KAPITEL XXXV

 

Die Straßen, die durch das Ponte-Viertel zur Engelsbrücke und ans andere Tiberufer führten, waren trotz der Mittagszeit voller Menschen. Der übliche Verkehr von Fußgängern, Lasttieren, Waren und Hausrat, der täglich die Wege verstopfte, wirkte jedoch irgendwie seltsam. Es lag etwas in der Luft, etwas wie ängstliche Erwartung. Die Wäscherinnen hörten sich zwar noch ordinärer an als sonst, aber es fehlte der gewitzte, spöttische Ton, für den sie berühmt waren. Die Gemüsehändler, die Fleischer und die Straßenverkäufer priesen ihre Waren an wie immer, doch ihr Geschrei, das zum Kauf animieren sollte, war ohne Schwung und Spontaneität. Sogar die Spiele der kleineren und größeren Kinder ließen die gewohnte Frechheit und Unbekümmertheit vermissen. Das Volk von Rom war in einer Art Interimszustand erstarrt, ähnlich wie bei einem Gewitter, wenn man nach dem Zucken des Blitzes auf den Donner wartete. All das bemerkte der Skorpion, während er durch die Menge hindurchmarschierte und versuchte, im Gleichschritt mit den anderen drei Männern zu gehen, die wie er als päpstliche Gardisten verkleidet waren.

Die Idee war nicht schlecht, musste er zugeben.

In der Mitte des Trupps ging schlurfend und bei jedem Schritt jammernd einer der Männer, die ihn in der Taverne abgeholt hatten. An der Brücke würde sich die Aufmerksamkeit der dort stehenden Wachen zweifellos auf den angeblichen Gefangenen richten.

So war es jedenfalls geplant.

Während er sich einen Weg durch das Gedränge bahnte und sich dabei stets neben den anderen hielt, dachte der Skorpion über die Ereignisse der vergangenen Tage und Stunden nach. Und darüber, ab wann alles schiefgelaufen war. Die ganze Angelegenheit hatte schon unter einem schlechten Vorzeichen begonnen, damals vor vierundvierzig Jahren in Deutschland. Der zugesagte Lohn hätte nicht besser sein können, und der Auftrag stellte ihn vor keine unlösbaren Schwierigkeiten. Obendrein bot er ihm die Gelegenheit, ein paar Katholiken umzubringen, was allein schon mehr als genug Ansporn war.

Nur hatte er sich unklugerweise nicht die Mühe gemacht, nach den Beweggründen seines Auftraggebers zu forschen, den er bis heute nicht kannte und mit dem er nur über einen Mittelsmann in Kontakt gestanden hatte.

Wäre er etwas älter und reifer gewesen, hätte ihm nicht entgehen können, wie merkwürdig es war, dass man ihn für den Mord an einem Mann engagierte, von dem noch nicht einmal sein Auftraggeber genau wusste, wer er war. »Der Mann, den du aus dem Weg räumen musst, ist ein Student im Novizeninternat der Jesuiten in Paderborn«, hatte man ihm gesagt. »Du erkennst ihn an einem großen, dreieckigen Muttermal auf dem rechten Oberschenkel, direkt unterhalb der Leiste.«

»Es wird nicht einfach sein, unter die Kutten von ein paar Hundert Novizen zu spähen«, hatte er eingewandt.

»Der Betreffende ist etwa achtzehn Jahre alt und hat ein Muttermal auf dem rechten Oberschenkel«, hatte der Mittelsmann wiederholt. »Wenn du ihn nicht sicher erkennst, bring alle um, auf die diese Beschreibung zutrifft.«

»Ihr verlangt ein Blutbad von mir«, hatte der Skorpion erwidert. »Das wird Euch ein hübsches Sümmchen kosten, nur damit Ihr es wisst.«

»Geld spielt keine Rolle, Hauptsache, der fragliche junge Mann stirbt. Erledige diesen Auftrag, und du wirst großzügig entlohnt werden.«

Als der Skorpion hörte, auf welche Summe sich der Lohn belief, ließ er alle Zweifel fahren und stürzte sich mit seiner ganzen tödlichen Effizienz auf die Aufgabe.

Das Schwierigste war, die Opfer voneinander zu isolieren. Wie zu erwarten, herrschte im Novizeninternat ein reges Gemeinschaftsleben, und diese verfluchten Studenten waren fast immer zusammen, beteten zusammen, lernten zusammen, aßen zusammen, schliefen zusammen. Doch da es ihm nicht an Talent und Durchtriebenheit mangelte, hatte er bald einen Weg gefunden.

Dann war dieser Fanatiker Christian von Braunschweig gekommen, und sein schöner Plan hatte sich in Luft aufgelöst. Die Stadt war belagert und gewaltsam eingenommen worden, und die Studenten, die nicht getötet worden waren, hatten sich in alle vier Himmelsrichtungen über ganz Deutschland verstreut. Sein Auftraggeber jedoch hatte sich nicht unzufrieden mit seiner Leistung gezeigt und ihn anstandslos bezahlt.

In den folgenden Jahren war sein Ruhm als der ungreifbare Skorpion, der unfehlbare Meuchelmörder, der tödliche Rächer, der das Wort »unmöglich« nicht kannte, stetig gewachsen, bis er das Ausmaß einer regelrechten Legende angenommen hatte.

