jahre gewesen sind?«
June Brodie atmete tief durch. Beim Sprechen wunderte sie sich selbst, wie ruhig ihre Stimme klang. »Das ist kein Geheimnis. Es stand in der Zeitung. Wir haben eine Frühstückspension in San Miguel in Mexiko geführt. Sie heißt Casa Magnolia, und …«
Mit einer einzigen, sparsamen Bewegung hob der Mann seine Waffe und schoss – wobei ein gedämpftes Peng erklang – Carlton Brodies linke Kniescheibe weg. Brodie zuckte zusammen, als wäre er von einem elektrischen Viehtreiber berührt worden, krümmte sich und schrie vor Erstaunen und Schmerzen auf. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, die das Knie umklammert hielten.
»Wenn Sie nicht sofort still sind«, sagte der Mann kühl, »geht der nächste Schuss in die Hirnschale.«
Carlton stopfte die Faust, die nicht das Knie umklammerte, in den Mund. Tränen quollen ihm aus den Augen. June war aufgesprungen und wollte zu ihm gehen, aber eine ruckartige Bewegung der Pistole ließ sie auf ihren Stuhl zurücksinken.
»Mich anzulügen, ist beleidigend«, sagte der Mann. »Tun Sie das nie wieder.«
Absolute Stille im Zimmer. Der Mann zupfte an seinen Handschuhen, erst am rechten, dann am linken. Als er die Ledermütze zurückschob, kamen feine, markante Gesichtszüge zum Vorschein: eine dünne Nase, hohe Wangenknochen, blondes, kurzgeschnittenes Haar, schmales Kinn, kalte blaue Augen, herabgezogene Mundwinkel. »Wir wissen, Mrs. Brodie, dass Ihrer Familie ein Jagdcamp im Black-Brake-Sumpf gehört, nicht weit von hier. Das Camp ist als Spanish Island bekannt.«
June Brodie starrte ihn an. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft in der Brust. Auf dem Sofa stöhnte und zitterte ihr Mann und hielt sein Knie umklammert, das der Mann zerschossen hatte.
»Vor nicht allzu langer Zeit, kurz vor Ihrem Wiederauftauchen, wurde ein Mann namens Michael Ventura tot im Sumpf aufgefunden, nicht weit von Spanish Island entfernt, erschossen. Früher arbeitete er als Sicherheitschef für Longitude Pharmaceuticals. Er ist von Interesse für uns. Wissen Sie vielleicht irgendetwas darüber?«
Wir wissen, hatte er gesagt. Von Interesse für uns. June Brodie dachte an die Worte, die der kranke Slade so oft geflüstert hatte, mit offensichtlicher Eindringlichkeit: Bleib im Verborgenen. Sie können nicht wissen, dass wir noch leben. Sie würden uns holen kommen. War es möglich, bestand die geringste Möglichkeit, dass es sich dabei nicht nur um das wirre Gerede eines paranoiden, halb verrückten Mannes gehandelt hatte?
Sie schluckte. »Nein, wir wissen nichts darüber«, antwortete sie. »Spanish Island ist schon vor Jahrzehnten bankrottgegangen, seitdem stehen die Gebäude leer. Alles ist verrammelt und verriegelt …«
Der Mann hob erneut die Waffe und schoss Carlton Brodie beiläufig in den Unterleib. Blut, Körpergewebe und Körperflüssigkeiten ergossen sich über das Sofa. Brodie heulte auf vor Schmerz, krümmte sich, glitt vom Sofa und wand sich auf dem Boden.
»Schon gut!«, rief June. »Schon gut, hören Sie auf, um der Liebe Gottes willen, bitte!« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Bringen Sie ihn zum Schweigen«, sagte der Mann. »Sonst muss ich es tun.«
June stand auf und eilte zu Carlton, der zusammengekrümmt dalag und vor Schmerzen schrie. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Blut strömte aus seinem Knie und zwischen den Beinen hervor. Mit einem hässlichen Schwall übergab er sich über Hose und Schuhe.
»Reden Sie«, sagte der Mann, immer noch beiläufig.
»Wir lebten da draußen«, sagte sie, spuckte die Worte in ihrer Angst fast heraus. »Draußen in den Sümpfen. Auf Spanish Island.«
»Wie lange?«
»Seit dem Brand.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Dem Brand bei Longitude?«
Sie nickte fast eifrig.
»Was haben Sie da draußen im Sumpf gemacht?«
»Uns um ihn gekümmert.«
»Um ihn?«
»Charles. Charles Slade.«
Zum ersten Mal fiel die Maske gelassener Gleichgültigkeit. Erstaunen und Ungläubigkeit traten in die vornehmen Züge des Mannes. »Unmöglich. Slade ist in den Flammen umgekommen …« Er verstummte. Seine Augen weiteten sich ein wenig und glänzten, so, als habe er etwas begriffen.
