KAPITEL VI

 

Nachdem er das Collegium Romanum verlassen hatte, begab sich Fulminacci zum Stadtteil Trastevere, wo er wohnte, um dort sein Stammlokal aufzusuchen und zu Mittag zu essen.

Pater Kirchers Reaktion auf den Bernstein hatte ihn verblüfft und nachdenklich gemacht. Ein solches Verhalten schien ihm nicht zu der rationalen Distanziertheit des Gelehrten zu passen, die er bisher kennengelernt hatte.

Was ihn stets an Kircher fasziniert hatte, war gerade sein unerschütterlicher Gleichmut gewesen, den er nur aufgab – und auch dann nur zum Teil –, wenn es um wissenschaftliche Experimente, Vermessungen, kosmologische Theorien und anatomische Forschungen ging.

Ihn so aufgewühlt, ja entsetzt zu sehen, enthüllte ihm eine Seite von Kirchers Wesen, die er nie vermutet hätte.

Fulminacci griff auf eine der Binsenweisheiten zurück, die das geistige Erbe der schlichten Gemüter sind, und sagte sich, dass man seine Mitmenschen niemals richtig kannte, auch wenn man noch so lange Umgang mit ihnen hatte. Und sein Umgang mit dem gelehrten Jesuiten konnte weder beständig noch lang anhaltend genannt werden.

In diese Gedanken versunken fand sich der Maler plötzlich vor dem Palazzo Mattei wieder, direkt am Eingang zum Viertel von Sant’Angelo, dem Ghetto von Rom.

Der Anblick der abweisenden Fassade des Palazzos genügte, um ihn in schlechte Laune zu versetzen.

Die Mattei waren seit Jahrhunderten die Wächter des Ghettos; sie hatten die Schlüssel inne, und ihnen oblag die Aufgabe, jeden Abend beim Ave-Maria die Tore des Viertels zu schließen.

Im vergangenen Jahr hatte das Oberhaupt der mächtigen Familie ihn beauftragt, eines dieser Tore mit Fresken zu schmücken, da die ursprüngliche Bemalung schon zweihundert Jahre alt und irreparabel beschädigt war.

Fulminacci hatte sich mit Eifer an die Arbeit gemacht. Seine auf Pappe ausgeführten Entwürfe waren vom Auftraggeber gebilligt worden, und im Laufe weniger Wochen hatte er das Fresko vollendet gehabt.

Als er jedoch den Lohn für seine Arbeit erhalten sollte, war es plötzlich zu Schwierigkeiten gekommen. Nach Meinung des Familienoberhaupts waren die Farben zu leuchtend, die Perspektive fand er verzerrt und die menschlichen Figuren unnatürlich in die Länge gezogen. Kurzum, das alte Problem. Es hatte endlose Debatten gegeben, aber wie immer in solchen Fällen hatten die Adeligen den Sieg davongetragen und ihm am Ende nur die Hälfte der vereinbarten Summe bezahlt.

Wieder einmal hatte die Moral der Epoche triumphiert: Die großen Fische fressen die kleinen.

Es heißt auch, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Neben der finanziellen Einbuße musste der Maler auch noch diesen Lump von Anwalt bezahlen, der seine Sache mit so empörend schlechtem Ausgang vertreten hatte.

Fulminacci unterdrückte mit Mühe die Wut, die jedes Mal in ihm hochkochte, wenn er an diesem Haus vorbeikam, setzte seinen Weg durch die Ottavia–Arkaden fort, wo mit großer Lebhaftigkeit der Fischmarkt abgehalten wurde, und betrat die gewundenen und übel riechenden Gassen des Ghettos.

Die Giudecca, wie die Römer den Stadtteil Sant’Angelo nannten, war das armseligste Viertel der Stadt. Da sie keine unbeweglichen Güter besitzen durften, mussten die Juden in baufälligen Hütten hausen, obwohl die Gemeinde keineswegs Not leidend war. Eine Generation nach der anderen wurden die Familien der Kinder Israels in dicht an dicht stehenden Bruchbuden zusammengepfercht, wofür sie obendrein alles andere als bescheidene Mieten berappen mussten, auch wenn die Stadtoberen in regelmäßigen Abständen versuchten, einen Höchstbetrag festzusetzen.

Diese Zustände wurden noch dadurch verschlimmert, dass das Viertel im niedrigst gelegenen Teil der Stadt lag und die Hütten des jüdischen Ghettos jedes Mal, wenn der Tiber aufgrund starker Regenfälle über die Ufer trat, in den Fluten standen.