Er hatte ganz Europa durchstreift, von England bis Spanien, von Frankreich bis Polen, von Russland bis Sizilien, und eine makabre, endlose Spur von Leichen hinter sich hergezogen. Nur die Reichen und Mächtigen konnten sich seine Dienste leisten, und es hatte nie jemand Anlass zur Klage über die Ausführung seiner Aufträge gehabt, auch wenn es häufiger vorkam, dass der Auftraggeber von heute das Opfer von morgen wurde. Doch das gehörte zu den Risiken und Ehren derjenigen, die hohe Ämter bekleiden, und keiner konnte über mangelnde Neutralität bei der Ausübung seiner Profession klagen. In dieser Hinsicht war das Schwert des Skorpions genauso gerecht und unerbittlich wie das des Erzengels Gabriel.

Von Land zu Land, Hafen zu Hafen, Stadt zu Stadt ziehend, hatte er mit den Jahren diesen seltsamen Auftrag in Paderborn beinahe vergessen, den er nie zu Ende geführt hatte. Als einzigen in seiner gesamten Laufbahn.

Bis vor zwei Monaten, als ein skandinavischer Kaufmann auf ihn zugekommen war und ihn mit vielen Umschreibungen und Andeutungen auf jene lang zurückliegenden Ereignisse angesprochen hatte. Nach und nach hatte er sich mithilfe der zweideutigen Bemerkungen des Fremden wieder an diesen ungewöhnlichen Auftrag erinnert.

»Die Aufgabe ist noch nicht abgeschlossen, Skorpion«, hatte der Kaufmann schließlich gesagt.

Diesmal musste er allerdings nicht blind zuschlagen. Der Kaufmann hatte ihm eine Liste mit Namen und Aufenthaltsorten gegeben, an denen er seine Opfer antreffen konnte.

Der Skorpion wusste selbst nicht, warum er sich darauf eingelassen hatte. Vielleicht glaubte er tatsächlich, in der Schuld seiner unbekannten Auftraggeber zu stehen, oder, was wahrscheinlicher war, seine Standesehre ließ es nicht zu, eine Arbeit unerledigt zu lassen.

Jedenfalls hatte er Deutschland verlassen, sobald es ihm möglich war, und war nach Rom gereist, entschlossen, den einzigen dunklen Fleck in seiner ansonsten makellosen Mörderkarriere auszuradieren.

Während der Skorpion diesen Gedanken nachhing, hatte der Trupp den Aufgang zur Brücke erreicht und wurde wie vorhergesehen von Azzolinis Wachposten angehalten. Es war eine gut gerüstete Mannschaft, die ihrer Aufgabe anscheinend mit großer Gewissenhaftigkeit nachkam. Jedes Mal wenn der Befehlshaber Verdacht schöpfte, zog er die Zeichnung aus seinem Rock und verglich sie mit den Gesichtszügen desjenigen, den er ins Visier genommen hatte.

Die falsche päpstliche Garde mit ihrem abgezehrten Gefangenen erfuhr keine andere Behandlung als die übrigen Römer. Die Gruppe musste stehen bleiben, und als ihr Anführer Einwände erheben wollte, wurde ihm sogleich ein von Kardinal Azzolini gezeichnetes Schriftstück unter die Nase gehalten, das die Wachen ermächtigte, nach eigenem Ermessen und ohne Rücksicht auf Privilegien zu handeln.

»Gebt den Weg frei, im Namen der heiligen Inquisition!«, erwiderte der Anführer der Gardisten und richtete sich zu seiner ganzen, wenig imponierenden Größe auf. »Wir führen diesen Missetäter vor das Gericht des Heiligen Offiziums, damit er sich zu den schwerwiegenden Vergehen äußert, die man ihm zur Last legt.«

»Was sind das für Vergehen?«, fragte der Offizier.

»Ihr seid nicht befugt, das zu wissen, Signore, und uns ist es nicht gestattet, Euch solche Auskünfte zu erteilen. Das Heilige Offizium braucht seine Handlungen nicht vor weltlichen Autoritäten zu rechtfertigen.«

»Ich muss die Identität des Gefangenen überprüfen.«

»Tut das, aber beeilt Euch.«

Der Offizier näherte sich dem Gefangenen, der mit gesenktem Kopf dastand, und hob sein Kinn mit dem Degengriff an. Er war ein kleiner, korpulenter Kerl mit einem runden Kopf voller krauser, öliger Locken. Ein dichter schwarzer Bart bedeckte sein Gesicht bis fast unter die Augen, über denen buschige Augenbrauen an der Wurzel der platten Nase zusammenwuchsen.

Man sah auf den ersten Blick, dass es sich nicht um den gesuchten Mann handeln konnte, aber der Offizier ließ sich Zeit bei der Überprüfung, um deutlich zu machen, dass auch die Helfer der Inquisition nicht von den Pflichten befreit waren, denen sich laut Erlass alle Römer unterziehen mussten. »Ihr könnt passieren«, sagte er schließlich. »Das ist nicht der Mann, den wir suchen.«