KAPITEL XLV
Der Skorpion saß allein in dem kleinen Schlafzimmer, das man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und schliff die Klinge seines Schwerts mit einem milchfarbenen Stein.
Das Zimmer wurde nur von einer schwach brennenden Öllampe erhellt, die auf einer wackeligen Kommode stand, dem einzigen Möbelstück außer dem niedrigen Bett, auf dem er saß.
Er schien ganz in seine Tätigkeit versunken zu sein, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu den Geschehnissen der vergangenen Nacht ab und gingen noch einmal jede Einzelheit durch.
Bei seinem Eindringen in den Palazzo Salvaneschi wäre er beinahe gefasst worden, und wenn der Franzose nicht diese kleine Unvorsichtigkeit begangen hätte, wäre er, der Skorpion, der ungreifbare Meuchelmörder, der Schrecken aller Mächtigen, jetzt bloß noch ein weiterer zerstörter Mythos.
Er fragte sich, was er getan hätte, wenn der Musketier nicht so unbesonnen gewesen wäre, ihm eine Fluchtmöglichkeit zu öffnen.
Hätte er sich widerstandslos ergeben? Oder hätte er versucht, sich der Verhaftung zu entziehen, und den sicheren Tod in Kauf genommen?
Sosehr er sich auch selbst erforschte, fand er doch keine Antwort auf diese Fragen.
Er war sich stets der tödlichen Risiken seines Berufs bewusst gewesen, der Möglichkeit, dass ihn jederzeit der Todesstoß treffen konnte, doch das war eben eine logische, rationale Erwägung. Das Wissen darum, von einem Moment auf den anderen sterben zu können, hatte nie seine Entschlossenheit gemindert, die übernommenen Aufgaben zu Ende zu bringen und seinen Verpflichtungen nachzukommen. Diesmal aber empfand er anders.
Noch nie war er dem Tod so nahe gewesen, noch nie hatten die feindlichen Klingen seine Haut so dreist geritzt. Aber es war nicht nur das. Offenbar hatte er selbst sich verändert, ohne es zu merken. Das Alter hatte seine Beharrlichkeit gemindert, seine Verwegenheit gedämpft. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er vorsichtiger, besonnener, zögerlicher geworden war.
Und das war bei seiner Arbeit ein unverzeihlicher Fehler.
Vorsicht und Besonnenheit stellten eher ein Hindernis als einen Vorteil dar, wenn für das Gelingen eines Unternehmens Kühnheit und Entschlossenheit gefragt waren.
Jedes Zaudern, jedes Schwanken konnte fatale Folgen haben.
Vielleicht hätte er diesen Auftrag nie annehmen dürfen, vielleicht wäre es besser gewesen, sich aus der Sache zurückzuziehen, wie er es schon öfter erwogen hatte.
Doch nun war es zu spät.
Er war zu weit gegangen, um noch einen Rückzieher zu machen. Weniger seines Auftraggebers wegen als um seiner selbst, seiner Selbstachtung willen. Allein die Vorstellung, dass er bei seinem letzten Auftrag versagen sollte, war inakzeptabel.
Nein. Er musste zu der Entschlossenheit seiner besten Zeiten zurückfinden.
Seine körperliche Verfassung war nach wie vor ausgezeichnet, sein Auge scharf, die Hand sicher. Es gab keinen Grund, sich in Zweifel und Grübeleien zu verlieren. Der Skorpion war immer noch der Skorpion, und ganz Rom würde das erkennen.
Seine letzte Aktion war ein Fehlschlag gewesen, wohl wahr, aber die nächste würde perfekt werden, ein Erfolg auf ganzer Linie, davon musste er selbst überzeugt sein.
Schluss mit Tricks und Umwegen, Schluss mit ausgefeilten Plänen – diesmal würde er direkt und ohne Zeitverlust handeln.
Schnell und tödlich. Wie in den guten alten Zeiten.
