KAPITEL LVI

 

Fuchtele nicht herum und zeig vor allem nicht mit dem Finger auf die Leute«, flüsterte Melchiorri. »Sorg einfach dafür, dass man dich nicht erkennt.«

Nach dem heftigen Wortwechsel und den gegenseitigen Vorwürfen, die auf die Begegnung mit Bischof de Simara gefolgt waren, war Beatrice dem Maler aus dem Weg gegangen, der daraufhin Trost in der Gesellschaft des alten Freundes gesucht hatte.

Mit dem Eintreffen der ersten Gäste hatte sich auch die Diskussion um die Wachsmaltechniken allmählich erschöpft, und man hatte sich anderen Dingen zugewandt.

Wie immer stand die Reihenfolge der Ankunft in einem umgekehrten Verhältnis zu der Wichtigkeit der Eingeladenen.

Die Ersten waren die sogenannten »Gnadenfälle«, das heißt, diejenigen, die sich wegen ihrer bescheidenen Herkunft oder ihres geringen Vermögens glücklich schätzen konnten, zu diesem großen Ereignis überhaupt eingeladen worden zu sein.

Die Gästeliste war seit Anfang Februar von der Königin und ihren engsten Mitarbeitern zusammengestellt worden. Jeder Name war dabei aufmerksam geprüft worden. Die erste Liste, die über dreitausend Namen enthalten hatte, war vom Hofpersonal einer ersten Auslese unterzogen und dann ihrer Hoheit wieder vorgelegt worden, die eine zweite, engere Auswahl getroffen hatte. Auf diesen Vorgang war eine sorgfältige Prüfung der Verwandtschaftsverhältnisse gefolgt, um eventuelle Unvereinbarkeiten, im Gange befindliche Fehden und andere kritische Punkte festzustellen. Aus dieser zeitraubenden Arbeit war die endgültige Liste hervorgegangen, und alle, die daraufstanden, hatten zur gebotenen Zeit die in Blau und Gold gedruckte Karte erhalten, die mit schönen Lettern die Einladung zu dem ersehnten Fest übermittelte.

Auf dieser Liste hatten neben den Reichen und Mächtigen auch Angehörige des niederen römischen Adels und eine spärliche Zahl ausgesuchter Vertreter des gehobenen Kaufmannsstandes Platz gefunden, sei es aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen oder aus purer Rache an anderen, wenig willkommenen Personen, die jedoch nicht übergangen werden durften.

Dieser Brauch, umso später zu kommen, je höher man seinen gesellschaftlichen Rang einschätzte, brachte eine Reihe von Unannehmlichkeiten mit sich, die schwer zu vermeiden waren. Wenn daher die Gastgeber ein Fest beispielsweise um zehn Uhr abends beginnen lassen wollten, schrieben sie auf die Einladungen, dass die Gäste ab sechs Uhr nachmittags erwartet wurden, damit den gesellschaftlichen und dynastischen Eitelkeiten Genüge getan werden konnte, ohne den eigentlichen Zweck des Abends zu gefährden.

Eine Art stillschweigender Übereinkunft wachte über dieses komplizierte Ritual und verhinderte, dass solche gesellschaftlichen Ereignisse im totalen Chaos endeten. Jeder kannte seinen Rang und konnte annähernd sein Verhalten darauf abstimmen, wenn es natürlich auch immer wieder zu unklaren Situationen kam, die schwierige Berechnungen, verfrühte Abfahrten und langes Warten in den Kutschen in angemessener Entfernung vom Ort des Geschehens zur Folge hatten.

Nur die »Gnadenfälle« eilten ungeniert zu den Festlichkeiten, da sie sich nicht an die komplizierten Riten der Höhergestellten halten mussten und außerdem die Vergnügungen und die lang ersehnten köstlichen Erfrischungen von Anfang an auskosten wollten.

Die ersten Ankömmlinge waren also kleine Adelige und Bürgerliche, denen die unverhoffte Ehre einer Einladung aufgrund einer undurchsichtigen Verwandtschaft mit einem Reichen und Mächtigen oder einer engen geschäftlichen Beziehung zu einem Kirchenfürsten zuteilgeworden war. Die Ankunft dieser Gäste erfolgte in einem engen Zeitrahmen und wurde von allgemeiner Gleichgültigkeit begleitet. Die Dienstboten, die die Erfrischungen reichten und von den Haushofmeistern befehligt wurden, servierten ihnen nur Speisen von minderer Qualität, aber in ansehnlicher Menge, damit die hungrigen Mägen dieser unbedeutenden Leute möglichst schnell gefüllt würden. Denn ihr blaues Blut war so verwässert, dass es bei genauem Hinsehen genauso rot wirkte wie das von Obsthändlern oder Fuhrknechten.