Keine angenehme Situation also. Dennoch blühte die Gemeinde, soweit man das trotz der wiederkehrenden Wellen von Antisemitismus sagen konnte, und ging ihren vielfältigen Gewerben und Geschäften nach. Es kam nämlich vor, dass selbst die reichsten und mächtigsten Familien Roms sich wegen eines Kredits an die jüdischen Bankiers wenden mussten, damit sie ihren verschwenderischen Lebensstil fortsetzen konnten.

Diese Überlegungen brachten den Maler auf eine neue Idee, an die er zuerst nicht gedacht hatte, weil er so versessen darauf gewesen war, den Anhänger an Pater Kircher zu verkaufen.

Unter den vielen Geschäften, welche die Juden Roms betrieben, war das florierendste zweifellos die Pfandleihe. Es gab nur wenige Römer, die im Laufe ihres Lebens nicht früher oder später einmal bei einem dieser erdrückend engen Läden anklopften, egal, ob Adelige oder Leute aus dem Volk, Kirchenfürsten oder Fuhrknechte. In der jüngeren Vergangenheit hatten sogar einige Päpste auf die Dienste dieser besonderen Handelsunternehmen zurückgreifen müssen.

Auch der Maler war schon bei mehr als einer Gelegenheit durch diese engen Gassen gestreift und hatte ein Bündel armseligen Inhalts dabeigehabt, für den er ein wenig Bargeld zu bekommen hoffte.

Von den zahlreichen Pfandleihern, die ihre Schaufenster in diesen übervölkerten Straßen aneinanderreihten, erschien ihm Piperno stets als der ehrlichste, weshalb er jetzt auf den winzigen Platz zuhielt, an dem sich dessen Geschäft befand.

Piperno empfing ihn mit dem gewohnten Lächeln und dem rituellen Gruß seiner Religion. Er war ein kleiner, rundlicher Mann, der in seiner liebenswürdigen Art dafür sorgte, dass seine Kunden sich auch unter den nicht eben vergnüglichen Umständen, die sie zu ihm führten, wohlfühlten.

Ohne lange Vorrede zeigte der Maler ihm das Schmuckstück und fragte ihn, ob er daran interessiert sei und wie viel es wert sei. Dabei versäumte Fulminacci es nicht, darauf hinzuweisen, dass der Gegenstand ein altes Familienerbstück sei, von dem er sich nur unter großem Bedauern trenne.

Piperno begutachtete den Anhänger mit großer Aufmerksamkeit und unverkennbarem Interesse, doch als es ans Verhandeln ging, verhielt er sich plötzlich ausweichend.

»Ein ungewöhnliches Stück, keine Frage«, begann er, »allerdings sind die Preise für Bernstein im Moment im Keller, muss ich Euch sagen. Es gibt kaum Nachfrage, versteht Ihr? Ich handele nur selten damit. Im Norden ist der Markt dafür größer. Wenn Ihr nach Mailand oder Venedig gingt, könntet Ihr bestimmt ein gutes Angebot dafür bekommen, aber hier in Rom… Hier werden andere Kostbarkeiten verlangt.«

»Kommt, Piperno, treibt keine Spielchen mit mir. Ihr wisst so gut wie ich, dass dieses Schmuckstück einen Haufen Geld wert ist. In Mailand habe ich für mehrere Goldschmiede gearbeitet, die Fassungen für Bernsteine herstellten, und ich weiß genau, dass es seltene und kostbare Steine sind, die bei den Damen sehr begehrt sind. Versucht nicht, mich übers Ohr zu hauen, sondern macht mir ein vernünftiges Angebot. Ich will nicht gierig erscheinen, aber auch nicht übervorteilt werden!«

»Aber nein, Signore, wo denkt Ihr hin! Es ist nur so, dass ich mit Bernstein nicht viel Erfahrung habe. Ich wüsste nicht, was ich Euch anbieten sollte, vor allem in Anbetracht der Schwierigkeiten, die ich beim Weiterverkauf hätte.«

Das Stirnrunzeln des Malers, dessen geringe Geduld schon beinahe erschöpft war, veranlasste den Pfandleiher, sich auf eine Verzögerungstaktik zu verlegen.

»Ich könnte Euch entgegenkommen, indem ich ein bisschen bei meinen Kollegen herumfrage. Gut möglich, dass einer von ihnen sich mehr für diese Art von Preziosen interessiert. Kommt morgen zwei Stunden vor Sonnenuntergang wieder, dann werde ich sicher Neuigkeiten für Euch haben.«

Wenig überzeugt von der Rede des Mannes verließ Fulminacci den Laden. Piperno kannte sich normalerweise auf jedem Gebiet gut aus, besonders, wenn es um Kunsthandwerk von einigem Wert ging, ob das byzantinische Ikonen waren oder türkischer oder maurischer Schmuck. Es erschien ihm daher höchst fragwürdig, dass der Pfandleiher sich mit der Schätzung eines Schmuckstücks aus Bernstein so schwertat, was ein zugegeben eher seltenes, aber keineswegs unbekanntes Material in der Ewigen Stadt war.

