KAPITEL IV

 

Fulminacci entfernte sich von Santa Maria Maggiore und ging auf die Stadtmitte zu.

Als er den Hauptplatz des Esquilin hinter sich gelassen und die Obstgärten erreicht hatte, sah er sich nach einem ruhigen Winkel um, wo er seinen kostbaren Fund in Augenschein nehmen konnte.

Er bog von der stark frequentierten Hauptstraße ab und schlug einen von Hecken gesäumten Weg ein, der auf einen kleinen Platz mit einer großen, dicht belaubten Platane in der Mitte führte.

Hier wartete er kurz ab, ob er auch wirklich allein war und niemand hinter ihm den Weg entlangkam, bevor er das Schmuckstück aus der Tasche holte.

Es handelte sich um einen eiförmigen Bernstein von der Größe einer Walnuss in einer Fassung aus massivem Silber, die oben mit einer Öse versehen war, offenbar, um den Stein an einer Kette um den Hals oder am Gürtel tragen zu können.

Die Fassung war zierlich in Form zweier Brombeerranken gearbeitet, die sich um den Bernstein wanden und sich an der Öse mit elegantem Schwung vereinten.

Der Maler hielt das Schmuckstück gegen das Licht und sah, dass ein Insekt darin gefangen war. Mit Bernstein war er schon früher in Kontakt gekommen, denn die Juwelierläden in Mailand boten jede Menge davon an, und ein paarmal war er von einem Goldschmied mit einem Entwurf für eine Fassung beauftragt worden. Noch nie aber war ihm ein so einzigartiges Stück begegnet: In der Mitte des durchsichtigen Harzes konnte man einen winzigen Skorpion erkennen, vollständig erhalten und perfekt konserviert.

Das Schmuckstück war zweifellos sehr wertvoll, und er dachte daran, es Pater Kircher zu bringen, der schon seit vielen Jahren ein Kuriositätenkabinett mit ungewöhnlichen und seltsamen Gegenständen aus aller Welt unterhielt.

Um die Finanzen des Malers stand es dieser Tage nicht zum Besten. Er war zwei Monate mit der Miete im Rückstand, seine Rechnung bei der Osteria, in der er einen großen Teil seiner Mahlzeiten zu sich nahm, belief sich mittlerweile auf eine beträchtliche Summe, und bei drei oder vier zwielichtigen Zeitgenossen hatte er nicht geringe Spielschulden. Kurzum, seine Situation war besorgniserregend, zumal er auf absehbare Zeit keine Einnahmen zu erwarten hatte, mit denen er all diese Schulden begleichen konnte.

Er drehte seinen kostbaren Fund in der Hand und war sicher, vom Pater einen Betrag dafür zu bekommen, der ausreichte, um die offenen Rechnungen zu begleichen. Mehr noch, wenn er sich beim Handeln geschickt genug anstellte, würde er vielleicht eine Zeit lang gar keine Geldsorgen mehr haben.

Er schob das Schmuckstück wieder in die Rocktasche und kehrte auf die Hauptstraße zurück, wo er sogleich den Weg zum Collegium Romanum einschlug.

Es war nicht nur die Aussicht auf einen üppigen Geldsegen, die ihn antrieb. Der kleine Skorpion, der im Innern des Bernsteins zu schwimmen schien, hatte ihn neugierig gemacht. Sosehr er auch seine Fantasie bemühte, konnte er sich doch nicht vorstellen, wie das Insekt in diesen Stein hineingekommen war, und er hoffte, dass Pater Kircher ihm dieses merkwürdige Phänomen erklären würde.

Er brauchte nicht lange bis zum Jesuitenkolleg, denn der Gedanke an eine ebenso ansehnliche wie unerwartete Einnahme verlieh ihm Flügel.

Mit langen Schritten ging er durch den Haupteingang und rannte fast die Treppe hinauf, die zu Kirchers Räumen führte.

Im Korridor wurde er vom Diener Fernando aufgehalten, der gerade in diesem Moment aus dem Schlafzimmer des Geistlichen kam.

»Ich muss mit Pater Kircher sprechen«, sagte der Maler und verlieh seiner Stimme die größtmögliche Autorität, »es geht um eine dringende Angelegenheit.«

»Pater Kircher ist unpässlich, Signore«, antwortete der Diener, »er hat ausdrücklich darum gebeten, nicht gestört zu werden.«

»Ich kann nicht warten«, insistierte Fulminacci. »Wenn er den Grund meines Besuches erfährt, wird er froh sein, mich empfangen zu haben. Geh und melde mich ihm!«

Fernando verstand, dass es keinen Zweck hatte, sich diesem Großmaul zu widersetzen. Sein herrisches, drohendes Verhalten schüchterte ihn jedes Mal aufs Neue ein. Mit einem ergebenen Seufzer kehrte er dem Maler den Rücken, klopfte unterwürfig an die Tür und trat ein.

