KAPITEL LXV
Fulminacci verließ das Laboratorium mit entschiedenen Schritten und ging auf den Festplatz zu, inständig hoffend, dass sein Freund Melchiorri gut aufpasste und die Augen stets offenhielt. Es passte ihm gar nicht, die Bewachung Beatrices jemand anderem zu überlassen, auch wenn er einsah, dass die vom Großmeister geplante Vorgehensweise die einzige Erfolg versprechende war.
Falls ihre Mutmaßungen sich als richtig herausstellten, würde er in Kürze zum dritten Mal innerhalb weniger Tage seinem Feind, dem furchtbaren Skorpion, gegenüberstehen, und wenn ihre Klingen aufeinanderkrachten, sollte Beatrice so weit wie möglich vom Schauplatz des Kampfes entfernt sein.
Der Maler legte keinen gesteigerten Wert darauf, noch einmal die Waffen mit diesem einzigartigen Fechter zu kreuzen, und wenn es nur nach ihm gegangen wäre, hätte er lieber viele Meilen zwischen sich und den Meuchelmörder gebracht. Aber wie die Dinge standen, konnte die Abrechnung nicht länger aufgeschoben werden. Mit diesem entschlossenen Gedanken bahnte er sich einen Weg durch die Schar der Gäste und hielt nach dem französischen Hauptmann Ausschau.
Unter den Geladenen machte sich gerade eine neue Welle freudiger Erwartung breit, denn gleich würden die Feuerwerkskörper entzündet werden, die, nach allem, was man hörte, ein Schauspiel von unvergleichlicher Schönheit an den Himmel zaubern sollten. Das aufgeregte Gewimmel erleichterte die Suche des Malers nicht gerade, der den Eindruck hatte, ständig denselben Leuten zu begegnen.
Alle strömten zu den Balustraden mit Blick auf das Flussufer hin, von denen aus man das pyrotechnische Spektakel am besten verfolgen konnte, und Fulminacci musste sehr energisch werden, um voranzukommen. Die erste Salve von Böllern ging genau in dem Moment los, als er den Musketier am Geländer einer kleinen Seitenterrasse neben Bischof de Simara stehen sah.
Mit einem letzten kräftigen Ellbogenstoß, der eine beleibte Matrone beinahe umwarf, erreichte Fulminacci die Terrasse.
Er konnte den Hauptmann jedoch nicht gleich ansprechen, da er in ein Gespräch mit dem Geistlichen vertieft war. Sosehr ihn die Ungeduld plagte, zumal die Zeit immer knapper wurde, wusste er doch, dass es im Hinblick auf seine gesellschaftliche Stellung und seine Rolle in dieser vertrackten Angelegenheit nicht ratsam wäre, den ehrsüchtigen Offizier und vor allem den Bischof, der als äußerst reizbar galt, durch eine Überschreitung seiner Befugnisse gegen sich aufzubringen.
Eine weitere Verzögerung drohte durch die Ankunft von Kardinal Azzolini, der in Begleitung eines jungen, aufgeweckt wirkenden Mannes war, doch Fulminacci konnte nun nicht länger warten und trat mit kühner Entschlossenheit vor.
Eine brüske, herrische Handbewegung de Simaras genügte, damit ihm die Worte im Halse stecken blieben, und der strenge Blick, der die Geste begleitete, überzeugte ihn endgültig davon, dass es möglicherweise doch keine schlechte Idee war, noch ein Weilchen zu warten.
Obwohl er so abrupt zum Schweigen gebracht worden war, schickte ihn niemand weg, und so konnte er dem Gespräch zwischen den geistlichen Herren beiwohnen.
»Unserem unschätzbaren Bellariva hier ist es gelungen, endlich das Geheimnis zu lüften, das uns seit langem beschäftigt«, sagte der Kardinal und deutete auf den jungen Mann an seiner Seite. »Wohlan, Raul, berichtet dem Bischof, was Ihr entdeckt habt. Übrigens werde auch ich die ersehnte Enthüllung zum ersten Mal hören, denn ich habe Bellariva sofort hierhergeführt, als er im Palast eintraf. Nur zu, zaudert nicht länger.«
Der junge Geistliche, der bis dahin mit gesenktem Kopf dagestanden hatte, blickte auf und zeigte einen konzentrierten Gesichtsausdruck, der ihn auf einmal viel reifer erscheinen ließ. »Der Schlüssel zu dem Geheimnis liegt in einem Muttermal«, begann Bellariva, »und um darauf zu kommen, musste ich einen großen Teil des Archivs der Gesellschaft Jesu durchblättern. Einem Befund eines Chirurgen, der infolge eines Unfalls im Herbst des Jahres 1621 aufgesetzt worden war, habe ich schließlich entnommen, dass einer der damals in Paderborn lebenden Novizen ein großes Muttermal auf der Höhe der Leiste hatte. Sein Alter und die Zeit stimmten mit dem überein, was wir wussten.«
»Drückt Euch klarer aus, Bellariva«, sagte Azzolini ratlos, »ich kann Euch nicht folgen.«
»Euer Eminenz, erinnert Ihr Euch, wie die Leichen der ermordeten Jesuiten aufgefunden wurden?«
»Natürlich erinnere ich mich daran. Wie könnte man einen solch grauenhaften Anblick vergessen? Die Köpfe waren abgeschlagen, überall Blut…«
»Das ist aber nicht alles, Eminenz.«
»Jetzt reicht es mit dem Rätselraten, Bellariva!«
»Heilige Muttergottes, die Kutten!«, rief de Simara dazwischen.
