KAPITEL XXVI
Der Skorpion stand auf und ging zu einem Fenster, von dem aus man die Piazza überblickte.
Durch die schmutzigen, gewellten Scheiben beobachtete er das muntere Treiben auf dem kleinen Markt vor der Herberge. Käufer und Händler schwärmten um die Stände herum und gaben sich geschäftig ihrem Tun hin. Geduldig und aufmerksam musterte er Gesicht und Körperhaltung jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes und suchte nach irgendwelchen Auffälligkeiten, nach einem ungewöhnlichen Verhalten.
Aufmerksamkeit.
Das war von jeher seine Parole gewesen.
Aufmerksamkeit für jede Besonderheit, jede Einzelheit, jede Nuance.
Seinen Beruf konnte man nicht ausüben, wenn man nicht in jedem Moment, bei Tag wie bei Nacht, Aufmerksamkeit walten ließ.
Und er war der Beste in diesem Beruf, die unbestrittene Nummer eins.
Seit mehr als vierzig Jahren.
Wie es ihm häufiger in letzter Zeit passierte, wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit zu dem Tag, als er mit siebzehn Jahren zum ersten Mal dem Tod begegnet war und in ihm seinen Meister gefunden hatte.
Es war ein Tag wie jeder andere auf dem Landgut seiner Eltern gewesen.
Sie waren wohlhabend. Das Gut war groß, solide und zweckmäßig gebaut, mit Kornspeichern, Kuhställen und Schweinepferchen. Dazu Gänse, Hühner, Enten und Kaninchen. Und Land, fetter, fruchtbarer, gut bewässerter Boden.
Das Haus war voller Mägde und Knechte, die die groben Arbeiten verrichteten. Seine Mutter wachte über alles, prüfte jede Kleinigkeit, denn, wie sie jeden Tag wiederholte, wenn man sich nicht selbst um alles kümmert, kann auch das Paradies zugrunde gehen.
Sein Vater war bei der Gerste in den Speichern gewesen. In einigen Tagen wäre es Zeit, das erste Herbstbier zu brauen, das stärkste, dunkelste und aromatischste, das er noch nicht trinken durfte.
Da seine Hilfe nicht gebraucht wurde und er noch nicht einmal das Ergebnis dieser vielen Arbeit würde kosten dürfen, hatte er sich auf einen grasbewachsenen kleinen Hügel verzogen und beobachtete von dort die Arbeiter, die die Trockenplätze für das Getreide vorbereiteten.
Seine große Schwester hatte Anfang Mai geheiratet und lebte nun über dreißig Meilen weit weg im Haus ihres Ehemannes. Grete fehlte ihm; sie war eine gute Schwester, sanftmütig und fröhlich, und hatte immer ein Lächeln, eine Liebkosung oder eine Leckerei für ihn gehabt. Mit Grete hatte er sich wohlgefühlt, doch jetzt war sie für immer fort.
Seine beiden jüngeren Brüder spielten im Haus. Sie waren noch Kinder, zwei greinende Nervensägen, die er nicht mehr ertragen konnte, seit er fast ein Mann war.
Kleine Wolkenfetzen trieben am Horizont über den Himmel, und er hatte sich in die Betrachtung dieser weißen, veränderlichen Gebilde verloren.
Sie waren ganz plötzlich aus dem Wald herbeigesprengt gekommen.
Im Nu hatten sie das Haus umzingelt und schlugen mit ihren Schwertern und Piken zu.
Der Erste, der fiel, war sein Vater. Der Mann, der ihn durchbohrte, lachte dabei, und als sein Vater zu Boden stürzte, wütete er gegen ihn, bis er sich nicht mehr bewegte.
Nachdem der Gutsherr tot war, ging das Massaker richtig los. Die Angreifer verteilten sich auf dem ganzen Anwesen und gaben sich maßlos jeder Freveltat hin.
Männer, Frauen und Kinder wurden von diesen blutrünstigen Teufeln abgeschlachtet.
Er hatte gesehen, wie einige von ihnen ins Haus liefen. Er hatte die Schreie gehört. Er hatte den Rauch aus den offenen Fenstern quellen sehen.
Kurz darauf kamen die Männer wieder heraus. Sie lachten, grölten, tranken. In den Armen trugen sie die zusammengeraffte Beute.
Innerhalb weniger Minuten stand das ganze Haus in Flammen.
Er war nicht mehr als hundertfünfzig Schritte von dem Geschehen entfernt, aber er fand nicht die Kraft, sich zu bewegen. Vor Angst und Entsetzen gelähmt konnte er keinen Muskel regen.
