KAPITEL XLIII

 

Die eisenverstärkte Zellentür öffnete sich mit lautem Quietschen, und Licht fiel von draußen herein.

Als Beatrice merkte, dass keine Zeit mehr für ihre Verzweiflungstat blieb, ließ sie die Schlinge aus ihren kältestarren Fingern gleiten. Auch das letzte Fünkchen Energie erlosch in ihren zitternden Gliedern, sie stürzte auf das Lager, als hätten ihre Knochen sich aufgelöst wie Schnee in der Sonne, und schlug dabei mit der rechten Hüfte hart gegen die Holzpritsche. Nach der langen Dunkelheit blendete sie sogar das milde Licht der Laterne, sodass sie eine Hand vor die Augen halten musste.

Für einen Moment war sie fast blind, doch dann gewöhnten sich ihre Augen an den Lichtschein, und sie erkannte eine Gestalt, die vorsichtig ihre Zelle betrat.

»Wer… Wer seid Ihr?«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Habt keine Angst, ich bin ein Freund. Draußen gibt es Menschen, die Euch nicht vergessen haben. Ich soll Euch das hier von ihnen bringen.«

Beatrice griff tastend nach dem Bündel, das der Mann ihr gab.

»Was… wie… wer… ?«, murmelte sie schwach und brachte keinen einzigen Satz heraus.

»Für Erklärungen ist keine Zeit. Ich habe mich schon genug in Gefahr begeben, ich muss gehen.«

Ohne ein weiteres Wort und ohne auf ihr Gestammel zu achten, verließ der rätselhafte Mann die Zelle und verriegelte die Tür hinter sich.

Beatrice saß wieder allein im Finstern.

Das kurze Aufblitzen der schwachen Laterne aber hatte eine kleine Flamme der Hoffnung in ihrer gebrochenen Seele entzündet. Sie umklammerte das Päckchen wie einen Rettungsanker auf stürmischer See.

Zuerst war sie zu überwältigt und aufgewühlt, um es näher zu untersuchen und festzustellen, um was es sich handelte.

»Menschen, die Euch nicht vergessen haben.« Die wenigen Worte wirbelten in ihrem Kopf herum wie ein wild gewordener Kreisel, ohne dass sie die Kraft fand, vernünftig über sie nachzudenken. Sie drehte das Bündel weiter in ihren Händen, als wollte sie durch die fassbare Stofflichkeit des Gegenstandes die Verbindung zu einer Welt aufnehmen, die sie für immer verloren geglaubt hatte.

Als das Zittern ihrer Finger ein wenig nachließ, beschloss sie herauszufinden, was man ihr da geschickt hatte.

Sie machte das Päckchen auf und befühlte mit den Fingerspitzen den Inhalt, der sich als ein kleines Brot herausstellte.

Die Erkenntnis, dass der mysteriöse Kontaktmann ihr nichts weiter als ein Brot gebracht hatte, ließ sie erneut verzagen, aber nur kurz, denn sobald ihr Verstand wieder normal arbeitete, sagte sie sich, dass niemand für einen Happen Essen solch ein Risiko eingehen würde.

Nein, das Brot musste noch etwas anderes enthalten.

Zuerst dachte sie, es berge möglicherweise den Schlüssel zu ihrer Zellentür in seinem Innern, verwarf diese Vermutung aber gleich wieder. Der Schlüssel des Wärters, der sie zu dem ersten Verhör geholt hatte, war so groß und schwer gewesen, dass der Mann ihn am Gürtel tragen musste.

Das Brot dagegen war leicht und klein.

Beatrice brach es entzwei und hielt es dabei über ihren Rock, damit der mögliche Inhalt nicht auf den Boden fiel.

Sie spürte einen leichten Plumps in ihrem Schoß, legte die beiden Brothälften beiseite und ertastete den herausgefallenen Gegenstand, der eine kleine, mit einem Stück Papier umwickelte Ampulle zu sein schien.

Aufgeregt drehte sie den Zettel hin und her, merkte aber bald, dass es schlichtweg unmöglich war, ihn zu lesen. Sie versuchte die Buchstaben zu erkennen, indem sie mit den Fingerkuppen darüberfuhr, doch die Schrift war zu klein und nicht tief genug in das Papier eingeprägt.

