KAPITEL XXVIII

 

Der Skorpion hatte es gerade noch geschafft, aus der Gasse in die kleine Straße abzubiegen, die zum Fluss führte. Kaum war er um die Ecke gebogen, hörte er das Fußgetrappel mehrerer durch die Hintertür seines ehemaligen Quartiers stürmender Männer.

Mit gleichmäßigen Schritten und ohne zu beschleunigen entfernte er sich durch das Gassengewirr vor der Herberge. Er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb.

Obwohl er seine Komplizen selbst ausgesucht hatte, befürchtete er, dass mindestens einer von den dreien sich fangen ließ und reden würde, um seine Haut zu retten. In dem Fall waren seine Feinde ihm vermutlich schon auf den Fersen.

Dennoch durfte er es nicht riskieren aufzufallen. Anscheinend hatten de Simara und sein Freund Azzolini ihre Spürhunde in der ganzen Stadt losgelassen, um ihm mit einer einzigen Großaktion den Garaus zu machen. Sie mussten plötzlich genaue Informationen über ihn besitzen, obwohl er keine seiner üblichen Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen hatte. Da war irgendwo etwas faul.

Der Skorpion brannte darauf, sein Versteck zu erreichen, aber er musste sich beherrschen, langsam gehen und sogar ab und zu stehen bleiben und die Waren auf den Ständen vor den Geschäften begutachten. Er glaubte nicht, dass seine Gegner in der Lage wären, ihn zu erkennen; nur verstohlenes Verhalten oder große Eile würde den Verdacht der in der Stadt herumlaufenden Spione erregen. Selbst wenn dieser verdammte Maler eine Beschreibung von ihm gegeben hatte, konnte sie nicht sehr genau sein. Auf dem kleinen Platz im Ghetto, wo sie ihm aufgelauert hatten, war es nicht hell genug gewesen, dass er seine Züge hätte erkennen können. Außerdem hatte er darauf geachtet, seinen Schal tief ins Gesicht zu ziehen, um es zu verbergen.

Allerdings konnte er sich nicht erklären, wie seine Verfolger die Herberge gefunden hatten, auf die sie so siegesgewiss zumarschiert waren.

Die Einzigen, die das Quartier gekannt hatten, waren seine drei in der Herberge zurückgebliebenen Kumpane, die jetzt entweder tot oder gefangen genommen waren.

Doch darüber würde er später nachdenken. Jetzt galt es, den anderen Zufluchtsort zu erreichen und sich auf den nächsten Schritt vorzubereiten. Es bestand zwar die Gefahr, dass einer von den dreien die Lage dieses Ortes verraten würde, doch er musste es riskieren. Dort hatte er Waffen und Geld. Sein Auftrag würde bald erledigt sein, und er durfte es nicht zulassen, dass Zweifel und Unsicherheiten ihn behinderten.

Der Skorpion ließ das Gassenlabyrinth hinter sich und kam zu einer Piazza, auf der ebenfalls einer der vielen Märkte stattfand. Er hüllte sich in seinen Umhang und zog die Hutkrempe tiefer herunter, wobei er dem frischen Nordwind dankbar war, der sein Tun vollkommen natürlich erscheinen ließ.

Auf der anderen Seite des Platzes ging er durch ein paar baufällige Arkaden und bog dann in eine Gasse voller Karren und Unrat ab. Er war fast am Ziel. Nur noch wenige Dutzend Schritte trennten ihn von der Sicherheit seines Schlupfwinkels, wo er sich neu ausrüsten und über sein weiteres Vorgehen nachdenken konnte.

Trotzdem ließ er nicht in seiner Wachsamkeit nach. Ehe er um die letzte Ecke bog, blieb er stehen, reckte den Hals und überzeugte sich, ob die Luft rein war.

Der Skorpion war ein kaltblütiger, erbarmungsloser Mörder, der sich nie von Gefühlen beherrschen ließ, doch selbst ihm schlug das Herz bis zum Hals, als er die sechs Männer sah, die das Haus bewachten.

Er hatte keinen Zweifel, dass sie auf ihn warteten.

