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Neun Stockwerke und exakt siebenundfünfzig Meter unterhalb von Dr. Felders Tisch im großen Lesesaal hörte Special Agent Aloysius Pendergast gespannt dem steinalten bibliophilen Rechercheur namens Wren zu. Sollte Wren einen Vornamen haben, so kannte ihn niemand, auch Pendergast nicht. Wrens gesamte Lebensgeschichte – wo er wohnte, woher er stammte, was genau er jede Nacht und die meisten Tage in den tiefsten Untergeschossen der Bibliothek trieb – war ein Rätsel. Nach den vielen Jahren ohne Sonnenlicht hatte seine Haut die Farbe von Pergament angenommen, und er roch ein wenig nach Staub und Buchbinderleim. Seine Haare standen ihm wie eine Aureole vom Kopf ab, die Augen waren so schwarz und leuchtend wie die eines Vogels. Ungeachtet der exzentrischen äußeren Erscheinung besaß Wren allerdings zwei Talente, die Pendergast mehr als alle anderen schätzte: einzigartige Recherchefähigkeiten sowie eine profunde Kenntnis der scheinbar unerschöpflichen Bestände der New Yorker Stadtbibliothek.

Jetzt, auf einem riesigen Stapel von Papieren wie ein strubbeliger Buddha sitzend, redete Wren schnell und lebhaft und unterstrich seine Worte mit jähen, schroffen Gesten. »Ich habe ihren Stammbaum gefunden«, sagte er. »Habe ihn sehr sorgfältig zurückverfolgt, hypocrite lecteur. Was gar nicht so leicht war. Die Familie scheint sich nämlich größte Mühe gegeben zu haben, Details ihrer Abstammungslinie geheim zu halten. Dem Herrn sei Dank, dass es die Heiligenstadt-Aggregation gibt.«

»Die Heiligenstadt-Aggregation?«

Wren nickte knapp. »Dabei handelt es sich um eine weltweite Sammlung zur Familiengeschichtsforschung, die der Bibliothek in den 1980er Jahren von einem recht exzentrischen Ahnenforscher geschenkt wurde, der aus Heiligenstadt in Deutschland stammt. Eigentlich wollte die Bibliothek die Sammlung nicht ankaufen, aber als der Sammler auch noch mehrere Millionen spendete, damit die Sammlung, äh, ausgestellt wird, wurde sie angekauft. Natürlich wurde sie sofort in einen tiefen, dunklen Winkel des Museums verbannt. Aber Sie wissen ja, was tiefe, dunkle Winkel für mich sind.« Wren keckerte und versetzte dem einen Meter zwanzig hohen Stapel aus Computerausdrucken, der neben ihm stand, einen freundlichen Klaps. »Die Sammlung ist besonders umfassend, was deutsche, österreichische und estnische Familien betrifft – was sich als enorm hilfreich erwies.«

»Das ist ja höchst interessant«, sagte Pendergast mit kaum verhohlener Ungeduld. »Aber vielleicht wollen Sie mich über Ihre Entdeckungen aufklären.«

»Natürlich. Aber«, hier hielt der kleine Wren inne, »ich fürchte, es wird Ihnen nicht gefallen, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Pendergast kniff ganz leicht die Augen zusammen. »Meine Vorlieben sind ohne Belang. Details, bitte.«

»Gewiss, gewiss!« Wren hatte sichtlich Spaß an der Sache und rieb sich die Hände. »Man lebt ja doch für die Details!« Er gab dem Turm mit den Computerausdrucken noch einen väterlichen Klaps. »Doktor Wolfgang Fausts Mutter war Helens Urgroßmutter. Die Abstammung ist wie folgt: Helens Mutter Leni heiratete András Esterházy, der zufällig ebenfalls Arzt war. Helens Eltern sind schon vor einiger Zeit gestorben.« Er machte eine Pause. »Wussten Sie übrigens, dass Esterházy ein sehr alter und adliger ungarischer Name ist? Während der Herrschaft der Habsburger …«

»Wollen wir uns die Geschichte des Habsburger Reiches vielleicht für ein andermal aufsparen?«

»Gern.« Wren zählte die Details an seinen langen, gelben Fingernägeln ab. »Helens Großmutter war Mareike Schmid, geborene von Fuchs. Wolfgang Faust war Mareikes Bruder. Die gemeinsame Verwandte war Helens Urgroßmutter, Klara von Fuchs. Beachten Sie die matrilineare Folge.«

»Sprechen Sie weiter«, sagte Pendergast.

Wren breitete die Hände aus. »Mit anderen Worten, Doktor Wolfgang Faust, Kriegsverbrecher, SS-Arzt in Dachau, Nazi-Flüchtling in Südamerika, war der Großonkel Ihrer Frau.«

Pendergast verzog keine Miene.

»Ich habe hier mal einen kleinen Stammbaum aufgezeichnet.«

Pendergast nahm das vollgekritzelte Blatt Papier, faltete es und steckte es ein, ohne einen Blick darauf zu werfen.

»Wissen Sie, Aloysius …« Wren zögerte weiterzusprechen.

»Ja?«

»Nur dieses eine Mal wünsche ich mir fast, dass meine Recherche nichts ergeben hätte.«