KAPITEL XXXIV

 

Capitaine de la Fleur konnte nicht unbedingt als empfindsamer Mensch bezeichnet werden. Er war ein Berufssoldat, ein Mann der Tat, der auf dem Schlachtfeld zu Hause war und vorwiegend kühle, oberflächliche menschliche Beziehungen und die Grobheit der Soldaten kannte. Dennoch machte ihn der Anblick betroffen, der sich ihm bot, als er, flankiert von seinen Musketieren, den Schlupfwinkel des Skorpions betrat. Dieser bestand aus zwei kargen Zimmern, in die nur stundenweise ein wenig schräges Sonnenlicht durch drei kleine Fenster mit Blick auf eine enge Gasse voller Unrat fiel.

Nicht, dass er viel erwartet hätte, doch als er die Siebensachen des Attentäters durchwühlte, fand er rein gar nichts, das etwas über das Wesen des Mannes aussagte, den sie so hartnäckig verfolgten. Seine drei Reisesäcke enthielten neben einem Sortiment an Waffen nur sehr schlichte Kleider in einheitlichen Farben von Dunkelgrau bis Rußschwarz. Keinen einzigen persönlichen Gegenstand, keinen Brief oder sonst ein Besitztum, das man nicht auch in der Klausurzelle eines Mönches oder der Grotte eines Einsiedlers früherer Zeiten hätte finden können. Keinen Kamm, keinen Talisman, kein Buch, keinen Schmuckgegenstand.

Geschärfte Stichwaffen, zwei geladene Pistolen, Geld und Kleider in Grau und Schwarz. Sonst nichts.

Die Erkenntnis von der weniger materiellen als vielmehr seelischen Armut seines Gegners jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Wie war es möglich, fragte er sich, dass ein Mann kein Bedürfnis hatte, ein paar persönliche Dinge mit sich herumzutragen, etwas, das ihn an seine Heimat erinnerte, an seine Familie, einen Freund oder sonst jemanden, der ihm lieb war? In der Herberge war er auf die gleiche bedrückende Unpersönlichkeit gestoßen: ein paar unbeschriebene Blätter Papier, Waffen, dunkle Kleidungsstücke.

De la Fleur hatte den Kontinent an der Spitze seiner Kompanie kreuz und quer bereist; er hatte an zwei großen Feldschlachten und vielen Scharmützeln teilgenommen. Stets war er, nachdem die Waffen geschwiegen hatten, zwischen den Gefallenen herumgegangen, und stets hatte er bei den gemarterten Körpern Spuren eines privaten Lebens gefunden: einen Gruß von der Liebsten, einen Brief von der Mutter, ein Amulett oder irgendeinen persönlichen Gegenstand.

Was war das für ein Mensch, den er da gefangen nehmen sollte? Eine kaltblütige Bestie, ein Wesen ohne menschliche Empfindungen, das auf dieser Unmenschlichkeit, auf seiner Verachtung für jedes Gefühl seinen Ruhm als nicht zu greifender, unfehlbarer Mörder aufgebaut hatte.

In den Monaten, in denen er dem Skorpion durch halb Europa hinterhergejagt war, hatte de la Fleur oft die Zähne zusammenbeißen müssen vor Ungeduld, ihn zu stellen, doch jetzt war er plötzlich nicht mehr so begierig darauf, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.

Mit einer halb resignierten, halb angewiderten Bewegung warf der Capitaine das Kleidungsstück weg, das er in der Hand gehalten hatte, und verließ das Haus, um frische Luft zu schnappen, soweit das in dieser vor Feuchtigkeit und Abfall stinkenden Gasse möglich war.

»Er ist nicht hier, Capitaine«, sagte Sergeant Bruyère und spuckte auf das schmutzige Pflaster.

»Das sehe ich selbst, Sergeant. Entweder ist er schon wieder abgehauen oder noch nicht eingetroffen. Vermutlich Letzteres.«

»Was machen wir jetzt?«, fragte der Sergeant.