Ruckartig zog er den Kopf zurück und machte kehrt.

Seine drei Gehilfen waren außer Gefecht gesetzt worden, so viel stand nun fest, und ebenso, dass einer von ihnen gesungen hatte, vermutlich unter Folter. Der Anführer der drei, ein Schweizer namens Manfred, war auch der Einzige, der Kontakt zum Rest der Bande hielt. Deren Mitglieder waren vor Ort angeworben worden, damit sie niemanden auf die Spur des Skorpions führen konnten, falls sie gefasst würden. Eine normale Sicherheitsvorkehrung, die er immer traf, nur dass sie sich diesmal gegen ihn wandte.

Jetzt, da Manfred aus dem Spiel war, konnte er keinen Kontakt zu den Männern aufnehmen.

Von diesem Moment an war er auf sich allein gestellt.

Es war jedoch nicht das erste Mal, dass er sich in dieser Lage befand. Im Gegenteil, in den Anfängen seiner Laufbahn hatte er immer und ausschließlich allein gearbeitet. Er erinnerte sich noch gut an seine Taten in jenem Jesuiteninternat in Paderborn vor fast einem halben Jahrhundert. Viele Nächte lang war er in diesen angeblich so sicheren Mauern ein- und ausgegangen wie ein Schatten oder ein Geist, und seine Klinge hatte nie ihr Ziel verfehlt. Nur eine Reihe von unerwarteten politischen Ereignissen hatte ihn daran gehindert, seinen Auftrag zu vollenden. Die Gewohnheit, gelegentlich mit Komplizen zusammenzuarbeiten, hatte er erst in den letzten Jahren angenommen. Vielleicht war er mit dem Alter etwas verweichlicht.

Doch jetzt war es wieder wie früher.

Er war frei und im Besitz seines tödlichen, rasiermesserscharfen Schwertes.

Er würde es ihnen zeigen. Mehr noch, er würde ihnen eine Lektion erteilen, die sie nie mehr vergessen würden.

Es würde eben ein bisschen schwieriger, mühsamer und riskanter werden als gedacht.

Aber auch aufregender.

Er musste lediglich einen sicheren Platz finden, an dem er sich bis zum Sonnenuntergang ausruhen konnte.

Dann wäre er bereit, wieder in Aktion zu treten.

Pater Kircher wickelte sich in seinen Wollschal. Ihm war kalt.

Sein Diener Fernando war schon dreimal in den Keller gegangen, um Holz für den Kamin zu holen, in dem nun ein ungewöhnlich großes Feuer brannte.

Trotzdem fror Pater Kircher immer noch.

Es lag nicht nur am Nordwind, der durch die Fenster pfiff.

Was ihn bis in die Knochen frösteln ließ, war noch etwas anderes.

Die Kälte schien von den verstreuten Blättern auf seinem Schreibtisch auszugehen, von den geheimnisvollen Zeichen und kabbalistischen Symbolen, die der Gelehrte mit fiebriger Hand während einer Nacht der Sternenbeobachtung aufgezeichnet hatte.

Was vor wenigen Tagen nur ein Verdacht gewesen war, hatte sich nun als erschreckende Tatsache bestätigt.

Kircher hatte gehofft, dass die Schlussfolgerungen aus seinen Observationen durch tiefer gehende Studien widerlegt würden. Dass seine Sorge unbegründet wäre und seine Furcht voreilig.

Doch nun gab es keinen Zweifel mehr.

Die Beschreibung des chaldäischen Textes war von anderen Büchern und Prophezeiungen bestätigt worden, die bis in das Dunkel der Zeit zurückreichten und von den größten Gelehrten des Altertums stammten.

Sogar ein Buch aus der Neuen Welt über die Weisheiten jener geheimnisvollen Völker dort, das von einem Mitbruder, der dort zwanzig Jahre gelebt hatte, verfasst worden war, schien seine schreckliche These zu erhärten.

Das Zeitalter des Skorpions war gekommen.

Der Antichrist hatte Menschengestalt angenommen und lief durch die Straßen der Ewigen Stadt.

