KAPITEL I

 

Seit einiger Zeit stand Pater Athanasius Kircher sehr früh am Morgen auf, selbst für seine Verhältnisse.

Bekanntermaßen hat der Körper mit fortschreitendem Alter ein geringeres Bedürfnis nach Ruhe, und Pater Kircher war bereits in jene Lebensphase eingetreten, in der die Jugend nur noch eine ferne Erinnerung ist.

Aber das war nicht der einzige Grund.

Eine unerklärliche Unruhe und ein bedrückendes Gefühl bevorstehenden Unheils hatten sich seiner Seele bemächtigt, ohne dass er sich dessen völlig bewusst war.

Sogar seine Studien wurden davon beeinflusst.

Von der Stunde des Sonnenuntergangs an, wenn die ersten Sterne am hohen, klaren Himmel von Rom erschienen, bis weit nach Mitternacht blieb Pater Kircher im Observatorium auf dem Dach des Collegium Romanum und verfolgte den Lauf der Sterne, indem er unablässig in das Teleskop blickte, das er selbst entwickelt hatte. Erst wenn die Müdigkeit und das Alter ihm die weitere Beobachtung der Gestirne verwehrten, legte er sich schlafen. Doch schon nach wenigen Stunden, noch vor Sonnenaufgang, war er wieder hellwach und auf den Beinen, um den Ergebnissen seiner nächtlichen Studien einen Sinn zu verleihen.

Einem ungeübten Auge erscheint der Sternenhimmel immer gleich und unveränderlich in seiner Unermesslichkeit. Aber Pater Kircher sah nicht mit den Augen eines Laien zu ihm hinauf.

Er verstand es, von diesem mit funkelnden Edelsteinen bestickten Mantel die Bahnen und Umlaufbahnen, den Auf- und Untergang von Gestirnen sowie ihre verschiedenen Konstellationen abzulesen, die für gewöhnliche Sterbliche keinerlei Bedeutung haben, dem bewanderten Astronomen jedoch Millionen von Geschichten erzählen und Milliarden von Möglichkeiten andeuten.

In diesem Teppich aus leuchtenden Diamanten suchte Pater Kircher nach einer Erklärung für die Sorge und die düstere Vorahnung, die ihn bedrückten.

Der Mönch war davon überzeugt, dass man im Lauf der Gestirne über das immense nächtliche Himmelszelt den Willen Gottes und das Schicksal der Menschen erkennen konnte. All die Dinge, die dem Mann von der Straße als verworren, chaotisch und willkürlich erschienen, trugen nach Kirchers Auffassung das Zeichen des Schöpferwillens. Nichts geschah durch Zufall, jedes Ereignis, jede noch so geringe Begebenheit, jede Kleinigkeit waren Teil eines großen Plans, den der unergründliche göttliche Geist erdacht hatte.

Auch an jenem Morgen Anfang Mai, Anno Domini 1666, erhob sich Pater Kircher in diesem Glauben von seinem Lager.

Er ging zum Fenster und öffnete die Läden, um die frische Morgenluft einzuatmen. Der Himmel färbte sich über der Horizontlinie gerade zartrosa, während die letzten Sterne nach und nach verblassten, als würden sie sich bereits vor dem triumphalen Einzug des Tagesgestirns verneigen.

Kircher sog tief den noch vorhandenen geheimnisvollen Duft der Nacht ein und genoss diesen Moment, bevor der Wagen des Apoll die Geschöpfe der Persephone zurück in die Tiefen des Hades jagte, dieses kurze Intermezzo, wenn die Erde herrenlos zu sein schien und zwischen dem Reich des Olymp und der Unterwelt schwebte.

Die verlassenen Straßen, die noch nicht von einer lärmenden, ihren Alltagsgeschäften nachgehenden Menschenmenge bevölkert waren, erzählten von der unvergänglichen Erhabenheit der Ewigen Stadt, von ihrer jahrtausendealten Geschichte und ihrer Bestimmung als Führerin der Völker der Erde.

Pater Kircher freute sich an diesen wenigen Augenblicken des Friedens, bevor er sich seufzend wieder seinem Schreibtisch zuwandte, auf dem die Sternenkarten ausgebreitet waren, die er im Laufe seiner unermüdlichen astronomischen Forschungen mit Einträgen versehen hatte.