Es musste noch etwas anderes dahinterstecken.

Höchstwahrscheinlich hatte der gewitzte Händler den unschätzbaren Wert des Anhängers erkannt und sich gesagt, dass geringes Interesse zu zeigen die beste Strategie war, um ihn für einen Apfel und ein Ei zu erwerben.

Die alte Geschichte also: In Rom wie in Mailand und vermutlich auch in Prag, Paris oder London durfte ein armer Christenmensch sich nie den Luxus erlauben, in seiner Wachsamkeit nachzulassen, wenn er nicht von irgendeinem Schlaumeier hereingelegt werden wollte.

Deshalb musste er sich nun gut überlegen, welcher Taktik er sich bedienen wollte.

Fulminacci hatte die kleine Piazza noch nicht überquert, als der Pfandleiher Piperno bereits zur Tat schritt. Seine Miene hatte den gewohnten gutmütigen Ausdruck verloren und war ernst vor Sorge, als er an der Treppe, die ins obere Stockwerk führte, nach seinem zwölfjährigen Sohn Aronne rief. In seiner Stimme, die sonst so melodiös war, dass sie fast schon einfältig klang, schwang ein schriller, krächzender Ton mit, der so gar nicht zu seinem Charakter passte.

Aronne kam mit dem Ungestüm der Jugend die enge, steile Treppe hinuntergerannt.

»Aronne, erinnerst du dich an den Mann von heute Vormittag?«, fragte Piperno.

»Ja, Vater, Ihr meint den, der zusammen mit diesen anderen gekommen ist, alle in dunklen Umhängen, nicht wahr?«

»Erinnerst du dich noch, wo er wohnt?«

»Ja, Vater, im Gasthaus zur Gans, dort hinten bei…«

»Ja, ja, genau«, unterbrach ihn sein Vater. »Du musst etwas für mich erledigen. Geh zu dieser Herberge und benachrichtige den Mann, dass jemand gekommen ist, um mir das Schmuckstück anzubieten, über das wir gesprochen haben. Kannst du dir das merken?«

»Ja, Vater, ich soll zur Gans gehen und dem großen alten Mann sagen, dass jemand gekommen ist und dir das Schmuckstück angeboten hat.«

»Sehr gut, und nun lauf. Trödel nicht auf der Straße herum wie sonst, und setz die Kappe mit dem gelben Flicken auf, denn wenn die Wachen einen Juden ohne Erkennungszeichen sehen, kriegen wir Ärger. Und komm gleich wieder zurück, verstanden?«

Der Junge setzte seine Kappe auf und sauste davon wie eine Musketenkugel.

Piperno wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn, obwohl die Temperatur in dem feuchten Laden alles andere als hoch war, und hoffte, dass Aronne seine Sache gut machte.

Die Drohungen, die er erst vor wenigen Stunden von diesem großen, hageren Mann mit einem Gesicht wie eine ausgegrabene Leiche erhalten hatte, jagten ihm immer noch einen Schauer über den Rücken. Sosehr es ihm missfiel, einem Kunden wie dem Maler einen derart bösen Streich zu spielen, wusste er doch nur zu gut, dass er keine andere Wahl hatte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass dieser Fremde mit seiner Eskorte von Galgenvögeln gewiss sämtliche Geschäfte des Ghettos abgeklappert und auch seine Kollegen auf diese unverhohlene Art bedroht hatte. Wenn nicht er, Piperno, ihm die Information gegeben hätte, nach der er so energisch verlangte, hätte es ein anderer getan.

Leben und Besitz eines Juden in Rom hingen von jeher an einem seidenen Faden, auch wenn die Situation sich im Vergleich zum vorigen Jahrhundert verbessert hatte. Kein Einwohner des Ghettos durfte sich erlauben, die Mächtigen gegen sich aufzubringen, denn jeder falsche Schritt konnte mit der Beschlagnahmung seines Eigentums oder gar mit dem Tod bestraft werden.

Auch die Ermordung dieses Geistlichen am Morgen verhieß nichts Gutes. Piperno hoffte, dass der oder die Täter schnell gefasst wurden, da die Schergen sonst einen anderen Sündenbock finden mussten, und die Erfahrung lehrte, dass sie den gern unter den Juden suchten.