Pater Kircher saß in seinem Sessel und starrte mit abwesendem Blick in den blauen Himmel. Seine herabhängenden Schultern, die im Schoß gefalteten, bleichen und leicht zitternden Hände, der halb geöffnete Mund – alles an ihm sprach von seinem inneren Aufruhr.

Fernando richtete seinem Herrn den Wunsch des Malers aus und verhehlte auch nicht dessen Beharrlichkeit.

Kircher rieb sich müde die Augen.

»Dieser Mensch gibt nie auf«, sagte er mit leiser Stimme. »Führ ihn herein, Fernando. Da wir ihn anders nicht loswerden, wollen wir wenigstens hören, was er will.«

Sobald er vor dem Pater stand, berichtete Fulminacci, was er im Laufe des Vormittags erlebt hatte, und gab ihm das Schmuckstück.

Kircher wirkte geistesabwesend und nahm es, ohne es anzusehen. Es kostete ihn offenbar eine gewisse Anstrengung, seine Augen auf den schimmernden Bernstein zu richten.

Doch kaum hatte er ihn bewusst betrachtet, veränderte sich seine Haltung vollkommen. Sein vorher schon blasses Gesicht wurde weiß wie die Wand, und er fing an, in seiner Muttersprache zu stammeln: »Mein Gott… mein Gott…«

Wie hypnotisiert starrte der Pater den Gegenstand einen endlosen Augenblick an, dann erschlaffte seine Hand, sodass das Schmuckstück auf den Teppich fiel und ein Stück davonrollte. Kircher wollte sich aus seinem Sessel erheben, aber die Beine gehorchten ihm nicht, und er sank entkräftet in das weiche Polster zurück.

Fulminacci stürzte zu ihm, besorgt und verwirrt über seine Reaktion und voller Angst, ein ernstes Übel könnte den Pater befallen haben.

Die Hände des Jesuiten waren eiskalt, die Lippen bläulich, und sein Atem ging keuchend.

Weil der Maler nicht wusste, wie er sich nützlich machen konnte, rannte er zur Tür und rief nach dem Diener, der in der Nähe geblieben war und sofort herbeieilte.

Umsorgt von Fernando schien Kircher kurz zu sich zu kommen und riss die Augen weit auf, aber sein Blick war glasig.

»Ist es immer noch nicht vorbei?«, murmelte er und fiel wieder in seinen halb bewusstlosen Zustand zurück.

Fernando lief hinaus, um einen Arzt zu rufen, und da dieser ebenfalls der Gesellschaft Jesu angehörte, traf er innerhalb weniger Minuten ein.

Der Arzt schickte den Maler barsch weg und trug Kircher mit Fernandos Hilfe zum Bett. Es vergingen mehrere Minuten, ehe der Pater das Bewusstsein wiedererlangte.

Als Kircher die Augen aufschlug, befand er sich in einem Zustand tiefer Erschöpfung, weshalb der Arzt auf sein ursprüngliches Vorhaben, einen Aderlass vorzunehmen, verzichtete. Stattdessen ließ er einen Kelch mit starkem griechischem Wein aus Monemvassia kommen, dem er ein paar Gewürze hinzufügte, und verabreichte mit Fernandos Unterstützung dem Kranken ein paar Schluck davon.

Der Wein brachte wieder etwas Farbe auf die Wangen des Paters, der sogar die Kraft fand, seinen Helfern zu danken und sie zu bitten, ihn nun ein wenig ruhen zu lassen.

Widerstrebend zogen sich die beiden Männer zurück, ließen die Tür aber halb offen stehen. Fernando würde direkt davor Wache halten und bei Bedarf sofort an das Lager seines Herrn eilen.

Als er allein war, schloss Kircher erschöpft die Augen. Der Wein hatte seinen Körper gewärmt, aber seine Seele war von einer Kälte durchdrungen, die durch nichts gelindert werden konnte.

Es war die Kälte eines Winters vor vielen Jahren, über vierzig mochten es jetzt sein, eines schrecklichen Winters in der jesuitischen Novizenschule von Paderborn in Deutschland, seiner Heimat.

Zu dieser Zeit war er noch ein Student gewesen, kaum mehr als zwanzig Jahre alt, hatte aber bereits den Weg der Erkenntnis und des Wissens beschritten.

Das Leben in der Novizenschule verlief ruhig und geordnet, bestimmt von Studien und Gottesdiensten. Der Lärm des weltlichen Lebens blieb hinter den schützenden Mauern zurück, und nichts schien den Frieden der Gemeinschaft stören zu können.

Bis die klösterliche Stille in einer stürmischen Nacht von einem markerschütternden Schrei zerrissen worden war.

Aufgeschreckt von diesem ungewöhnlichen und schaurigen Laut waren die Novizen in die Korridore geströmt, wo sie ängstlich und verwirrt miteinander tuschelten.