De la Fleur schüttelte den Kopf. »Dieser ganze Einsatz ist von Anfang an schiefgelaufen. Savattieri und seine Leute haben alles vermurkst, und jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf unsere zahlenmäßige Überlegenheit zu verlassen. Wir wissen nicht, wo der Skorpion sich im Moment befindet, wohl aber, dass er irgendwo zwischen den vorrückenden Patrouillen und dem Fluss in der Falle sitzt. Die verschiedenen Trupps werden ihn auf den Tiber zutreiben, und dort werden wir ihn erwarten. Das ist zwar nicht ideal, aber besser als nichts. Kommt, Sergeant, gehen wir.«

Die beiden Männer traten auf die Straße, gefolgt von zwei weiteren Musketieren.

»Ihr vier«, sagte der Capitaine zu den Soldaten, die die Pferde hielten, »bleibt hier und bewacht das Haus. Die anderen, aufsitzen. Wir reiten zu den Brücken. Diesmal kann und darf er uns nicht entwischen.«

Pater Kircher stützte sich auf eine Balustrade mit Blick auf den Fluss. Die so gut wie schlaflose Nacht und der lange Spaziergang durch den Park hatten ihn vollkommen erschöpft, und er war froh, dass die Königin mitsamt ihrem schwatzhaften Gefolge weitergegangen war und ihm einen Augenblick der Ruhe gönnte.

Große Schwalbenschwärme jagten über den sturmzerzausten Himmel und woben mit ihren Flugbahnen ein verschlungenes Muster vor dem grauen Hintergrund der tief hängenden Wolken, das seine gequälte Seele aufheiterte. Zum hundertsten Mal fragte sich der Jesuit, welche Bedeutung wohl diese komplizierten Schnörkel der schwarzen, pfeilschnellen Wesen haben mochten. Denn in allem, auch in den Spielen dieser über den Himmel flitzenden kleinen Vögel, zeigte sich die Hand des Schöpfers. Das gesamte Universum schrieb den Namen Gottes in einer unendlichen Reihe, doch der Mensch in seiner Beschränktheit konnte nur flüchtige Schimmer davon erahnen. Pater Kircher hatte Zeugnisse des göttlichen Geistes bei seinen Erforschungen der Vulkankrater gefunden, bei seinem unermüdlichen Studium der Schriften der Weisen, in den seltsamen Formen der Obelisken und der Sphingen und in den geheimnisvollen Hieroglyphen. In der Gestalt der Kontinente. In den spiralförmigen Mustern von Meeresmuscheln. In den unzähligen Insektenarten. Jedem Stein hatte der Höchste seinen ewigen Willen eingeschrieben, mit einer Handschrift, welche die Menschen zu lesen nicht fähig waren.

Und doch hatte er, Athanasius Kircher, Jesuit und Gelehrter, in seinem unverzeihlichen Hochmut versucht, Gottes Schrift zu entziffern. Erst jetzt wurde ihm die Sünde bewusst, die er in seiner eitlen Hybris als Wissenschaftler begangen hatte. Erst jetzt verstand er – jetzt, da der Plan des Schöpfers in all seiner unsagbaren, erschreckenden Klarheit vor seinen Augen offenkundig wurde.

Jetzt, da er sozusagen mit dem Zeigefinger diese wundersame Handschrift nachfahren konnte, wie ein Kind, das die Buchstaben in einer Abc-Fibel lernt. Jeder Schnörkel, jeder Sturzflug, jedes Kreuzen von gefiederten Flugbahnen schrieb mit aller Deutlichkeit das Urteil an den Himmel, das der Menschheit drohte.

Der Tag war nahe.

Beatrice konnte nicht einmal behaupten, schlecht behandelt worden zu sein. Von dem Moment an, als sie auf das Boot verfrachtet wurde, gingen die Häscher mit ihr um wie mit einem leblosen Gegenstand. Die Mienen der beiden Ruderer drückten eine Mischung aus Abscheu und Angst aus, und das war auch schon das Letzte, was sie sah, da man ihr sofort eine Kapuze aus grobem Stoff über den Kopf zog. An Händen und Füßen gefesselt wurde sie in den hinteren Teil des Bootes geworfen, das sogleich ablegte. Alles, was sie hörte, war das Ächzen der beiden Fährmänner und das Klatschen der Ruder beim Eintauchen in das strudelnde Flusswasser.

Nach einer endlos scheinenden Weile vernahm sie den dumpfen Aufprall beim Anlegen des Bootes, worauf zwei Paar Arme sie achtlos packten, ans Ufer hoben und auf die Beine stellten. Mit einem Schubs bedeutete man ihr loszugehen, was ihr einige Schwierigkeiten bereitete. Aufgrund der langen Bewegungslosigkeit und weil sie nichts sehen konnte, schwankte sie hin und her wie eine Betrunkene, und nur durch eine Reihe von groben Stößen hielt sie die von den Häschern vorgegebene Richtung ein.