Dazu aber musste er sich als Erstes der hinderlichen Überwachung durch seine neuen Verbündeten entledigen, die viel zu interessiert an seinen Aktivitäten waren. Er war von jeher ein einsamer Wolf gewesen, unvorhersehbar und unkontrollierbar und gerade deshalb tödlich erfolgreich. Wenn er sich der Hilfe anderer bedient hatte, dann waren das stets nur gelegentliche, zweckgerichtete Bündnisse mit klarer Rollenverteilung gewesen.
Er musste diese einengende Umgebung so schnell wie möglich verlassen und die Bewegungsfreiheit zurückgewinnen, die seine große Stärke war.
Er beschloss, noch ein paar Stunden zu warten und dann in tiefster Nacht das Haus zu verlassen und in die Gassen und Sträßchen der Stadt zurückzukehren.
Seine Feinde würden sich nicht leicht geschlagen geben und etwas Neues versuchen, irgendwelche neuen Schliche, eine neue Falle.
Und er würde bereit sein und ihnen zuvorkommen.
Wie früher, wie immer.
Fulminacci spürte, wie zwei Arme seinen Hals umklammerten.
In seinem Zustand, beschwert von dem reglosen Gewicht des Dominikaners und die Augen schweißverklebt, bekam er eine Heidenangst, denn er wusste, dass er nicht in der Lage war, es mit einem Angreifer aufzunehmen.
Er wehrte sich und versuchte, die erstickende Umklammerung abzuschütteln. Wenn er sich auch nur kurz von ihr befreien könnte, wäre es ihm möglich, seine Last zu Boden gleiten zu lassen, um die Hände zur Verteidigung frei zu haben.
Aber die Arme, die ihn erdrückten, ließen nicht locker.
Umso verwirrter war er, als er bemerkte, dass sein Angreifer, statt zu grunzen oder zu fluchen, wie man es erwarten würde, offenbar weinte. Diese Feststellung brachte ihn dazu, mit seinen hektischen Verrenkungen aufzuhören und seinen Kopf so zu neigen, dass er den anderen erkennen konnte.
Was er sah, bewirkte etwas, das Erschöpfung, Anspannung und Furcht nicht geschafft hatten.
Seine Beine gaben nach, und er fiel, wobei er seine Bürde und den Aggressor in einem scheinbar unentwirrbaren Knäuel aus Gliedmaßen mit sich riss.
Doch sein Bewusstsein schwand nicht, sondern erfuhr nur eine vorübergehende Trübung, die sogleich wieder verschwand – für einen kurzen Augenblick senkte sich ein dunkler Schirm, wie ein Bühnenhintergrund, über seine Augen.
Das Erste, was er erkannte, als der Schirm sich hob, war die dichte, rebellische rote Mähne, die er während der vergangenen, endlos langen Stunden so oft vor seinem geistigen Auge gesehen hatte.
»Beatrice, du bist gerettet!«, brachte er schwach heraus, da ihre Umarmung ihm immer noch die Luft abdrückte.
Zur Antwort erhielt er lediglich ein verstärktes Schluchzen und ein nochmaliges, festeres Zudrücken der Arme um seinen Hals.
»Beatrice, ich bitte dich, du bringst mich um!«
Die Freundin schien nicht die Absicht zu haben, ihn loszulassen, doch zum Glück sorgten hilfreiche Hände dafür, den Würgegriff um seine Halsschlagader zu lösen und ihm auf die Beine zu helfen.
»Mein Freund, wir fürchteten schon, dich verloren zu haben. Als ich mich umgedreht habe und du nicht mehr hinter mir warst, bin ich fast umgefallen vor Schreck. Aber wir konnten auch nicht umkehren und dich suchen, weil der Wärter sonst sicher Verdacht geschöpft hätte. Außerdem wussten wir ja immer noch nicht, was aus Beatrice geworden war.« Der Großmeister half ihm, die schwere Kapuze abzuziehen, und versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter, den der Maler in diesem Moment nicht unbedingt gebraucht hätte.