Fulminacci hatte unterdessen das Ghetto hinter sich gelassen, die Ponte Fabricio, auch Judenbrücke genannt, überquert und das Gassenlabyrinth des volkstümlichen Viertels Trastevere betreten.

Rom war auch schon zu jener Zeit eine lebhafte und laute Stadt, in der jedes Viertel seine Traditionen und Eigenarten pflegte, aber Trastevere… Trastevere war etwas ganz Besonderes.

Jahr für Jahr fielen Horden von Pilgern aus allen Ecken der Christenheit in Rom ein, manche, um eine Gnade zu erbitten, manche, um ein Gelübde einzulösen, und andere einfach, um die Ewige Stadt zu besichtigen, die Herrscherin eines zweitausendjährigen Reiches.

Fast alle fanden sie in Trastevere eine Unterkunft, wo man zwischen einer schier unglaublichen Vielzahl von Gasthäusern, Tavernen und Osterien für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel wählen konnte. Es gab keine Sprache, die in den wimmelnden Gassen des Viertels nicht zu hören war, und kein Volk, keine Physiognomie und keine Kultur, die nicht angemessen vertreten gewesen wären. Das Gastgewerbe bildete einen blühenden Wirtschaftszweig, und das schon seit vielen Jahrhunderten.

Die Bewohner von Trastevere reagierten auf diese Besucherinvasion mit dem für alle Römer typischen Unternehmungsgeist, weshalb in ihrem Stadtteil ein kosmopolitisches und zugleich volkstümliches Lüftchen wehte und er der lärmendste von allen war.

Das Gasthaus Zum Schwarzen Adler war eines der größten und ältesten am Ort. Stets laut und überfüllt, wurde es von morgens bis nachts von Pilgern, Kaufleuten und Abenteurern aus ganz Europa besucht, dazu natürlich von den Einheimischen, die am Ende ihres Arbeitstages gern dort einkehrten, um einen Krug Wein zu trinken.

Fulminacci nahm seine Mahlzeiten schon seit seiner Ankunft in Rom vor drei Jahren in diesem Lokal ein, weil er die Küche sehr zufriedenstellend fand. Weniger zufrieden dagegen zeigte sich Romoletto, der Wirt, mit dem der Maler in einem endlosen Streit über die Bezahlung seiner Rechnungen lag. Jedes Mal, wenn er in den großen Schankraum kam, wurde er von dem mürrischen Gastwirt mit lauten Beschimpfungen und Geldforderungen empfangen. Der Wortwechsel folgte einem bewährten Schema: Klagen und Vorwürfe auf der einen Seite, Entschuldigungen und Versprechungen auf der anderen.

Doch obgleich diese Querelen sich schon seit Anbeginn seines Aufenthalts in der Stadt abspielten, war ihm sein Kredit bei allem Keifen und Drohen nie endgültig gestrichen worden, wie es in Norditalien längst geschehen wäre. Dort hätte man ihn weniger lebhaft beschimpft und die Angelegenheit ruck, zuck vor dem Schuldgericht geklärt.

Zwar versuchte der Maler im Rahmen seiner Möglichkeiten, seine Schulden zu begleichen, aber das Geld reichte nie aus, und im Rechnungsbuch des Gastwirts war die Spalte der offenen Beträge unter dem Eintrag »Fulminacci« sehr viel länger als die der bezahlten.

Romoletto brüllte, drohte und verfluchte ihn, gab ihm aber weiter zu essen.

Eines der vielen Rätsel von Trastevere.

Auch an diesem Tag war er auf die gewohnte Tirade gefasst, als er die Locanda betrat. Diesmal hatte er jedoch ein Ass im Ärmel, mit dem er den Zorn seines Gläubigers zu besänftigen hoffte. Er würde Romoletto in einen ruhigen Winkel führen, ihm das Schmuckstück zeigen und versprechen, sämtliche offenen Posten zu begleichen, sobald es ihm gelungen war, es zu verkaufen.

Tatsächlich ging der Wirt, kaum hatte er einen Fuß in das Lokal gesetzt, mit der üblichen kämpferischen Haltung auf ihn los, doch die Heftigkeit seiner Wut machte den Maler sprachlos.

In all den Jahren ihrer Zwistigkeiten war der Wirt noch nie handgreiflich geworden. Diesmal jedoch stürmte der untersetzte Mann mit dem dicken Bauch auf ihn zu und wollte ihm mit der eindeutigen Absicht, ihn zu erwürgen, die Hände um den Hals legen.

