20

Corrie Swanson hatte bei Google Alert das Stichwort »Aloysius Pendergast« eingegeben. Um zwei Uhr nachts, als sie ihren Laptop hochfuhr und ihre E-Mails abfragte, sah sie, dass sie einen Treffer hatte. Es handelte sich um ein obskures Dokument, die Abschrift einer gerichtlichen Untersuchung, die in einer Ortschaft namens Cairn Barrow, Schottland, stattgefunden hatte. Zwar lag die Untersuchung schon einige Wochen zurück, aber die Abschrift war erst heute online gestellt worden.

Während sie den in trockener Juristensprache verfassten Text las, überkam sie allmählich ein Gefühl vollkommenen Unglaubens. Die Abschrift enthielt weder einen Kommentar noch eine Analyse, ja nicht einmal ein Fazit, sondern war lediglich die Wiedergabe der Aussagen verschiedener Zeugen im Zusammenhang mit einem Jagdunfall in irgendeinem Moor im schottischen Hochland. Ein furchtbarer, völlig unglaubwürdiger Vorfall.

Sie las den Text wieder und wieder und noch einmal, wobei sich ihr Gefühl der Irrealität jedes Mal steigerte. Ganz klar, diese seltsame Erzählung war nur die Spitze des Eisbergs, die wahre Geschichte lag unter Wasser. Nichts davon ergab Sinn. Corries Gefühle wandelten sich. Erst zweifelte sie, dann kam ihr alles irreal vor, und schließlich empfand sie eine angstvolle Verzweiflung. Pendergast, erschossen bei einem Jagdunfall? Unmöglich.

Mit ein wenig zittrigen Fingern zog sie ihr Notizbuch aus der Handtasche und schlug eine Telefonnummer nach, zögerte, dann fluchte sie leise und wählte die Nummer. Es war D’Agostas Privatnummer, deshalb würde er nicht gerade erfreut sein, zu dieser Stunde angerufen zu werden, aber scheiß drauf, der Bulle hatte sie nicht zurückgerufen, er hatte sein Versprechen, sich um die Sache zu kümmern, nicht eingehalten.

Wieder fluchte sie laut, lauter diesmal, weil sie sich verwählt hatte und nochmals wählen musste.

Das Telefon läutete wohl fünfmal, dann meldete sich eine Frauenstimme. »Hallo?«

»Ich möchte mit Vincent D’Agosta sprechen.« Sie hörte selbst, wie ihre Stimme zitterte.

Stille. »Mit wem spreche ich?«

Corrie atmete tief durch. Wenn sie nicht wollte, dass die Frau auflegte, sollte sie am besten ruhig Blut bewahren. »Ich heiße Corrie Swanson. Ich möchte gern mit Lieutenant D’Agosta sprechen.«

»Der Lieutenant ist nicht zu Hause«, lautete die kühle Antwort. »Möchten Sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen?«

»Richten Sie ihm bitte aus, er soll mich anrufen. Corrie Swanson. Er hat meine Nummer.«

»Und in welcher Angelegenheit?«

Sie holte tief Luft. Auf D’Agostas Frau, Freundin oder mit wem immer sie da sprach, wütend zu reagieren, wäre sicherlich wenig hilfreich. »Agent Pendergast. Ich versuche etwas über Pendergast herauszufinden«, sagte sie und fügte hinzu: »Ich habe gemeinsam mit ihm in einem Fall ermittelt.«

»Agent Pendergast ist ums Leben gekommen. Tut mir leid.«

Allein schon, dass sie den Satz hörte, brachte Corrie zum Verstummen. Sie versuchte, ihre Stimme wiederzufinden. »Wie denn?«

»Bei einem Jagdunfall in Schottland.«

Na bitte. Die Bestätigung. Sie versuchte, sich eine passende Erwiderung auszudenken, aber sie hatte eine Art Filmriss. Warum hatte D’Agosta sie nicht angerufen? Aber es hatte keinen Sinn, sich weiter mit dieser Person zu unterhalten. »Hören Sie, sagen Sie dem Lieutenant, er soll mich anrufen. Umgehend.«

»Ich werde es ihm ausrichten«, lautete die kühle Antwort.

Dann hatte die Frau aufgelegt.

Corrie sackte auf dem Stuhl zusammen und starrte auf den Computerbildschirm. Die ganze Geschichte war verrückt. Was sollte sie jetzt machen? Plötzlich fühlte sie sich beraubt, als habe sie ihren Vater verloren. Und sie konnte mit niemandem darüber sprechen, mit niemandem trauern. Ihr Vater befand sich hundert Meilen entfernt, in Allentown, Pennsylvania. Auf einmal fühlte sie sich mutterseelenallein.

Und während sie immer noch auf den Computerbildschirm starrte, klickte sie auf den Link zur Website über Pendergast, die sie liebevoll unterhielt.

www.agentpendergast.com

Schnell, fast mechanisch, schuf sie einen Frame mit dickem schwarzem Rand und begann, darin zu schreiben.

Wie ich soeben erfahren habe, ist Agent P. – Special Agent A. X. L. Pendergast – bei einem grotesken, tragischen Unfall ums Leben gekommen. Das ist furchtbar. Ich kann kaum glauben, dass es stimmt. Ich kann nicht glauben, dass sich die Erde weiterdrehen kann, ohne dass er darauf wandelt.

Es geschah auf einem Jagdausflug in Schottland …

Aber noch während Corrie den Nachruf schrieb und dabei ihre Tränen unterdrückte, setzten sich allmählich wieder die surrealen Aspekte der Geschichte in ihrem Kopf fest. Und zum Schluss, als sie den Text verfasst hatte und abschickte, fragte sie sich, ob sie eigentlich selbst glaubte, was sie da eben geschrieben hatte.