KAPITEL V

 

In dem Dämmerzustand, in dem er sich befand, weder schlafend noch wachend, hörte Kircher die Schreie nicht gleich, die aus einem der Seitengänge zu ihm drangen.

Es dauerte einen Moment, bis er wieder Herr seiner Sinne war. Er schüttelte den Kopf, um sein benebeltes Gehirn klar zu bekommen, und vernahm auf einmal neben dem fernen Lärm der Schreie leise Schritte, die sich näherten.

Weil er dachte, es sei sein Kamerad, der endlich zurückkam, wollte er gerade sein unbequemes Versteck verlassen, konnte sich jedoch kaum bewegen, so steif waren seine Glieder vor Kälte und Reglosigkeit.

Das war sein Glück.

Direkt vor der Nische hielten die Schritte an. Die Beine eines Mannes, die in hohen Stiefeln aus weichem, dunklem Leder steckten, traten in die Einbuchtung und kamen nur eine Handbreit vor seinen weit aufgerissenen Augen zum Stehen.

Der Mann drehte sich ein wenig zur Seite, vermutlich, um den dunklen Korridor überblicken zu können. Auf diese Weise geriet der Saum eines dunklen, aschfarbenen Umhangs in Kirchers Gesichtsfeld und gleich darauf auch das Aufblitzen eines gezückten Schwertes, von dessen Schneide lange Zungen frischen Blutes herabtropften.

Es war ein ungewöhnlich geformtes Schwert, stellte der junge Mönch trotz seiner Todesangst fest, ganz anders als die Waffen der vielen Wachen und Soldaten, die sich in diesen unruhigen Zeiten in den deutschen Städten herumtrieben. Seine Klinge war lang und schmal und sah fast zerbrechlich aus, wäre nicht dieses unheimliche Funkeln gewesen, das von der schwachen Beleuchtung im Gang hervorgerufen wurde.

Der Mann bewegte sich und hob das Schwert ruckartig nach vorn. Er atmete schwer, als wäre er gerade schnell gerannt, und sein Körper dünstete einen starken Schweißgeruch aus. In seiner kauernden Hockstellung konnte Kircher nur seine Beine und den breiten Gürtel erkennen, der um seine Hüften lag.

Durch die Bewegung des Mannes verrutschte der Umhang ein Stück und öffnete sich so weit, dass Kircher rechts an seinem Gürtel einen Gegenstand bemerkte, nur ein paar Zentimeter von seiner steif gefrorenen Nase entfernt.

Jemand musste Fackeln in dem Gang entzündet haben, der rechtwinklig zu diesem verlief, denn es gab auf einmal mehr Licht, das vermutlich von den hohen Fenstern reflektiert wurde.

Der Schein war immer noch schwach, ermöglichte es dem jungen Novizen nun aber, den Gegenstand klar zu erkennen: Es war ein eiförmiger Bernstein in einer Silberfassung.

Plötzlich erstarrte der Fremde und wurde zu einer zweiten Statue, vielleicht, weil er ein Geräusch gehört hatte. Das Pendeln des kleinen Schmuckstücks wurde langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand, sodass der arme Kircher es genauer betrachten konnte.

In der Mitte des Bernsteins schwamm ein schwarzer Skorpion, dessen Schwanz mit dem tödlichen Stachel in einem anmutigen Schwung nach rechts gebogen war.

Gelähmt vor Furcht, aber auch fasziniert von dem Anblick des Insekts verharrte der junge Mönch eine endlos erscheinende Zeit in dieser Position.

Die Schreie ließen allmählich nach. Der Unbekannte sah sich um, trat von der Nische weg und entfernte sich mit schnellen, leisen Schritten durch den Korridor.

Der ganze Zwischenfall hatte wahrscheinlich nur wenige Augenblicke gedauert, die ausreichten, damit der Besitzer des Skorpions Atem holen und beschließen konnte, in welche Richtung er fliehen sollte, aber Kircher war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.

Er blieb noch lange reglos dort hocken und wagte kaum zu atmen vor Angst, der Mörder könne zurückkommen und ihn bemerken. Irgendwann traute er sich schließlich, sein Versteck zu verlassen.

Die Stimmen kamen näher, der Lichtschein wurde heller, und kurz darauf lief eine Gruppe von Novizen in heller Panik durch den Gang.

Kircher folgte ihnen und erreichte rennend den Gebäudeflügel, in dem sich bereits eine große Menge von Schülern und Lehrern zusammendrängte.

Er brauchte sich nicht erst nach vorn durchzuschieben und selbst einen Blick auf das Geschehen zu werfen, um zu wissen, was passiert war.