So ging sie eine Zeit lang blind einher, bis das veränderte Geräusch ihrer Schuhe auf dem Untergrund ihr sagte, dass sie einen geschlossenen Raum betreten hatte. Ihre fest auf den Rücken gefesselten Handgelenke pulsierten schmerzhaft, und unter der dicken, rauen Kapuze konnte sie kaum atmen.

Von den Stößen ihrer Wärter gelenkt bog Beatrice um mehrere Ecken, doch dann trat ihr rechter Fuß plötzlich ins Leere. Sie wäre gefallen wie ein Sack Kartoffeln, hätte einer der Männer aus ihrer stummen Eskorte sie nicht am Oberarm gepackt, und zwar so grob und ungeschickt, dass er ihr beinahe die Schulter ausrenkte. Der Mann hielt ihren Arm fest, bis sie eine steile Treppe hinuntergestiegen war, an deren Fuß sie das Quietschen einer an rostigen Angeln mühsam aufgezogenen Tür hörte.

Anonyme grobe Hände banden sie los und nahmen ihr die Kapuze ab. Das spürte sie jedoch nur, denn als sie von dem schweren Stoff befreit war, sah sie sich immer noch von Dunkelheit umgeben. Ein letzter, brutaler Stoß beförderte Beatrice in die Zelle, worauf sich die schwere Tür mit metallischem Getöse hinter ihr schloss. Danach folgte das Klappern des vorgeschobenen Riegels, dann Stille.

Sie konnte kaum die Wände um sich herum erkennen, aber was sie deutlich wahrnahm, waren die Kälte und die Feuchtigkeit, die diesen düsteren Ort durchdrangen.

Tastend suchte sie ihre Umgebung ab, was nicht lange dauerte, da die Zelle nur wenige Schritte in Länge und Breite maß. Ihre Beine stießen an der einen Wand gegen eine Bank, auf der sie mit den Händen etwas fühlte, das eine Decke sein musste. Kaum waren ihre Finger mit dem schmutzigen Wollstoff in Berührung gekommen, zuckten sie vor Ekel zurück. Sie war fast dankbar dafür, nichts sehen zu können, denn wenn sie diesen einzigen Schutz gegen die Kälte näher in Augenschein genommen hätte, hätte sie wahrscheinlich darauf verzichtet, ihn zu benutzen.

Bei der weiteren Erforschung des dunklen Lochs fand sie in einer Ecke zwei Krüge aus Terrakotta. Der kleinere enthielt Wasser, während der breitere und flachere leer war, sodass man sich denken konnte, wozu er diente. Sonst gab es nichts.

Beatrice untersuchte die enge Zelle noch einmal, aber das Einzige, was sie außerdem entdeckte, war ein Loch in einem Winkel der Decke, das anscheinend der Lüftungsschacht war. Als sie hineinsah, erkannte sie einen schwachen Lichtschimmer dahinter. Sie stellte sich auf die Bank und konnte den Rand des kleinen Schachts berühren, der jedoch zu schmal war, als dass ein Mensch hindurch passte, selbst wenn er so schlank war wie sie. Mit verzweifelter Sorgfalt inspizierte sie anschließend die Tür, die mit Schienen aus rostigem Metall verstärkt war. Auch hier fand sich kein Ausweg, denn das Holz war massiv und ohne Schloss auf der Innenseite, das man eventuell hätte aufbrechen können. Weil sie nicht aufgeben wollte, fuhr sie mit vor Kälte steifen Fingern alle Fugen zwischen den Steinblöcken der Wände und des Bodens nach.

Sie machte noch eine Zeit lang mit ihrer Erkundung weiter, obwohl inzwischen klar war, dass sie alles entdeckt hatte, was es zu entdecken gab. Nichts davon bot Anlass zu einer auch noch so schwachen Hoffnung.

Schließlich legte sie sich auf die Bank und zwang sich, an andere Fluchtmöglichkeiten zu denken, aber ihr Geist war benommen vor Kälte und der Furcht, dass diese Zelle ihr letztes Quartier auf Erden sein könnte.