Also legte sie die Nachricht erst einmal beiseite und beschäftigte sich mit der Ampulle.

Mit den Fingernägeln zog sie den winzigen Korken heraus und hielt sich die Phiole unter die Nase, um den Inhalt mittels ihres Geruchssinns zu erforschen.

Der durchdringende Gestank, der ihr entgegenströmte, verursachte ihr augenblicklich Brechreiz. Vor lauter Ekel hielt sie das Fläschchen ruckartig von sich weg, wobei ein Teil der dicken Flüssigkeit herauslief und ihr die Finger verklebte.

Danach beschnupperte sie die merkwürdige Substanz etwas vorsichtiger und achtete darauf, sie auf sicherer Entfernung zu ihrer Nase zu halten. Trotzdem überwältigte der üble Geruch sie beinahe wieder, doch diesmal konnte sie in der Mischung unangenehmer Aromen eine salzige Note erschnuppern, die sie ans Meer erinnerte. Sie erkannte den typischen Gestank von verfaultem Fisch wieder, den man nicht mehr vergisst, wenn man ihn einmal gerochen hat.

Diese Entdeckung brachte sie allerdings kein bisschen weiter.

Der schwache Hoffnungsfunken, den der unbekannte Bote in ihr erweckt hatte, verglomm rasch wieder. Mit dem nutzlosen Zettel und der übel riechenden Ampulle in der Hand wurde sie erneut von den düsteren, verzweifelten Gedanken überwältigt, die ihr während der vergangenen, endlosen Stunden Gesellschaft geleistet hatten.

Es lag auf der Hand, dass die dort draußen, die sich um sie sorgten, keine Rettungsmöglichkeit sahen und daher beschlossen hatten, ihr ein starkes Gift zukommen zu lassen, mit dem sie ihre Qual verkürzen konnte.

Obwohl sie nicht wusste, woraus die Flüssigkeit bestand, hatte sie doch eines im Laufe ihrer Tätigkeit als Kräuterweib gelernt, nämlich dass unangenehme Gerüche gewöhnlich mit schädlicher Wirkung einhergingen. Außerdem konnte sie selbst bei optimistischster Betrachtung keinen anderen Beweggrund ihrer unbekannten Wohltäter erkennen als den Wunsch, ihr ein gnädiges Ende zu ermöglichen und ihr die Folter zu ersparen.

Ja, so musste es sein.

Zane und Nanni hatten wahrscheinlich von ihrer Verhaftung erfahren und keinen besseren Weg gefunden, ihr zu helfen.

Gewiss hatten sie, bevor sie zu dieser extremen Maßnahme griffen, alles Mögliche unternommen, um sie zu befreien, aber was konnten ein mittelloser Maler und ein flüchtiger Sklave schon tun? Selbst wenn sie es mit Bestechung hätten versuchen wollen, mit welchem Geld denn? Nannis Taschen waren immer leer, und was Zane anging, so hätte er vielleicht ein paar Scudi auftreiben können, aber bestimmt nicht genug.

An eine gewaltsame Befreiung war erst recht nicht zu denken. Im Palazzo und seinen Kerkern wimmelte es vor bewaffneten Schergen und kräftigen Wärtern. Ein solches Unterfangen wäre der reinste Selbstmord.

Für sie hatte sich also nichts geändert: Ob Strick oder Gift, das machte keinen Unterschied. Dennoch empfand sie Rührung bei der Vorstellung, welche Anstrengungen ihre Freunde unternommen haben mussten, um ihr diese Ampulle zu schicken.

Das Wissen, dass jemand außerhalb dieser Mauern noch mit Zuneigung an sie dachte, tröstete sie und verlieh ihr den nötigen Mut, um den endgültigen, letzten Schritt zu tun.

Beatrice stieß einen tiefen Seufzer aus, führte entschlossen das Fläschchen an die Lippen und schluckte den widerwärtigen Inhalt auf einmal hinunter.

Dann ließ sie die Ampulle zu Boden fallen und streckte sich in Erwartung des Vergessens auf der Pritsche aus.