Starr verfolgte er das Gemetzel. Niemand bemerkte ihn, niemand kam in seine Richtung, als wäre seine Gestalt, die flach auf der kleinen Erhebung lag, von einem dichten Nebel umhüllt und den Augen der Mörder entzogen.
Das Gemetzel und die Zerstörung der Gebäude gingen weiter, bis keiner der Bewohner mehr lebte und alles in Flammen stand.
Er hatte Friedrich Bergbaum, ihren Nachbarn, der das Massaker anführte, genau erkannt.
Dieser Nachbar war das Oberhaupt des katholischen Lagers im Dorf.
Es hatte erbitterte Streitgespräche zwischen ihm und seinem Vater gegeben, vor allem in letzter Zeit, aber niemand hätte je gedacht, dass dieser dicke, gichtige, joviale Mann zu gewalttätigen Mitteln greifen würde, um den Disput zu beenden.
Nun, da die päpstlichen Truppen immer näher rückten, hatte er offenbar den Mut gefunden, einen Haufen von Mordbrennern um sich zu versammeln und sich seinen Vater, das Oberhaupt der lutherischen Partei und Besitzer des reichsten Gutes in der Umgebung, vom Hals zu schaffen.
Als das Gut nur noch aus rauchenden Trümmern bestand, war die Bande in langsamem Trab abgezogen und hatte die verschonten Tiere und zwei Wagen voll Diebesbeute mit sich geführt.
Er war den ganzen Tag und die folgende Nacht auf dieser grasbewachsenen Anhöhe geblieben, unfähig, sich zu rühren, unfähig zu weinen, innerlich vollkommen leer, ohne jedes Gefühl.
Bei Sonnenaufgang hatte er endlich die Kraft gefunden, aufzustehen und zu den qualmenden Überresten hinunterzugehen.
Er hatte fast den ganzen Tag gebraucht, um seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder und die anderen Männer, Frauen und Kinder des Hofes zu begraben, die überall verstreut lagen, wo der Tod sie getroffen hatte.
Er hatte ohne Pause geschuftet, mit trockenen Augen und ohne sich um Müdigkeit, Trauer und die Nachwirkungen des Grauens zu kümmern.
Als die Nacht hereinbrach und sein barmherziges Werk getan war, hatte er sich auf den Weg zu seiner Schwester gemacht, dem einzig sicheren Zufluchtsort, auf den er hoffen konnte.
Er war die ganze Nacht und einen Großteil des folgenden Tages marschiert.
Als er vor dem Haus der Schwester stand, war er vollkommen erschöpft und hatte hohes Fieber.
Hilfreiche Hände hatten ihn in Empfang genommen, aber er konnte nur noch einen unzusammenhängenden Bericht über das Geschehen auf dem Gut stammeln, dann war er in eine tiefe, von Erschöpfung, Fieber und Schrecken ausgelöste Bewusstlosigkeit gefallen.
Fast zwei Wochen lang hatte er zwischen Leben und Tod geschwebt. Wäre er nicht so jung und gesund gewesen, wäre er gestorben, aber er hatte eine kräftige Konstitution und überlebte.
Und er beschloss, Rache zu nehmen.
Als er wieder auf den Beinen war, hatte er sich dermaßen verändert, dass selbst seine Schwester ihn kaum wiedererkannte.
Aus dem rundlichen, pausbackigen Jungen war ein magerer junger Mann geworden, der wie von innen ausgezehrt wirkte. Seine Fröhlichkeit und Liebenswürdigkeit hatten einer düsteren Schweigsamkeit Platz gemacht. Er kam rasch wieder zu Kräften, aber seine gewohnte Unbekümmertheit gewann er nie mehr zurück.
Eines Nachts hatte er, ohne jemandem Bescheid zu sagen, ein Pferd und eine kleine Sichel aus dem Stall geholt, die einzige Waffe, deren er habhaft werden konnte, und sich auf den Weg gemacht.
Zur dunkelsten Stunde hatte er sein Ziel erreicht und war im Schutz der Finsternis in das Gehöft von Meister Bergbaum eingedrungen.
Der Grundbesitzer schlief selig in seinem großen Federbett neben seiner Frau.
Er hatte sie beide abgestochen wie die Schweine.
Falls er befürchtet hatte, dass ihm im entscheidenden Moment die Hand zittern würde, so erwies sich diese Sorge als unbegründet. Sein Arm, der die Waffe führte, bewegte sich fest und sicher, und die Klinge erledigte ihre Arbeit schnell und effizient.
Da sein Rachedurst noch nicht gestillt war, war er vom Zimmer der Eheleute zu den sechs Kindern gegangen und hatte auch sie nacheinander umgebracht. Nur der älteste Sohn, der ungefähr in seinem Alter war, hatte noch Zeit gehabt aufzuwachen, bevor die scharfe Klinge seine Kehle traf.