Fulminaccis Befreiung währte außerdem nicht lange. Sobald Zanes starke Hände Beatrice losließen, stürzte sie sich erneut auf ihn und zog ihn in eine überschwängliche Umarmung. Diesmal aber war er auf den Ansturm gefasst und reagierte mit ebensolcher Leidenschaftlichkeit.
Melchiorri und der stumme Zane warteten geduldig darauf, dass die beiden mit ihrem gegenseitigen Trösten fertig wurden, doch als die Sache sich in die Länge zu ziehen drohte, nahm der Großmeister sich die Freiheit dazwischenzugehen.
»Entschuldigt die Störung, aber ich möchte euch daran erinnern, dass wir uns immer noch im Palast der Inquisition befinden und nur durch ein Wunder bisher nicht entdeckt wurden. Wenn ihr eure Freudenbekundungen auf einen anderen Moment verschieben könntet, wäre ich euch unendlich dankbar. Haltet mich ruhig für überängstlich, aber unter den gegebenen Umständen bin ich nicht gerade die Ruhe selbst.«
Widerstrebend lösten sich die beiden aus ihrer Umarmung, doch die Blicke, die sie dabei wechselten, waren voller Versprechen.
»Gut«, sagte der Großmeister, »jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden, hier herauszukommen. Und während wir darüber nachdenken, sollten wir besser einen etwas verborgeneren Ort aufsuchen. Übrigens, Giovanni, wer ist der da eigentlich?«
»Ach so, das ist ein Dominikaner. Er hat mich unten in den Verliesen überrascht. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, habe ich ihn niedergeschlagen. Und da ich ihn schlecht dort liegen lassen konnte, habe ich ihn mitgeschleppt. Ich dachte, mit einer Leiche auf den Schultern wäre meine Tarnung perfekt.«
»Gute Idee. Lebt er noch?«
»Ehrlich gesagt habe ich ihm einen ziemlichen Schwinger versetzt, aber ich denke nicht, dass er tot ist.«
»Umso besser. Zane, nimm diesen Sack voll Unrat mit, und dann verstecken wir uns irgendwo, bis uns etwas einfällt, wie wir uns aus dem Staub machen können.«
Die vier hasteten durch das weitläufige Stallgebäude und fanden einen dunklen Winkel hinter einem Stoß Heuballen.
»Ihr habt mir noch nicht erzählt, was passiert ist«, sagte Fulminacci, als sie außer Sicht von Wachen oder Stallknechten waren.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Melchiorri. »Beatrice hat zwar den Trank erhalten, konnte aber die Botschaft nicht lesen, weil es in ihrer Zelle stockfinster war. Sie dachte, wir hätten ihr ein Gift geschickt, um ihre Qualen zu verkürzen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ich war verzweifelt«, unterbrach ihn Beatrice. »Ihr habt die Folterkammer nicht gesehen. Ich hatte sogar schon einen Strick aus meinem Unterrock geflochten, um mich damit zu erhängen. Die Flüssigkeit, die ich für Gift hielt, habe ich nur getrunken, weil ich dachte, dass es schneller geht und weniger schmerzhaft ist.«
Aufgewühlt von dem Leid der Frau, die ihm, wie er entdeckt hatte, so viel bedeutete, umarmte Fulminacci sie wieder.
»Als die Wärter in ihre Zelle kamen und sie für tot hielten, brachten sie sie gleich hierher in die Ställe, damit der Heuwagen die Leiche abtransportieren konnte«, fuhr Melchiorri fort. »Wir haben sie dort hinten gefunden, neben zwei Unglücklichen, die unter der Folter gestorben sind.«
»Sollte die Wirkung des Tranks denn nicht länger anhalten?«, fragte Fulminacci.
