KAPITEL XLVII

 

Der Großmeister hatte sich nach seinem Bad noch nicht fertig abgetrocknet, als ein Diener ihm ein Billett brachte, in dessen oberer linker Ecke das in Gold geprägte Wappen Kardinal Azzolinis prangte.

Mit feuchten Händen öffnete Melchiorri den Umschlag und las die Nachricht.

»Euer Ehrwürden wird dringend im Palazzo Riario verlangt.«

Kein Dankeschön, kein Bitteschön, kein Gruß.

Typisch für den Stil des Kardinals.

Seufzend verließ der Großmeister das Badezimmer und rief nach dem Diener, der sich gerade entfernt hatte.

»Meine Zeremoniengewänder. Legt mir meine Zeremoniengewänder heraus, rasch!«

Sein Befehl löste hektische Betriebsamkeit bei der Dienerschaft aus, die ihm so schnell wie möglich nachzukommen suchte.

Nachdem Melchiorri den festlichen Überrock seines Fantasieordens angelegt und ein Diener ihm die gepuderte Perücke aufgesetzt hatte, verließ er eiligst den Pavillon und hastete durch den Teil des Parks, der ihn vom Hauptgebäude trennte, wobei er halblaut die Launen der Mächtigen verfluchte, die ihn seines lang ersehnten Nickerchens beraubten.

Das zügige Gehen, die gnadenlos sengende Sonne und nicht zuletzt das heiße Bad, das er sich soeben gegönnt hatte, verursachten ihm zu gleichen Teilen heftige Transpiration, sodass er trotz der Eile vorm Eingang des Palazzos kurz haltmachen musste, um sich den Schweiß vom Gesicht zu wischen.

Ein Lakai in der auffälligen Livree der Bediensteten der Königin von Schweden wartete, bis er fertig war, und geleitete ihn dann durch die langen, prunkvollen Flure des königlichen Wohnsitzes in ein kleines Arbeitszimmer im ersten Stock, wo ihn der Kardinal erwartete.

»Da seid Ihr ja endlich.«

»Ich bitte um Vergebung, Euer Eminenz, ich bin so schnell hierhergeeilt, wie es ging.«

»Schon gut, schon gut«, sagte der Kardinal mit einer ungehaltenen Handbewegung. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr mit diesem Maler bekannt seid, wie heißt er doch gleich, Socchi, Secchi…?«

»Giovanni Battista Sacchi, Eminenz, genannt Il Fulminacci«, korrigierte ihn Melchiorri.

»Den meine ich. Wäre es Euch möglich, für mich ein Treffen mit ihm zu arrangieren?«

»Durch einen glücklichen Zufall ist der Maler gerade in meinem Laboratorium zu Gast. Wie Ihr vielleicht wisst, wurde mein Freund in den vergangenen Tagen in einige höchst seltsame Abenteuer verwickelt, weshalb ich es für angeraten hielt, ihm bei mir Zuflucht zu gewähren, damit er in Ruhe abwarten kann, bis die Wogen sich geglättet haben.«

»Ausgezeichnet. Ich muss dringend mit ihm sprechen.«

»Ich werde einen Diener nach ihm schicken.«

»Er soll schnellstmöglich herkommen.«

Mit diesen Worten begab sich der Kardinal zu einem Schreibtisch und begann mit konzentrierter Miene einige Papiere zu studieren, als sei er ganz allein im Zimmer.

Wenige Minuten später trat ein vom Bad noch feuchter und ziemlich aufgelöster Fulminacci ein.

Da endlich ließ sich Azzolini dazu herab, von seinen Papieren aufzublicken, und bohrte seine dunklen, scharf blickenden Augen in die umschatteten des Malers.