Auf der anderen Seite der geschlossenen Mauer aus Menschen lag die dritte Leiche mit abgetrenntem Kopf, das Hemd bis zu den Schultern hochgeschoben und den Unterkörper der Kälte der Nacht preisgegeben.

Kircher hatte weder den Mut noch die Kraft, jemandem sein schreckliches nächtliches Erlebnis anzuvertrauen. Bei seinem langen Ausharren hinter der Statue hatte er sich verkühlt und sich ein heftiges Fieber zugezogen, weshalb es mehrere Tage dauerte, bis er den normalen Alltag mit seinen Mitbrüdern wieder aufnehmen konnte.

Obschon das Leben in der Novizenschule von Paderborn nach dieser entsetzlichen Mordserie nicht mehr normal genannt werden konnte.

Es wurde eine neue Untersuchung eingeleitet, und die Patrouillen wurden verstärkt und Tag und Nacht eingesetzt. Es herrschte eine Atmosphäre des Verdachts und der Furcht. Niemand fühlte sich mehr sicher.

Als wäre das noch nicht schlimm genug, beschloss die Geschichte, mit Nachdruck an die Tore der Stadt zu klopfen. Herzog Christian von Braunschweig, ein Protestant und erklärter Feind der Papisten im Allgemeinen und der Jesuiten im Besonderen, begann die Stadt mit seinen Söldnern, seinen Kanonen und Arkebusen zu belagern.

Die Situation der Eingeschlossenen wurde bald hoffnungslos.

Auch wenn sie viel Mut und Entschlossenheit bei der verzweifelten Verteidigung ihrer Garnison zeigten, waren sie doch in der Minderzahl, schlecht ausgebildet und noch schlechter bewaffnet.

Ende Januar, als der Fall der Stadt auch bei den tapfersten Kämpfern als sicher galt, gelang Kircher zusammen mit zwei Brüdern die Flucht durch die feindlichen Linien, indem sie sich eine Kampfpause zunutze machten.

Drei Tage und drei Nächte irrten sie durch das verschneite Land, ohne Essen und durch ihre dünne Kleidung nur unzureichend geschützt gegen die Eiseskälte, die ein unablässiger Wind aus den öden Steppen des Ostens herbeiblies.

Gerade als die drei Kameraden völlig entkräftet aufgeben wollten, kam ihnen die Vorsehung in Gestalt eines katholischen Adeligen zu Hilfe und rettete sie.

Später erfuhr Kircher, dass die Flucht aus der inzwischen eroberten Stadt auf abenteuerliche Weise noch weiteren Kommilitonen gelungen war, die sich anschließend in alle Winde zerstreut hatten. Andere, die nicht so viel Glück gehabt hatten, waren von den Truppen des Herzogs gefangen genommen und auf dem Marktplatz aufgeknüpft worden.

Kircher kehrte nie wieder nach Paderborn zurück. Die Wechselfälle des Lebens führten ihn in andere deutsche Städte, nach Österreich, nach Frankreich und schließlich nach Rom.

Seit jenem eisigen Winter waren inzwischen vierundvierzig Jahre vergangen, doch die schreckliche Kälte hatte seine Glieder nie ganz verlassen. Viel schlimmer aber noch war das Bild dieses winzigen Insekts im Bernstein, dieses Skorpions, der auch jetzt noch, nach fast einem halben Jahrhundert, eine makabre Gavotte vor seinen Augen tanzte.

Die Erinnerung war glücklicherweise mit der Zeit verblasst und weniger beängstigend und bedrohlich geworden. Die Albträume, die ihn in den ersten Jahren des Nachts heimgesucht hatten, tauchten allmählich seltener auf und waren irgendwann nur noch sporadische Episoden.

Bis der Maler gekommen war und ihm dieses Bernsteinschmuckstück gezeigt hatte.

Im selben Moment waren die ganze Angst und die ganze Verzweiflung, die sich in einen Winkel seiner Seele zurückgezogen hatten, wieder hervorgetreten, und er war erneut dieser Furcht ohne Namen, ohne Gestalt und ohne Hoffnung zum Opfer gefallen.

Eine Nemesis, die er für immer gebannt zu haben glaubte, meldete sich zurück.

Geschüttelt von Zittern und Frost versuchte er noch nicht einmal, seiner Verstörung mit Vernunft beizukommen oder als Wissenschaftler über den Gegenstand nachzudenken, der aus der fernen Vergangenheit wiederaufgetaucht war. Sein Geist verlor sich auf dunklen Pfaden, die mit düsteren Vorahnungen und Ankündigungen bevorstehenden Unheils gepflastert waren.

Der Skorpion.

Die Sterne hatten ihn nicht belogen.

Das Zeitalter des Skorpions war wieder angebrochen.