Die Beobachtungen der vergangenen Nacht schienen zu bestätigen, was er schon seit einiger Zeit vermutete. Die Abweichungen der Planeten von ihren Umlaufbahnen, die Anordnung der Leitsterne, die Bahnen der Boliden – all das trug dazu bei, eine höchst ungewöhnliche Sternenkonjunktion entstehen zu lassen, wie sie das menschliche Auge nur selten zu sehen bekam.

Orion und Kassiopeia, die in einer Flucht mit dem Mond und dem Mars standen, waren dabei, ein Bild zu formen, von dem er vor Jahren einmal in einer chaldäischen Schrift in hebräischer Übersetzung gelesen hatte, einer Schrift, die sich noch in irgendeinem verborgenen Winkel seiner umfangreichen Bibliothek befinden musste.

Kircher erhob sich von seinem Stuhl, ging im Zimmer auf und ab und versuchte sich an den Standort des Buches zu erinnern.

Im Laufe der Zeit und mit der wachsenden Anzahl von Büchern hatte es sich als notwendig erwiesen, die Bände nach einem bestimmten logischen System zu ordnen, das einen leichteren Zugriff auf sie ermöglichte. Er selbst hatte eine sehr nützliche Archivierungsmethode erfunden, die allerdings etwas unkonventionell war und sich von den Systemen der wichtigsten Bibliotheken der Zeit unterschied. Leider war der junge Seminarist, dem die Ordnung seiner Bibliothek anvertraut worden war, vor wenigen Monaten von einem bösartigen Fieber dahingerafft worden, noch ehe er die Arbeit hatte abschließen können, und sein Nachfolger hatte sich der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt. Somit musste Kircher jedes Mal, wenn er einen Band brauchte, den er nur selten zurate zog, sich auf sein – zum Glück ausgezeichnetes – Gedächtnis verlassen statt auf das System, das er entwickelt hatte.

Die hebräischen Texte befanden sich im Bereich AB, aber er war nicht sicher, ob das gesuchte Buch dort auch stand, da der Verfasser ein chaldäischer Christ war. Wahrscheinlich hatte der Nachfolger des verstorbenen Bibliothekars es in seiner ärgerlichen Beschränktheit zwischen die zoroastrischen Texte gestellt, von denen viele in hebräischer Sprache abgefasst waren. Und diese standen im Sektor AG.

Konzentriert ließ der Pater seinen Blick über die Rücken der Bände schweifen, als er einen kleinen, sich bewegenden Punkt am Rande des Regals bemerkte.

Sofort wurden seine Hände schweißnass, und sein Atem ging keuchend, während die kleine Spinne über das glatte Holz auf ihr unbekanntes Ziel zuhuschte.

Wie immer versuchte Kircher seine Phobie unter Kontrolle zu bringen, musste dazu jedoch seine gesamte Selbstbeherrschung aufbieten.

Seine Abscheu vor Insekten war ein Geheimnis, das er eifersüchtig hütete und das seinen Ursprung in der fernen Vergangenheit hatte. Er selbst vermied es sorgfältig, den Grund in sein Bewusstsein dringen zu lassen.

Reglos wartete er darauf, dass die Spinne sich entfernte, und beobachtete sie nur aus dem Augenwinkel. Als sie endlich aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, fasste er Mut und konnte die gesuchte Schrift aus dem Regal ziehen.

Er trug sie zum Schreibtisch und blätterte mit immer noch zitternden Fingern darin. Seite für Seite überflog er die eckigen hebräischen Schriftzeichen auf der Suche nach der gewünschten Stelle.

Schließlich fand er die Beschreibung des von ihm vermuteten Phänomens am Beginn eines Kapitels über ungewöhnliche Sternenkonstellationen, einer Art Auflistung von Besonderheiten im Tierkreis, die mit großer Sachkenntnis zusammengestellt worden war.

In dem Kapitel wurde auch erwähnt, dass die chaldäischen Priester der Antike eine Zeit großer Unsicherheit vorausgesagt hatten, wenn Orion und Kassiopeia in dieser speziellen Konjunktion mit dem Mond und dem Mars standen.

Erst wenige Male seit der Erschaffung der Welt hatten Sterne und Planeten sich in dieser eigentümlichen Konstellation befunden, und jedes Mal waren unheilvolle und zerstörerische Ereignisse darauf gefolgt: die Herrschaft Sennacheribs des Zerstörers, die Machtergreifung Kyros’ des Großen und der Feldzug Alexanders in Asien.