»Messer Sacchi«, begann er ohne Vorrede, »die heilige römische Kirche bedarf in einer wichtigen Angelegenheit Eurer Dienste.«

»Jederzeit, Eminenz. Meine Talente als Maler, Kupferstecher, Bildhauer und Architekt stehen Euch zur Verfügung.«

»In diesem Moment benötigt die Kirche nicht so sehr Eure Kunst als vielmehr einen Gegenstand, der sich in Eurem Besitz befindet. Ein kurioser Gegenstand, der für Euch eine vergleichsweise geringe Bedeutung hat, aber das Mittel zur erfolgreichen Beilegung einer ernsten Staatsangelegenheit sein könnte. Ich wäre Euch überaus dankbar, wenn Ihr mir den fraglichen Gegenstand für einige Tage überlassen würdet. Nach Abschluss der von mir geplanten Operation wird er Euch selbstverständlich zurückerstattet.«

»Euer Eminenz«, antwortete der Maler, der eine gewisse Verlegenheit nicht verbergen konnte, »ich wäre überglücklich, der heiligen Mutter Kirche all meine Besitztümer zur Verfügung zu stellen, doch, wie soll ich sagen… Wenn ich recht verstanden habe, um welchen Gegenstand es sich handelt… Nun, es ist ein sehr kostbares Stück… Versteht mich nicht falsch, ich habe volles Vertrauen zu Euch, aber wäre es vielleicht möglich… nun ja, eine Art von Entschädigung zu erhalten? Nur für den Fall, dass etwas dazwischenkommt, wisst Ihr…«

Azzolini seufzte laut.

»Heilige Jungfrau«, rief er und schlug mit der Faust auf den mit Intarsien verzierten Schreibtisch, »kann man in dieser vermaledeiten Stadt nicht ein einziges Mal etwas aus christlicher Nächstenliebe bekommen, aus Ergebenheit gegenüber denen, die die Geschicke der Christenheit lenken? Für alles muss man bezahlen! Also gut, wie viel wollt Ihr?«

»Bitte missversteht mich nicht, Euer Eminenz, aber der Besitz des Gegenstands, über den wir sprechen, hat mich während der letzten Tage in vielerlei Gefahren gebracht. Sonst hätte ich mir nie erlaubt, über seine, wenn auch zeitweise, Abtretung zu verhandeln.«

»Ihr habt recht, Messere«, räumte Azzolini ein. »Obwohl Ihr nichts davon wusstet, habt Ihr durch Euer Verhalten der Kirche bereits einen großen Gefallen getan, und es ist nur gerecht, dass Ihr dafür eine Anerkennung erhaltet. Ich denke, diese Börse voll Dukaten wird Euch mehr als ausreichend für die Unannehmlichkeiten entschädigen.« Geschwind griff der Maler nach der kleinen Börse aus Ziegenleder und wog sie mit kritischem Ausdruck in der Hand, um den Inhalt abzuschätzen. Dann zog er lächelnd den Bernsteinanhänger aus der Rocktasche, den Zane ihm in Beatrices Auftrag zurückgegeben hatte, und legte ihn auf den Schreibtisch.

Der Kardinal nahm ihn und betrachtete ihn ausführlich.

»Ein erstaunliches Schmuckstück«, bemerkte er schließlich. »Ich würde es gern Pater Kircher zeigen und hören, was er dazu sagt.«

»Ich glaube, Pater Kircher hat den Bernstein schon früher einmal zu Gesicht bekommen – jedenfalls nach der Bestürzung zu urteilen, die er an den Tag legte, als ich ihm den Anhänger brachte, nachdem er in meine Hände geraten war«, berichtete Fulminacci, dem das erfolgreiche Verhandeln einen gewissen Übermut verliehen hatte.

»Er kennt ihn, sagt Ihr?«, erkundigte sich der Kardinal verblüfft.

»Ich kann es nicht mit Sicherheit behaupten, aber als ich ihm den Bernstein zeigte, reagierte er, als sähe er ihn nicht zum ersten Mal. Genauer gesagt wurde er sogar von einem plötzlichen Unwohlsein befallen, und es musste ein Arzt gerufen werden, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihn danach zu fragen, aber es erschien mir offensichtlich, dass ihm das Schmuckstück nicht ganz unbekannt war.«

»Jetzt, da Ihr es erwähnt, fällt mir ein, dass auch ich ein seltsames Verhalten bei Pater Kircher beobachtet habe, besonders nach dem Mord in der Oper. Nichts Konkretes wohlgemerkt, aber ich hatte den Eindruck, dass er sehr viel mehr weiß, als er preiszugeben bereit ist. Als hüte er in der Tiefe seiner Seele ein schreckliches, unsagbares Geheimnis.«