»Doch, aber Beatrice hat versehentlich etwas davon verschüttet. Deshalb wurde sie früher wach, aber Gott sei Dank haben wir sie als Erste entdeckt. Jetzt sollten wir jedoch langsam einen Weg finden, um hier rauszukommen. Früher oder später wird jemand auftauchen, und dieses Versteck erscheint mir nicht besonders sicher.«
»Warum laden wir Beatrice nicht einfach wieder auf eine Bahre und gehen durch den Haupteingang raus?«, schlug Fulminacci vor. »In den Augen der Wachen sind wir schließlich nur barmherzige Brüder, die die sterbliche Hülle eines armen Sünders abholen. Weshalb sollten sie was anderes vermuten?«
»So leicht ist es nicht, Giovanni. Während du in den Verliesen herumgeirrt bist, haben wir uns ein bisschen umgesehen und herausgefunden, dass die Wachen am Eingang kontrollieren, ob es sich wirklich um Leichen handelt, und sie mit dem Schwert durchbohren, um ganz sicherzugehen.«
»Diese Schweinehunde!«, rief der Maler. »Und was machen wir jetzt?« »Ich denke nach, Giovanni, ich denke nach. Lass mir ein wenig Zeit.«
»Dann bahnen wir uns eben mit Gewalt einen Weg, bei Gott! Am Eingang stehen nicht mehr als drei oder vier Schergen. Ihr bleibt hinter uns, und Zane und ich schaffen sie aus dem Weg. Sobald wir draußen sind, nehmen wir die Beine in die Hand. Was meint ihr?«
»Verzeih, Giovanni, aber das halte ich für eine ausgemachte Torheit. Selbst wenn es euch gelänge, die Wachen zu überwältigen, hätten wir sofort sämtliche Häscher der Inquisition auf dem Hals. Die geben keine Ruhe, bis sie einen geschnappt haben, und sie würden uns schnappen, das kannst du mir glauben. Nein, wir müssen mit List vorgehen.«
In diesem Moment hörten sie, wie das Stalltor aufging. Sie hockten sich schnell hinter die Heuballen und spähten durch die Lücken zwischen ihnen hindurch.
Ein Wagen, der von zwei ausgemergelten Gäulen gezogen wurde, kam herein und wurde von den armselig gekleideten Fuhrknechten in ihre Richtung gelenkt.
Er rollte noch einige Meter und hielt dann vor einer der Stallungen an.
Die beiden Fuhrknechte sprangen herunter, nahmen zwei Mistgabeln von der Ladefläche, öffneten das Gatter und begannen, Mist auf den Wagen zu häufen.
»Da haben wir unseren Passierschein«, murmelte Melchiorri und deutete auf den Wagen.
»Ich verstehe nicht ganz«, flüsterte der Maler zurück.
»Ganz einfach. Wir überwältigen die beiden Knechte, nehmen ihren Wagen und fahren hinaus. Zwei von uns müssen natürlich die Kleider der Stallburschen anziehen, während die anderen beiden sich unter dem Mist verstecken. Das ist nicht das Angenehmste, ich weiß, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.«
Der Maler, Zane und Beatrice sahen sich an und verständigten sich mit Blicken darüber, ob der Plan funktionieren konnte.
»Abgemacht«, sagte Fulminacci schließlich. »Auf geht’s!« »Langsam, Giovanni!«, hielt ihn der Großmeister zurück.
»Warum noch zögern?«, zischte der Maler. »Erledigen wir die Sache lieber gleich.«
»Lass uns wenigstens warten, bis sie den Mist fertig aufgeladen haben«, widersprach Melchiorri. »Oder hast du Lust, Pferdescheiße zu schaufeln?«
Fulminacci kam nicht dazu, weitere Einwände zu erheben, denn plötzlich erlangte der Mönch, den die vier Gefährten ganz vergessen hatten, das Bewusstsein wieder und fing an zu strampeln und leise zu wimmern.
»Bringt ihn zum Schweigen, sonst sind wir verloren!«, flüsterte Melchiorri.
Der Maler beugte sich über den ringenden Mönch, um ihm noch einen Hieb zu verpassen. Als er mit der Faust ausholte, verrutschte das Laken, in das der Dominikaner eingewickelt war, und Melchiorri sah sein Gesicht.
»Heilige Muttergottes!«, rief er. »Wir sind geliefert!«