Der gelehrte Verfasser des Bandes schrieb, dass die chaldäischen Priester eine solche Konstellation als »Zeitalter des Skorpions« bezeichneten, weil die beiden Hörner der Figur, welche die Himmelskörper am Nachthimmel bildeten, ganz klar den Umriss des giftigen Insekts zeigten, wie man auch der beigefügten Zeichnung entnehmen konnte.

Die Lektüre des Textes und das Betrachten der Zeichnung wirkten wie ein Messerstich in die Brust von Pater Kircher. Auch mit größter Willensanstrengung konnte er seine Gefühle nicht länger beherrschen, und seine Gedanken richteten sich auf längst vergangene Ereignisse, die er für immer tief in sich begraben zu haben gehofft hatte.

Wie zur Bestätigung seiner Ängste, während die Kräfte der Vernunft noch gegen die finstere Macht der Furcht ankämpften, schickte eine Totenglocke ihre Klage in den heiteren Himmel der Hauptstadt der Christenheit.

Halb aus seinen Grübeleien gerissen lauschte Kircher einen Moment lang dem traurigen Geläut. Dann blickte er auf seine Tischuhr und dachte, wie ungewöhnlich ein solcher Klang doch zu dieser frühen Stunde war.

Er stand vom Tisch auf, rannte fast zur Tür und rief mit lauter Stimme nach seinem Diener Fernando, der atemlos herbeigelaufen kam.

»Fernando, hast du diese Glocke gehört?«, fragte Kircher.

»Ja, Pater«, antwortete der Diener, »wie seltsam. Das Geläut scheint von Santa Maria Maggiore zu kommen. Ich verstehe nicht, warum sie dort so früh schon die Glocken läuten. Es muss etwas Schlimmes passiert sein.«

»Ich bitte dich, Fernando, geh hin und sieh nach, was vorgefallen ist. Und komm sofort zurück, um mir Bericht zu erstatten. Na los, geh schon, beeil dich.«

Seufzend machte sich der Diener auf den Weg.

Vom Jesuitenkolleg bis nach Santa Maria Maggiore war es ein ordentlicher Fußmarsch. Der arme Fernando hatte sich aufgrund der Gewohnheiten seines Herrn erst spät hinlegen können und war schon vor dem ersten Hahnenschrei wieder aufgestanden, weshalb ihm ein langer Botengang zusätzlich zu seinen normalen Pflichten nun gar nicht gelegen kam. Andererseits war der Pater ihm immer ein guter Herr gewesen, geduldig und verständnisvoll, auch wenn er in letzter Zeit eine gewisse Gereiztheit bei Verspätungen und anderen Missgeschicken an den Tag legte, an denen manchmal menschliche Schwäche die Schuld trug, manchmal aber auch das Schicksal und damit der unerforschliche Wille Gottes. Alles in allem bedeutete also ein Spaziergang, so lang er auch sein mochte, nicht das Ende der Welt.

Kaum war er auf die Straße getreten, begegnete er dem Karren des Gemüsehändlers, der wie jeden Morgen das Kolleg belieferte. Fernando sagte sich, dass der Mann doch gerade aus der Richtung kam, die er selber würde einschlagen müssen, und dass er von ihm vielleicht etwas erfahren konnte.

»Ja, ich komme gerade von Santa Maria Maggiore«, bestätigte der Händler, »dort hat sich viel Volk versammelt. Offenbar ist in der Kirche ein Mord geschehen, man hat einen Jesuitenpater umgebracht, einen Deutschen, Pater Bartolomeo So wieso… Stolzi, hieß er, glaub ich, ja, Stolzi, Friede seiner Seele.«

Fernando dankte dem Mann, froh, dass der ihm den Weg erspart hatte, und lief schnell wieder die Treppe hinauf, um Pater Kircher über das Geschehen in Kenntnis zu setzen.

Der Jesuit reagierte mit offensichtlicher Bestürzung auf die Nachricht.