Er nahm nichts mit, kein Geld, keinen Schmuck, keine Wertgegenstände. Auf einer Truhe neben dem Bett der Eheleute fand er jedoch einen Bernstein in einer fein ziselierten Silberfassung. Einen Bernstein, in dessen Mitte er einen winzigen, perfekt erhaltenen Skorpion erkannte.
Einer plötzlichen Regung folgend, die er selbst nicht zu erklären wusste, hatte er das Schmuckstück an sich genommen und an seinen Gürtel gehängt. Dann, als sein Werk vollendet war, war der junge Mörder in Richtung Norden weitergezogen.
Der Skorpion erinnerte sich an diese Nacht vor vierzig Jahren, als wäre es gestern gewesen. Was sich ihm besonders eingeprägt hatte, war das Gefühl der Befriedigung, diese fast körperliche Lust, die er beim Töten dieser Familie empfunden hatte. Eine Befriedigung und eine Lust, die sich nicht allein mit dem gestillten Rachebedürfnis erklären ließen.
Es war noch etwas Dunkleres, tiefer Gehendes, was ihn antrieb.
Dieselbe Befriedigung und dieselbe intensive Lust hatte er gefühlt, als er einen Unbekannten im Auftrag eines anderen getötet hatte.
Und jedes Mal wieder, bei jedem Mord.
Innerhalb weniger Jahre war er zu einem Heimatlosen ohne Wurzeln und Identität geworden.
Er war der Skorpion geworden.
Ungehalten rieb er sich die Nasenwurzel. Er war müde und unruhig zugleich. Diese Erinnerungen lenkten ihn stets zu sehr ab – besser wäre es, nicht an die Vergangenheit zu denken. Noch besser, überhaupt nicht zu denken und sich auf das Tun zu konzentrieren.
Er richtete seinen Blick wieder bewusst auf die Piazza und merkte sogleich, dass es doppelt gefährlich war, sich in Erinnerungen zu verlieren. Während sein Geist in der fernen Vergangenheit herumgestreift war, hatte seine Wachsamkeit nachgelassen, und er hatte nicht mehr auf seine Umgebung geachtet.
Als er erkannte, was vor sich ging, war es schon beinahe zu spät.
An der anderen Seite der Piazza hatte sich eine Gruppe von Männern versammelt, die aus den Seitengassen aufgetaucht sein mussten.
Sie waren wie Bauern gekleidet, waren aber mit Sicherheit keine Bauern. Sein geübter Blick und dieser sechste Sinn, der ihn schon oft aus Gefahren gerettet hatte, sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte.
Die Männer schlenderten über den Markt, als interessierten sie sich für die ausgestellten Waren, aber der Skorpion wusste, dass sie nach ihm suchten.
Er reagierte in Windeseile, schnappte seinen Umhang, den Hut und das Schwert und war schon aus dem Zimmer und auf der Treppe, als ein paar von den Schergen sich anschickten, die Schankwirtschaft im Erdgeschoss zu betreten. Er lief zum hinteren Teil der Taverne, sauste wie der Blitz durch die Küche und kam auf der Rückseite des Hauses heraus, in einer engen Gasse voller Abfälle.
Mit entschlossenen Schritten, aber ohne der Versuchung nachzugeben, sofort loszurennen, ging der Skorpion durch die Gasse, überquerte eine Kreuzung und bog in eine größere Gasse ein, die quer zu der vorigen verlief und belebter war, sodass er sich unter die Passanten mischen konnte.
Er bezweifelte, dass seine drei Komplizen in der Taverne die herannahende Gefahr genauso schnell erkannt hatten; wahrscheinlich waren sie beim Eindringen des Feindes gerade beim Zechen oder vergnügten sich mit einer Hure. Er hatte keine Zeit, sich Gedanken um sie zu machen, und verspürte auch keinerlei Bedauern über ihr Schicksal. Wer diesen Beruf ausübte, kannte die Risiken und wusste, dass er beim Gefasst werden genauso viel Gnade zu erwarten hatte, wie er seinen Opfern gegenüber zeigte.
Der Skorpion besaß noch einen anderen Schlupfwinkel in der Stadt.
Wenn es ihm gelang, ihn zu erreichen, war er in Sicherheit, zumindest für einige Tage, einige Stunden. Er brauchte nicht mehr viel Zeit. Die Liste seines Auftraggebers wurde immer kürzer.
Noch vier Namen, noch viermal entschlossen zuschlagen.
Danach würde er in den Norden zurückkehren können. Wo er auf einen neuen Auftrag warten würde.
Es war noch nicht an der Zeit, sich zur Ruhe zu setzen.