»Nein. Das Feuer war gelegt worden.«
Der Mann sah sie an und fragte scharf: »Warum? Um Beweise aus dem Labor zu vernichten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, warum. Der Großteil der Laborarbeit wurde auf Spanish Island erledigt.«
Wieder ein Ausdruck des Erstaunens. June blickte zu ihrem Mann, der unkontrolliert stöhnte und zitterte. Offenbar stand er kurz davor, bewusstlos zu werden. Vielleicht sogar zu sterben. Sie schluchzte, würgte, bemühte sich, sich zu beherrschen. »Bitte …«
»Warum haben Sie sich dort versteckt?«, fragte der Mann. Sein Ton war gleichgültig, aber das Funkeln war noch in seinen Augen.
»Charles wurde krank. Er hatte sich mit der Vogelgrippe angesteckt. Sie hat ihn … verändert.«
Der Mann nickte. »Und er hat Sie und Ihren Mann behalten, damit Sie sich um ihn kümmern?«
»Ja. Draußen im Sumpf. Wo ihn niemand finden würde. Wo er arbeiten konnte und dann später – als seine Krankheit sich verschlimmerte – gepflegt werden konnte.« Sie sagte das mit vor Angst erstickter Stimme. Der Mann war gewalttätig, aber wenn sie ihm alles erzählte, alles, würde er sie vielleicht gehen lassen. Und sie konnte ihren Mann ins Krankenhaus bringen.
»Wer wusste sonst noch von Spanish Island?«
»Nur Mike. Mike Ventura. Er brachte Vorräte, sorgte dafür, dass wir alles hatten, was wir brauchten.«
Der Mann zögerte. »Aber Ventura ist tot.«
»Er hat ihn umgebracht«, sagte June Brodie.
»Wer? Wer hat ihn umgebracht?«
»Agent Pendergast. Vom FBI.«
»FBI?« Zum ersten Mal erhob er merklich die Stimme.
»Ja. Zusammen mit einem Captain von der New Yorker Polizei. Eine Frau. Hayward.«
»Was wollten sie?«
»Der FBI-Agent suchte nach dem Mann, der seine Frau getötet hatte. Es hatte irgendetwas mit dem Projekt Aves zu tun – dem geheimen Vogelgrippe-Team bei Longitude … Slade hat sie umbringen lassen. Vor Jahren.«
»Ah ja«, sagte der Mann, als würde ihm plötzlich etwas klar. Er schwieg eine Weile und betrachtete die Fingernägel seiner linken Hand. »Wusste der FBI-Agent, dass Slade noch lebte?«
»Nein. Nicht bevor … Erst als er nach Spanish Island kam und Slade sich ihm zeigte.«
»Und was dann? Hat dieser FBI-Agent ihn ebenfalls umgebracht?«
»In gewisser Weise. Slade starb.«
»Warum kam nichts davon in den Nachrichten?«
»Der FBI-Agent wollte, dass die ganze Sache dort in den Sümpfen ein Ende fand.«
»Wann war das?«
»Vor mehr als sechs Monaten. Im März.«
Der Mann dachte kurz nach. »Sonst noch etwas?«
»Das ist alles, was ich weiß. Bitte! Ich habe Ihnen alles erzählt. Ich muss meinem Mann helfen. Bitte lassen Sie uns gehen!«
»Alles?«, fragte der Mann mit leisem Anflug von Skepsis in der Stimme.
»Alles.« Was konnte es sonst noch geben? Sie hatte ihm von Slade erzählt, von Spanish Island, vom Projekt Aves. Es gab sonst nichts weiter.
»Verstehe.« Der Mann schaute sie an. Dann hob er seine Waffe und schoss Carlton Brodie mitten zwischen die Augen.
»Gott, nein!« June spürte, wie der Körper in ihren Armen zuckte. Sie schrie.
Langsam senkte der Mann die Pistole.
»O nein!« June weinte. »Carlton!« Sie fühlte, wie der Leib ihres Mannes sich langsam in ihren Armen entspannte. Seiner Lunge entwich ein leises Pfeifen wie aus einem Blasebalg. Blut schoss in wahren Strömen aus seinem Hinterkopf und färbte den Sofabezug dunkel.
»Denken Sie gründlich nach«, sagte der Mann. »Sind Sie sicher, dass Sie mir alles erzählt haben?«
»Ja«, schluchzte sie und wiegte die Leiche in den Armen. »Alles.«
»Sehr schön.« Der Mann saß einen Augenblick ganz still da. Dann lachte er leise in sich hinein. »Moon pie. Wie eklig.« Schließlich erhob er sich und ging langsam zu dem Stuhl hinüber, auf dem June an den Antragsformularen gearbeitet hatte. Er betrachtete die Formulare kurz, während er die Pistole in den Hosenbund steckte. Dann griff er nach der halb geleerten Colaflasche, schüttete den Inhalt in einen Blumentopf und brach mit einem scharfen Knacken den Hals an der Tischkante ab.
Er wandte sich ihr zu, die Flasche auf Hüfthöhe vorgestreckt. June starrte auf den scharfkantigen Flaschenhals, auf das Glas, das im Schein der Lampen funkelte.
»Aber ich habe Ihnen doch alles gesagt«, flüsterte sie.
»Ich verstehe schon«, sagte er und nickte mitfühlend. »Trotzdem, man muss sichergehen.«