Trotz seiner Verblüffung über diesen unerwarteten Angriff hatte Fulminacci keine Schwierigkeiten, den Wirt abzuwehren und seine Hände mit eisernem Griff festzuhalten.

Es vergingen einige Minuten, bis sich das Stimmengewirr ringsherum so weit gelegt hatte, dass er verstehen konnte, was Romoletto in seinem Zorn hervorstammelte.

»Du Schuft, du niederträchtiger Mistkerl«, brüllte er mit Schaum vor dem Mund und hervorquellenden Augen, »meine Tochter! Meine arme kleine Tochter!«

»Ganz ruhig, Romoletto, ganz ruhig«, redete der Maler auf ihn ein, »was ist mit deiner Tochter? Drück dich klar aus, mir reißt nämlich gleich der Geduldsfaden!«

»Mein Kind, meine kleine Tochter! Du hast sie zugrunde gerichtet! Sie war eine reine Blume, und du hast sie mir zerstört!«

Fulminacci hielt die Fäuste des Gastwirts weiter fest und sah sich in dem vollen Schankraum um, bis sein Blick auf die Gestalt von Rosetta fiel, Romolettos Tochter, die mit gesenkten Augen und beschämter Miene in einem Eckchen hockte. Eine deutliche Röte färbte ihre blühenden Wangen, sie hatte die Hände im Schoß gefaltet und erinnerte an eine der vielen Figuren von reuigen Sünderinnen, welche die Fresken in den zahllosen Kirchen der Stadt zierten.

Ein Blitz der Erkenntnis erhellte das Dunkel im Kopf des Künstlers.

Das musste ja früher oder später passieren!

Eine Blume, von wegen! Rosetta war ein mannstolles Weib, wie es im Buche steht! Obwohl sie kaum achtzehn Jahre zählte, rannte sie jedem Paar Stiefel hinterher, das die Wirtschaft betrat. Egal, ob blond, dunkel, groß oder klein, alles kam infrage, solange es dem männlichen Geschlecht angehörte und noch nicht das Alter erreicht hatte, in dem die Natur gewissen Gelüsten Grenzen setzte.

Auch ihn hatte sie ganz unverblümt zu verführen versucht, aber im Bewusstsein der Folgen, die eine solche Schwäche nach sich ziehen würde, hatte er sich gehütet, der zügellosen Wirtstochter nachzugeben, und ab da stets darauf geachtet, dass sich mindestens das halbe Lokal zwischen ihm und ihr befand.

Aus irgendeinem Grund, den er im Moment noch nicht durchschaute, gab das Mädchen nun, da das Malheur geschehen war, trotzdem ihm die Schuld an ihrem Zustand und brachte ihn in größte Verlegenheit.

Mit all seiner Überzeugungskraft versuchte Fulminacci, die ehrenrührige falsche Beschuldigung von sich zu weisen.

»Komm schon, Romoletto, so blind kannst du doch nicht sein! Hast du noch nicht bemerkt, was für ein Weibsbild deine Tochter ist? Zum Teufel, jeder deiner Gäste könnte es gewesen sein. Frag doch mal rum, verdammt noch mal!«

Dieser Verteidigungsversuch erwies sich als nicht besonders geschickt. Die ehrenrührigen Bemerkungen über sein eigen Fleisch und Blut erzürnten den Wirt noch mehr, sodass er sich erneut aus Fulminaccis Griff zu befreien suchte, um über ihn herzufallen.

»Elender Schuft, Verräter«, schäumte Romoletto, der für jeden Appell an die Vernunft taub war, »das wirst du wiedergutmachen. Ich verlange, dass du sie heiratest!«

Bei diesen Worten wurde es Fulminacci ganz anders. Er hatte wahrhaftig schon genug Schwierigkeiten am Hals, ohne sich auch noch lebenslang an eine herrische Nymphomanin binden zu müssen, ganz zu schweigen von seiner natürlichen Abneigung gegen die Ehe.

»Niemals!«, rief er laut und verstärkte seinen Griff um die Hände des Wirts. »Such dir einen anderen Dummen. Ich denke nicht daran, den Sündenbock für das Herumhuren deiner Tochter zu spielen.«

Die anderen Gäste fühlten sich von dem pikanten Wortwechsel gut unterhalten, mischten sich mit Scherzen und Zurufen in das Geschrei der Streithähne ein und ergriffen die Partei des einen oder des anderen. Und wie es häufig an Orten geschieht, an denen der Wein in Strömen fließt und die Zungen löst, brach irgendwann das totale Durcheinander aus, bei dem jeder auf jeden losging.

Mit anderen Worten, es gab eine ordentliche Wirtshausschlägerei.