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Boston, Massachusetts
Der Mann mit den eingesunkenen Augen und dem nachmittäglichen Bartschatten schlurfte im Schatten des John-Hancock-Towers über den Copley Square. Abgesehen von kurzen Blicken auf die vorüberfahrenden Autos ließ er niedergeschlagen den Kopf hängen. Die Hände waren tief in den Taschen seines schmuddeligen Regenmantels vergraben.
Er bog in die Dartmouth Street ein und betrat die U-Bahn-Station Copley. Er passierte die Schlange wartender Fahrgäste, die elektronische Smart-Cards kauften, trottete die Betontreppe hinunter, blieb stehen und schaute sich um. Vor der gekachelten Wand rechts von ihm stand eine Reihe von Bänken, auf die er zusteuerte und an deren äußerstem Ende er Platz nahm. Dort blieb er sitzen, regungslos, die Hände immer noch in den Taschen seines Regenmantels vergraben, und starrte ins Leere.
Einige Minuten darauf kam ein anderer Mann herangeschlendert. Ein größerer Unterschied war kaum denkbar. Der Mann war groß und schlank, trug einen gut sitzenden Anzug und einen Burberry-Trenchcoat. In einer Hand hielt er einen ordentlich gefalteten Boston Globe, in der anderen Hand einen straff zusammengerollten schwarzen Regenschirm. Ein grauer Filzhut verbarg sein Gesicht. Das einzige besondere Kennzeichen war ein merkwürdiges Muttermal unter dem rechten Auge. Er ließ sich neben dem Obdachlosen auf der Bank nieder, schlug die Zeitung auf und begann, einen Artikel zu lesen.
Als quietschend ein Zug der Green Line einfuhr, ergriff der Mann mit dem Filzhut das Wort. Er sprach leise, verdeckt vom Lärm des Zuges und ohne den Blick von der Zeitung zu heben.
»Legen Sie die Art des Problems dar«, sagte er. Er sprach Englisch mit ausländischem Akzent.
Mit gesenktem Kopf antwortete der Obdachlose: »Es geht um diesen Pendergast. Mein Schwager. Er hat die Wahrheit herausgefunden.«
»Die Wahrheit? Die ganze?«
»Noch nicht. Aber er wird es. Er ist ein äußerst befähigter und gefährlicher Mensch.«
»Was genau weiß er?«
»Er weiß, dass das, was in Afrika passiert ist, die Tötung durch den Löwen, Mord war. Er weiß alles über das Projekt Aves. Und er weiß«, Esterhazy zögerte, »Bescheid über Slade und Longitude Pharmaceuticals, die Familie Doane und Spanish Island.«
»Ah ja, Spanish Island«, sagte der Mann. »Das ist etwas, was auch wir gerade erst erfahren haben. Wir wissen jetzt, dass der Tod von Charles Slade vor zwölf Jahren ein raffinierter Schwindel war und dass Slade bis vor sieben Monaten noch lebte. Das sind höchst unglückselige Nachrichten. Warum haben Sie uns diese Dinge nicht mitgeteilt?«
»Ich hatte doch auch keine Ahnung«, log Esterhazy so nachdrücklich er konnte. »Ich schwör’s Ihnen, ich habe nichts davon gewusst.« Er musste einfach den Geist wieder in die Flasche zurückbefördern, ein für allemal, sonst war er so gut wie tot. Als ihm auffiel, dass er die Stimme ein wenig gehoben hatte, senkte er sie wieder. »Pendergast hat das alles herausgefunden. Und das, was er noch nicht weiß, wird er bestimmt auch noch in Erfahrung bringen.«
»Pendergast.« Der Ton des Mannes mit dem Filzhut bekam einen skeptischen Klang. »Warum haben Sie ihn nicht umgebracht? Sie haben es uns versprochen.«
»Ich habe es versucht – mehrmals.«
Der Mann mit dem Filzhut antwortete nicht. Stattdessen blätterte er die Zeitung um und las weiter.
Nach mehreren Minuten meldete er sich erneut zu Wort. »Wir sind enttäuscht von Ihnen, Judson.«
»Tut mir leid.« Esterhazy spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.
»Vergessen Sie niemals, wo Sie herkommen. Sie verdanken uns alles.«
Er nickte stumm. Sein Gesicht brannte vor Scham – Scham über seine Angst, seine Unterwerfung, seine Abhängigkeit, sein Versagen.
»Ist diesem Pendergast die Existenz unserer Organisation bekannt?«
»Noch nicht. Aber er ist wie ein Pitbull. Er gibt nicht auf. Sie müssen ihn ausschalten. Wir können es uns nicht leisten, ihn frei herumlaufen zu lassen. Ich sage Ihnen, wir müssen ihn töten.«
»Sie können es sich nicht leisten, ihn frei herumlaufen zu lassen«, erwiderte der Mann. »Und Sie müssen mit ihm fertig werden – endgültig.«
»Gott weiß, ich habe es versucht!«
»Nicht angestrengt genug. Wie ermüdend, dass Sie annehmen, Sie könnten das Problem einfach bei uns abladen. Jeder Mensch hat eine Schwachstelle. Finden Sie seine, und nutzen Sie sie aus.«
Esterhazy spürte, dass er vor lauter Frust fast zitterte. »Sie verlangen das Unmögliche von mir. Bitte, ich brauche Ihre Hilfe.«
»Natürlich können Sie darauf zählen, jedwede Unterstützung zu bekommen, die Sie benötigen. Wir haben Ihnen bei Ihrem Pass geholfen, wir werden Ihnen wieder helfen. Mit Geld, Waffen, sicherem Unterschlupf. Und wir haben die Vergeltung. Aber Sie müssen sich selbst um diesen Mann kümmern. Die Erledigung dieser Angelegenheit – rasch und endgültig – würde viel dazu beitragen, unsere gute Meinung von Ihnen wiederherzustellen.«
Esterhazy ließ die Worte auf sich einwirken und schwieg einen Moment lang. »Wo liegt die Vergeltung?«
»In Manhattan. In der städtischen Marina an der 72. Straße.« Der Mann hielt inne. »New York … Dort lebt er doch, Ihr Agent Pendergast, oder?«
Die Frage kam derart überraschend, dass Esterhazy unwillkürlich den Blick hob und den Mann ansah.
Der widmete sich – anscheinend endgültig – erneut seiner Zeitungslektüre. Kurz darauf stand Esterhazy auf. Da ergriff der Mann noch einmal das Wort. »Haben Sie gehört, was mit den Brodies passiert ist?«
»Ja«, entgegnete Esterhazy leise. War die Frage als verschleierte Drohung gemeint?
»Keine Sorge, Judson«, fuhr der Mann fort. »Wir werden uns gut um Sie kümmern. So wie wir es stets getan haben.«
Als erneut ein Zug kreischend in den U-Bahnhof einfuhr, wandte er sich wieder seiner Zeitung zu und sagte nichts mehr.