Einer der Patres hatte einen jungen Novizen barbarisch ermordet in seiner Zelle aufgefunden.

Kircher, dessen Zelle sich im selben Flügel des Gebäudes befand, gelangte als einer der Ersten an den Ort der Untat.

Die Leiche lag ausgestreckt auf dem kalten Steinfußboden, das lange Nachthemd war bis zum Oberkörper hochgeschoben, und die nackten Beine waren obszön entblößt. Aber das war nicht das Schlimmste. Jemand brachte eine Laterne, worauf sich den jungen Männern ein Anblick bot, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Leiche fehlte der Kopf, er war in die andere Ecke der Zelle gerollt, wo er mit dem Ausdruck des Entsetzens an die Decke starrte.

Das Blut, das immer noch in Rinnsalen aus dem Hals des Toten floss, bedeckte den Fußboden und sammelte sich zu einer großen Pfütze, die schon fast an den nackten, starren Füßen der umstehenden Novizen leckte.

Furcht und Schrecken loderten in den verstörten Gemütern der jungen Männer auf wie ein Feuer in trockenem Gras, und die Aufsicht führenden Mönche hatten nicht wenig Mühe, die Ordnung wiederherzustellen.

Am nächsten Morgen wurde eine Untersuchung eingeleitet, und alle Schüler wurden danach befragt, ob sie während der Schreckensnacht etwas Außergewöhnliches gehört oder gesehen hätten.

Das Ergebnis war entmutigend.

Niemand wusste etwas Erhellendes zu sagen, denn zum Zeitpunkt des Verbrechens hatten alle tief und fest geschlafen.

Die folgenden Tage vergingen in einem Klima nervösen Misstrauens. Jeder beobachtete seinen Nachbarn und fragte sich, ob der Mitbruder, der bei der Morgenandacht neben ihm saß oder die Abendmahlzeit ihm gegenüber einnahm, am Ende der brutale Mörder war, der das Leben im Novizeninternat erschüttert hatte.

In der Woche darauf wiederholte sich die Tat. Diesmal war das Opfer ein Schüler aus dem Norden des Landes, ein großer, fröhlicher und gutmütiger Junge, der von allen gemocht wurde.

Die Tatumstände waren dieselben. Es wurden keine Spuren gefunden, und keine Zeugenaussage konnte Licht auf diesen zweiten Mord werfen.

In der Novizenschule bildeten sich gegensätzliche Lager, die die Vorfälle unterschiedlich auslegten, und es kam zu heftigen Streitigkeiten, die von den Oberen mit ungewöhnlicher Härte beigelegt wurden.

Um wenigstens einen Anschein von Ordnung aufrechtzuerhalten, ordneten die leitenden Patres nächtliche Patrouillen an, in der Hoffnung, dass eine breite und engmaschige Überwachung des Gebäudes eine Wiederholung der erschütternden Vorfälle verhindern möge.

Es wurden Wachdienste eingeteilt, von denen keiner der Schüler ausgenommen werden durfte. Ihre Runden sollten die ganze Schule abdecken, und die Novizenpaare, welche die Gänge abgehen sollten, wurden durch das Los bestimmt, damit keinerlei Verdacht einer Komplizenschaft aufkommen konnte.

In einer Nacht in der folgenden Woche geschah es, dass Kircher, als er in den stillen, kalten Korridoren auf Patrouille ging, dem Bösen plötzlich Auge in Auge gegenüberstand.

Er war in Gesellschaft seines Zellennachbarn, eines Jünglings aus München von stattlichem Körperbau und munterem Wesen, als sein Kamerad ein unaufschiebbares Bedürfnis verspürte und in Richtung der Latrine verschwand. Auf Kirchers Einwände hin lachte er nur und sagte, dass er doch nur kurz fort sein werde. Kircher starb fast vor Angst bei dem Gedanken, allein in dem dunklen Gang zurückzubleiben, aber um nicht als Feigling zu gelten, fand er sich schließlich damit ab, geduldig auf die Rückkehr seines Kameraden zu warten.

Allerdings wollte er nicht mitten im Korridor stehen bleiben, wo ihn jeder sehen konnte, sondern beschloss, sich in einer Nische zu verkriechen. Es ging ja nur um ein paar Minuten, dachte er.

In der Wandnische stand eine Statue, die einen der Gründer der Novizenschule darstellte und hinter die sich Kircher nun zwängte, sodass er von einem Vorbeigehenden nicht gesehen werden konnte.

Es herrschte eine Eiseskälte im Gang, aber die Nacht war schon weit fortgeschritten, und die Müdigkeit begann die Oberhand über seine Furcht zu gewinnen, sodass er, ohne es zu merken, einnickte.

Kircher hatte keine Ahnung – niemand konnte so etwas ahnen –, was das Schicksal, der Zufall oder für einen Gläubigen wie ihn der Wille des Schöpfers seine schläfrigen Augen kurz darauf erblicken lassen sollte.