»So ist es, Monsieur, die Kutten.«
»Bei allen Toten waren die Kutten hochgeschoben und die Beine entblößt worden. Der Mörder suchte nach einem Erkennungsmerkmal!«
»Richtig, Monsieur, das Merkmal, das Muttermal an der Leiste. Diese Information hat mich dazu veranlasst, meine Recherchen auf besondere körperliche Merkmale der Opfer beziehungsweise der noch lebenden Jesuiten auf der Liste zu konzentrieren. Mit ein wenig Geduld und viel Glück ist es mir gelungen, den Gesuchten zu bestimmen.«
»Sehr gut, Bellariva, doch nun sagt uns endlich, wer es ist.«
»Der Mann, den wir suchen, ist Pater August Wiedenmann.«
»Gott sei Dank!«, rief Azzolini aus. »Pater Wiedenmann lebt und ist wohlauf. Wir haben gesehen, wie er von Euren Musketieren gut beschützt wurde, de Simara.«
Hier konnte Fulminacci sich nicht länger zurückhalten.
»Verzeiht mir die Einmischung«, sagte er so ehrerbietig wie möglich, »aber ich glaube, ich weiß darüber noch mehr zu berichten.«
Die vier Männer sahen ihn an, als bemerkten sie seine Anwesenheit erst jetzt.
Er erzählte von der Vergiftung Pater Wiedenmanns und wie der Großmeister ihm das Leben gerettet hatte sowie von den Vermutungen, die er und Melchiorri über die Absichten des Skorpions angestellt hatten.
»… und deshalb glaube ich, dass der Skorpion in diesem Moment versucht, den Bernstein wieder in seinen Besitz zu bringen. Wir müssen sofort handeln!«
»Aber… Aber Pater Wiedenmann geht es gut?«, fragte Azzolini schwach.
»Ich glaube, er ist außer Gefahr, doch es hätte nicht viel gefehlt… Jedenfalls ist er jetzt in Sicherheit. Wir müssen so schnell wie möglich etwas unternehmen!«
»De la Fleur, begleitet Messer Sacchi«, sagte de Simara, der das Kommando übernahm. »Ich werde die Männer zusammenrufen lassen. Euer Eminenz, in Anbetracht dieser besonderen Umstände möchte ich Euch bitten, Euch zu Melchiorris Laboratorium zu begeben und nach Pater Wiedenmanns Gesundheitszustand zu sehen. Sobald ich kann, werde ich Euch Verstärkung schicken.«
Für die Einrichtung der Wunderkammer hatte die Königin persönlich den prächtigsten und schönsten Saal im ganzen Palast ausgewählt, ein Meisterwerk an sich, das vier Generationen generöser Fürsten sowie unzählige ausgezeichnete Künstler und Handwerker ausgeschmückt und einzigartig gemacht hatten.
Zwei versetzte Reihen übereinanderstehender Säulen mit Rundbögen umrahmten das imposante Eingangsportal, durch das man in einen geräumigen, mit vergoldetem Stuck verzierten Vorraum und schließlich in den Saal selbst gelangte. Der Fußboden aus glänzendem Marmor spiegelte die Kuppel wider, die den Raum beherrschte und ihn noch größer wirken ließ, als er ohnehin schon war. Zu diesem Eindruck trugen auch die von einem venezianischen Meister gemalten Fresken an der Decke, eine Allegorie der vier Kontinente, bei.
An der linken Saalseite führten drei monumentale Türen mit Pfosten und Sturzen aus schneeweißem Marmor in den inneren Teil des Gebäudes, während an der rechten zwei große Fenster einen weiten Blick über den Park boten.
Der Saal und die Ausstellung sollten erst nach Mitternacht für die Gäste geöffnet werden, nach dem Feuerwerk und vor dem großen Bankett, das in der ersten Etage des Palasts, im großen Ballsaal, stattfinden würde.