Die letzte Schlacht zwischen der Finsternis und dem Licht würde bald beginnen.

Und er, Pater Kircher, musste sich gleich zum Ausgehen fertig machen, um Königin Christine von Schweden im Palazzo Riario zu besuchen. Die Königin war dabei, ein großes Frühlingsfest vorzubereiten, zu dem die ganze vornehme Gesellschaft Roms eingeladen werden würde.

Sie hatte ihn damit beauftragt, ein Spektakel aus Licht- und Klangeffekten vorzubereiten, das die illustren Gäste verblüffen und entzücken sollte, und er hatte sich angesichts der hartnäckigen Entschlossenheit der Königin diesem Auftrag nicht entziehen können.

Doch was für eine Nichtigkeit! Was für eine unerträgliche Eitelkeit, diese frivolen, vergänglichen Vergnügungen, vor allem jetzt, da die Welt am Rand des Abgrunds tanzte.

Der Jesuit hätte am liebsten das Fenster aufgerissen und ganz Rom, der ganzen Christenheit, der ganzen Menschheit zugerufen, was vermutlich nur er allein wusste.

Er wünschte, seine schwache Stimme würde sich in ein Brüllen verwandeln und jeden Mann, jede Frau, jedes Kind warnen, sich auf die große Prüfung vorzubereiten, auf das furchtbare Getöse der Trompeten von Armageddon, die die Menschheit zum Jüngsten Gericht riefen.

Vanitas vanitatum!

Kircher stellte sich ans Fenster und betrachtete die in den Straßen wimmelnden, nichts ahnenden Bewohner der Stadt. Von hier oben aus gesehen wirkten sie wie Ameisen, die auf ein vernichtendes Feuer zuliefen.

Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und überprüfte mit brennenden Augen zum zigsten Mal seine Berechnungen, in der schwachen Hoffnung, irgendeinen Faktor übersehen zu haben, doch all seine Ergebnisse stimmten überein. Er schloss die Augen und rieb sich die müden Lider.

Er fror und war müde, viel zu müde.

Gern hätte er sich wieder ins Bett gelegt, um im Schlaf die schreckliche Wahrheit zu vergessen, die in ihrer unabwendbaren, schonungslosen Deutlichkeit vor ihm stand.

Doch er wusste, dass er das nicht konnte.

Gleich würde Fernando mit einer Schüssel voll warmem Wasser für die Morgentoilette hereinkommen. Sein Diener würde ihm den Bart und die Haare stutzen, damit er ordentlich vor der Königin erschien, und ihm beim Ankleiden helfen.

Die königliche Kutsche würde im Hof des Collegium Romanum halten, und er würde einsteigen und sich ans andere Flussufer fahren lassen.

Natürlich würde er sich nichts anmerken lassen, er würde sich zuvorkommend benehmen, der Königin jede gewünschte Erklärung geben und sich in Einzelheiten über die wissenschaftlichen Grundlagen seiner optischen und akustischen Apparaturen ergehen.

Er würde sich wie immer verhalten und nichts von seiner Unruhe und Besorgnis erkennen lassen, denn es hätte keinen Sinn, Alarm zu schlagen, es hätte keinen Sinn, in alle vier Windrichtungen zu schreien, dass die Zeit gekommen war.

Die Ohren der Menschen waren nicht dafür geschaffen, die donnernde Stimme Gottes des Allmächtigen zu hören. Ihre Sinne, obwohl sie von seiner liebenden Hand geschaffen worden waren, waren nicht fähig, den kristallklaren Klang der Engelstrompeten zu empfangen, genauso wenig wie ihre Seelen bereit waren, die Wahrheit in sich aufzunehmen.

Alles würde seinen gewohnten Gang gehen; jeder würde sich einzig um seine alltäglichen Verrichtungen kümmern, in der Überzeugung, noch genug Zeit zu haben, um seine Pläne zu verwirklichen und seine Wünsche zu befriedigen.

Aber die Zeit war abgelaufen!

Nur ein Dutzend Auserwählte, die über die weite Welt verstreut waren, hatten das Warnsignal, hatten den Ruf vernommen.

Und er gehörte dazu.