Durch das gemeinsame Interesse an dem Gesprächsgegenstand war die Atmosphäre weniger förmlich, beinahe zwanglos geworden, wie bei einer Unterhaltung zwischen alten Freunden. Was den Großmeister nicht wenig verwunderte, der doch ständig in der feinen Gesellschaft verkehrte und immer wieder feststellen musste, wie sehr jeder Umgang mit hochgestellten Persönlichkeiten von einem strengen Verhaltenskodex bestimmt wurde. Er wusste noch, wie es beinahe zu einem diplomatischen Zwischenfall gekommen wäre, als man bei der Ankunft des neuen französischen Gesandten festlegen musste, ob dieser sich in Gegenwart von Königin Christine setzen durfte oder nicht. Und nun sprach Kardinal Azzolini ganz unbefangen mit einem einfachen, mittellosen Maler!

Die Lage musste wirklich ernst sein, wenn ein so erlauchter Kirchenfürst sich zu einem vertrauten Gespräch mit einem Mann aus bescheidenen Verhältnissen herabließ.

Der scheinbar gleichberechtigte Austausch war jedoch von kurzer Dauer. Weil der Kardinal merkte, dass er ein Übermaß an Vertraulichkeit zuließ, oder einfach weil er glaubte, alles Wissenswerte erfahren zu haben, nahm er wieder seine Rolle als Kirchenfürst ein und stellte damit die gewohnte Distanz zu seinen Gesprächspartnern her.

»Ihr könnt jetzt gehen«, sagte er mit dem ihm eigenen Gleichmut. »Falls ich Euch noch brauche, werde ich Euch rufen lassen.«

Die beiden Freunde verbeugten sich und verließen das Arbeitszimmer.

»Ein sympathischer Mensch, unser Kardinal, was?«, sagte der Maler, als sie außer Hörweite waren.

»Tja, du weißt doch, wie die Aristokraten sind, was hast du erwartet? Als du anfingst, wegen der Herausgabe des Bernsteins zu feilschen, habe ich das Zittern bekommen. Nicht viele dürfen es sich erlauben, so mit Azzolini zu sprechen. Seine Reaktion hätte auch anders ausfallen können.«

»Ich habe nur beherzigt, was du selbst immer predigst: Es gibt im Leben nichts umsonst. Für alles, was du willst, musst du bezahlen. Und um es mal mit brutaler Offenheit zu sagen, habe ich die Schnauze gestrichen voll von diesem ganzen Schlamassel. Ich habe zweimal mein Leben für diesen verdammten Stein riskiert, und da soll ich ihn einfach so hergeben, aus reiner Freundlichkeit? Niemals. Außerdem kapiere ich immer weniger von all dem, was um mich herum passiert. Zuerst die ermordeten Jesuiten, dann Beatrice, die anscheinend als Spionin für die Franzosen arbeitet, schließlich dieser namenlose Mörder, der durch Rom streift und offenbar nichts anderes im Sinn hat, als mir die Kehle durchzuschneiden. Das Ganze gewürzt mit einem kleinen Ausflug in die Verliese der Inquisition, damit es nicht langweilig wird. Und das ist noch lange nicht das Ende, fürchte ich. Also wirst du doch gestatten, dass ich mich ein wenig schadlos halte? Ich habe die Dukaten, die ich dem Kardinal abknöpfen konnte, noch nicht gezählt, aber dem Gewicht nach zu urteilen müssten es genug sein, um die nächsten Monate zu überleben, ohne an jeder Ecke von Gläubigern angesprungen zu werden, die mir an die Gurgel wollen. So, und jetzt gehen wir etwas essen. Bei all der Aufregung habe ich seit gestern Abend nichts mehr in den Bauch bekommen.«

»Gute Idee«, sagte der Großmeister. »Auch ich verspüre einen gewissen Appetit.«

Kardinal Azzolini legte das Schmuckstück zurück auf den Schreibtisch und rieb sich die müden Augen.