»Stolzi… Damit muss Pater Stoltz gemeint sein…« Die Angewohnheit der Römer, die Nachnamen von Fremden zu italianisieren, verärgerte ihn stets aufs Neue. »Bist du sicher, dass das der Name ist? Du hast dich nicht verhört?«

»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Fernando. »Es war ein deutscher Geistlicher. Aber was habt Ihr denn, Pater Kircher, fühlt Ihr Euch nicht gut? Habt Ihr ihn gekannt?«

Kircher nickte und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Euch ist nicht wohl, Pater«, stellte der Diener fest, »kann ich etwas für Euch tun?«

»Nein, Fernando. Ich habe nur nicht mit einer so bösen Nachricht gerechnet. Weiß man, wie er umgebracht wurde?«

»Der Gemüsehändler hat es selbst nicht gesehen, aber nach allem, was er gehört hat, ist der Pater wohl enthauptet worden. Wenn Ihr wollt, laufe ich hin und erkundige mich eingehender.«

»Nein, das ist nicht nötig… nicht nötig. Du kannst jetzt gehen. Aber falls du später mehr erfährst, komm zu mir und berichte mir davon. Im Moment brauche ich nichts weiter.«

Verwundert verließ Fernando das Arbeitszimmer seines Herrn, denn der Pater war normalerweise viel zu sehr mit seinen Studien beschäftigt, um sich sonderlich für die Ereignisse in der Stadt zu interessieren. Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass er den Toten gekannt hatte.

In diese Überlegungen vertieft bemerkte Fernando den Mann nicht, der vor den Räumen von Pater Kircher wartete, und rempelte ihn beinahe an, als er in Richtung der Unterkünfte der Dienerschaft gehen wollte.

»Pass doch auf, wo du hintrittst!«, schimpfte der Mann, der schnell einen Schritt zur Seite machte, um dem Zusammenstoß mit dem wohlbeleibten Diener zu entgehen.

»Verzeiht, Signore, ich hatte Euch nicht gesehen.«

Fernando musterte den Besucher und kniff dabei die Augen zusammen, um den Blick schärfer zu stellen. Seit einiger Zeit begann sein Augenlicht ihm den einen oder anderen üblen Streich zu spielen.

Teils seiner schlechten Augen, teils des Dämmerlichts wegen, das im Gang herrschte, brauchte er einen Moment, um den Mann wiederzuerkennen.

Dann endlich sah er, dass es sich um diesen lombardischen Maler handelte, der Pater Kircher seit Neuestem öfter in seinem Studierzimmer aufsuchte. Er hieß Giovanni Battista Sacchi, war aber in Künstlerkreisen besser als »Il Fulminacci«, »der Blitzschlag«, bekannt, vermutlich wegen seines aufbrausenden Temperaments.

Er war um die dreißig, nicht sehr groß, aber kräftig gebaut. Sein Gesicht wurde halb von einem Hut mit breiter Krempe verdeckt, an der eine lange Pfauenfeder prangte. Er trug einen gelben Rock, der etwas zu eng geschnitten war für seine massige Gestalt, und hohe Stiefel, die bis übers Knie reichten. An seinem Gürtel, nur teilweise verborgen durch den langen Umhang, hing ein Degen von beachtlichen Ausmaßen.

Der Diener blinzelte in das Gesicht seines Gegenübers, während die dunklen Augen des Malers ihn vor Zorn über diesen Anschlag auf seine Würde durchbohren zu wollen schienen.

Als Erstes fiel an dem Mann eine markante Nase von großzügigen Proportionen auf, unter der ein dichter, pomadisierter Schnurrbart in Henkelform wuchs. Dieser wurde durch einen Spitzbart ergänzt, der das ansonsten recht rundliche Gesicht wohl etwas strecken sollte.

Kurzum, er sah weniger wie ein Künstler aus als wie einer dieser zwielichtigen Hochstapler, die sich zuhauf in Rom herumtrieben.

Zwar versuchte er wie ein Edelmann aufzutreten, doch seine verschlissene, abgetragene Kleidung und die zahlreichen Flicken auf seinem Umhang legten die Vermutung nahe, dass er nicht gerade in Saus und Braus lebte. Zumindest darin entsprach er dem Bild, das man allgemein von einem aufstrebenden Künstler hatte: überheblich und mittellos.

»Ist dein Herr in seinem Zimmer?«, fragte der Maler mit seinem wohlklingenden Bariton.

»Ja, Signore, aber ich glaube nicht…«

»Kein langes Geschwätz, melde ihm, dass Giovanni Battista Sacchi ihn zu sprechen wünscht!«