Während draußen die Feuerwerksraketen explodierten, wachte ein kleines, aber ausgewähltes Korps über die Wunderkammer und wartete darauf, dass der Skorpion versuchte, den Bernsteinschmuck zu entwenden, der in der Mitte des großen Raums zur Schau gestellt war.
Die Anweisungen des Kardinals waren sehr präzise gewesen, und Sergeant Bruyère befolgte sie gewissenhaft: den Saal diskret zu überwachen und sich bereitzuhalten, sofort Verstärkung zu rufen, sobald der Skorpion einzudringen versuchte.
Alles Quatsch!
Sergeant Bruyère war ein Veteran vieler Feldzüge und hatte dem Tod mehr als einmal ins Auge gesehen. Er wusste, wie weit ein Mann sich vorwagen würde, auch wenn ihn der Fieberwahn der Schlacht gepackt hatte. Er hatte zu oft die eisigen Felder Flanderns überquert, auf einen Wald von angelegten Bajonetten zu, während die Musketenkugeln wie Hornissen um ihn herumschwirrten. Er hatte an Scharmützeln, Belagerungen und Plünderungen teilgenommen. Er wusste, wie weit ein Mann gehen konnte.
Der Skorpion würde nicht kommen, weder jetzt noch später.
Sergeant Bruyère hatte zu viel Respekt vor einem so fähigen Gegner, als dass er ihn für dumm genug hielt, in diese Falle zu tappen.
Das Wachkorps im Inneren des Saals bestand aus sechs erfahrenen Musketieren, und außerhalb, im Park verteilt, warteten weitere zwei Dutzend Soldaten. Nicht einmal ein Verrückter hätte sich auf so etwas eingelassen, geschweige denn der legendäre Auftragsmörder, der Europa seit fast einem halben Jahrhundert in Angst und Schrecken versetzte.
Sergeant Bruyère war sicher, dass es wieder einmal eine nutzlos vertane, langweilige Nacht werden würde, in der er vergeblich auf jemanden wartete, der niemals kommen würde.
»Renard, bist du noch wach?«, fragte er, ohne die Stimme zu senken, da er überzeugt war, dass sie nur ihre Zeit verschwendeten.
»Zu Befehl, Sergeant«, antwortete der Musketier verdrießlich.
Plötzlich hörten sie einen dumpfen Schlag aus dem Vorraum.
Einer von diesen Mistkerlen ist eingeschlafen, dachte Bruyère. Kann es ihm kaum verübeln.
Sein Verständnis für den Untergebenen hinderte ihn aber nicht daran, mit langen Schritten auf den Urheber des Geräuschs zuzugehen, um dem Pechvogel den Kopf zu waschen.
Der Soldat lehnte am Sockel einer Säule aus rosafarbenem Marmor, den Kopf im Nacken, die Arme schlaff an den Seiten.
Leise fluchend marschierte Bruyère zu ihm hin und bereitete in Gedanken schon die Standpauke vor, die er ihm halten würde. Zuerst aber versetzte er ihm einen ordentlichen Tritt in den Hintern.
»Aufgestanden, Faulpelz! Ich zeig dir gleich, was mit Drückebergern wie dir passiert.«
Der Soldat reagierte nicht und kippte nur seitlich auf den spiegelnden Marmorboden.
Bruyère beugte sich über ihn, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn kräftig.
Der Untergebene reagierte immer noch nicht. Sein Kopf schaukelte vor und zurück wie bei einer Marionette.
»Bei allen Teufeln!«, fluchte der Sergeant. »Der Mann ist bewusstlos! Renard, Renard! Komm her, hier stimmt etwas nicht!«
Sogleich näherten sich die Tritte von Stiefeln. Die anderen Musketiere am entgegengesetzten Ende des Saals rührten sich nicht vom Fleck, denn sie hatten strikten Befehl, ihren Posten nur mit Erlaubnis des Kommandanten zu verlassen.
»Was ist los?«, fragte Renard seinen Vorgesetzten. »Merde! Battiston! Ist er ohnmächtig geworden?«, rief er, als er den reglosen Kameraden sah.
»Sieh mal, er hat einen blauen Fleck hier am Nacken«, sagte Bruyère. »Den kann er sich nicht selbst beigebracht haben, jemand hat ihn niedergeschlagen.«
»Aber das heißt ja…«
»Das heißt, dass unser Mann hier ist! Brissière, schlag Alarm! Du, Renard, bleibst bei mir. Wenn er hier reingekommen ist, kann er sich nicht in Luft aufgelöst haben. An Geister glaube ich nicht. Hände an die Waffen und Augen auf, wir durchsuchen den Saal. Wer ihn sieht, ruft die anderen.«