Er hatte das im Bernstein eingeschlossene Insekt lange betrachtet, viel länger, als er wollte, und vergeblich versucht, mit seiner Hilfe in die Gedanken seines Besitzers einzudringen.

Wenn man den Stein gegen das Licht hielt, war das kleine tödliche Wesen in allen Einzelheiten erkennbar, kaum verzerrt von der Konvexität des ihn umschließenden Materials. Trotz seiner Starre in der ewigen Umarmung des Harzes ging von seiner Haltung eine bedrohliche Dynamik aus. Der Rumpf des Insekts war nach links verdreht, als hätte es in dem Moment, in dem es von dem zähen Material getötet und konserviert worden war, seinen giftigen Stachel zu einem letzten Angriff ausfahren wollen.

Leider konnte ihm der winzige Skorpion allein nicht viel verraten. Sein Geheimnis lag in zu großer Tiefe verborgen.

Azzolini wusste genau, dass sein Vorhaben riskant, ein echtes Wagnis war. Monate unermüdlicher Arbeit, endloser Vorbereitungen und mühevoller Verhandlungen – das alles konnte durch den kleinsten Fehler, durch ein vernachlässigtes Detail zunichtegemacht werden.

Doch es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit.

Die Situation in Schweden war an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt, und nur ein Geniestreich würde den Lauf der Ereignisse umkehren können, die immer schneller auf einen unheilvollen Ausgang für die heilige römische Kirche zustrebten.

Wie lange hatte er auf Königin Christine eingeredet, damit sie das Problem tatkräftig anging und ihr noch immer hohes Ansehen ins Feld führte, um wenigstens zu retten, was zu retten war! Eine Pattsituation war nach wie vor möglich und auf jeden Fall wünschenswert, denn sie würde ihm die nötige Zeit verschaffen, um jeden erdenklichen Gegenzug, jede mögliche Strategie in die Wege zu leiten, mit denen den unseligen Plänen der Kirchenfeinde Einhalt geboten werden konnte. Wenn er mehr Zeit hätte, würde es ihm vielleicht gelingen, den König von Frankreich von seiner Dickköpfigkeit abzubringen. Wenn mehr Zeit wäre, hätten die katholischen Fürsten in Deutschland Gelegenheit, sich neu zu organisieren, ihre kleinlichen Streitereien beizulegen und eine gemeinsame Front gegen die um sich greifende Häresie zu bilden.

Wenn.

Aber die Zeit war zu knapp. Der junge Karl XI. von Schweden hatte offenbar nicht mehr lange zu leben, sein Kanzler Magnus bereitete schon seine Nachfolge vor, und die Kirche hatte in diesem Spiel schlechte Karten.

Das Überleben der Kirche als weltliche Macht hing von diesem Schritt ab, dem entscheidenden Schritt, der als einziger das Spiel neu mischen würde.

Ein alter Jesuit, von dem man immer noch nicht wusste, wer er war.

Ein Geheimnis, das über ein halbes Jahrhundert lang gehütet worden war und darauf wartete, gelüftet zu werden.

Nachdem der Skorpion ganze Arbeit geleistet hatte, blieben nur noch drei Kandidaten übrig, aber welcher davon war der Mann, den sie suchten?

Im Moment waren die drei Geistlichen in Sicherheit und wurden streng bewacht, aber das löste das Problem nicht.

Der Skorpion musste um jeden Preis gefasst werden, und zwar lebend und so weit unversehrt, dass er noch verhört werden konnte.

Nur er wusste etwas, das die Identität des Mannes enthüllen konnte, den sie monatelang, jahrelang in jedem Winkel Europas gesucht hatten.

Der Kardinal warf noch einen Blick auf den Bernstein, der auf dem Schreibtisch glänzte. Dieses kleine Schmuckstück würde ihnen Zugang zu dem so lange und so eifersüchtig gewahrten Geheimnis verschaffen.

Wenn alles nach Plan lief.

Wenn der Skorpion auf den ausgelegten Köder anbiss.

Wenn jeder seine Pflicht tat.

Wenn.

Ein forderndes Klopfen an der Tür riss den Kardinal aus seinen Gedanken.