Die Gäste eines gewissen Ranges pflegten erst nach Sonnenuntergang einzutreffen. Fulminacci und Melchiorri hatten sich auf einem niedrigen Diwan nahe des Eingangs niedergelassen, um das Defilee bequem beobachten zu können. Nach ihrer Ankunft im Palast hatten sie ihre Masken hochgeschoben, die bei all ihrer faszinierenden Schönheit doch sehr warm waren. Jetzt jedoch, da der Saal sich zu füllen begann, zogen sie sie wieder über die Augen, sodass nur die untere Gesichtshälfte frei blieb. Der Maler betrachtete seinen Gefährten, der sich, wie zu erwarten, als Eule – dem heiligen Vogel der Athene, der Göttin der Weisheit – maskiert hatte. Aufgrund seiner nicht eben zierlichen Gestalt erinnerte er allerdings eher an einen großen Uhu. Ganz andere Erscheinungsbilder erblickte Fulminacci hier und da auf der gegenüberliegenden Seite des Saals in der Menge. Auch Beatrice hatte ihre kleine Maske übergezogen, die die Züge einer anmutigen Blaumeise nachahmte, und sie flatterte tatsächlich wie ein fröhlich zwitscherndes Vögelchen im Frühling von einer Gruppe zur anderen.

Er spürte einen Stich der Eifersucht und zwang sich, den Blick von der Quelle seiner Unruhe zu lösen und wieder auf die ankommenden Gäste zu richten.

Alle hatten sie zu diesem besonderen Anlass ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und sich mit den märchenhaftesten Kostümen, den extravagantesten Masken und den seltensten und kostbarsten Stoffen geschmückt, um Eindruck bei der großzügigen schwedischen Königin zu machen. Doch auch wenn die Eingeladenen nicht maskiert gewesen wären, hätte Fulminacci vermutlich niemanden erkannt. Er trieb sich normalerweise an ganz anderen Vergnügungsstätten herum und hätte ohne die Hilfe des Freundes einen Kardinal nicht von einem Kellner unterscheiden können. Der Großmeister dagegen bewegte sich in dieser Welt wie ein Fisch im Wasser und erkannte jeden, egal wie verhüllend und ausgefallen sein Kostüm sein mochte.

»Das ist der Herzog von Poli«, murmelte Melchiorri und deutete mit dem Kopf zur Tür, »der Bruder des Kardinals Conti, er spielt eine wichtige Rolle am Hof der Königin. Die Dame in seiner Begleitung ist Isabella Muti, seine Frau.«

»Muti?«, sagte Fulminacci erschrocken. »Ist sie etwa verwandt mit…?«

»Nein, nein, sie hat nichts mit dem Inquisitor zu tun. Bloß eine zufällige Namensgleichheit, aber auch sie ist ein schwieriger Charakter, kann ich dir sagen. Ihr Mann dagegen ist ein aufgeblasener Lackaffe mit dem Gehirn einer Fliege. Sehr elegant allerdings, das muss man ihm lassen. Und da kommt auch schon der Kardinal Conti. Man munkelt, er habe eine Affäre mit der Frau seines Bruders.«

»Und wer ist das da?«, fragte Fulminacci und deutete auf einen Purpurgewandeten.

»Das ist Kardinal Giulio Rospigliosi, einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Nachfolge von Papst Alexander. Sollte er wirklich den Stuhl Petri besteigen, dann Gnade uns Gott.«

»So etwas hat Jacopo, dein Assistent, auch schon gesagt. Ist er tatsächlich so gefährlich?«

»Schlimmer als das, er wäre das Ende! Ich verstehe nicht, wieso Azzolini ihn unterstützt. Wenn er Papst wird, können wir dem schönen Leben Ade sagen.«

»Da redest du aber nur von dir«, erwiderte der Maler. »Ich habe noch nichts von einem schönen Leben bemerkt, seit ich in Rom bin.«

»Du hast ja keine Ahnung«, sagte der Großmeister. »Sollten wir uns Rospigliosi als Heiligen Vater einhandeln, wirst du dich noch nach den mageren Zeiten von heute zurücksehnen. Er ist geiziger als ein Wucherer, strenger als ein Dominikaner, reizbarer als ein Dragoner. Es würde mich nicht wundern, wenn er den Hunden Unterhosen anziehen lassen würde, um die öffentliche Moral nicht zu gefährden. Aber lassen wir das Thema, es verdirbt uns nur die Laune. Genießen wir lieber diesen großen Auftritt dort.«

»Was für eine wunderschöne Dame«, sagte Fulminacci. »Wer ist sie?«

»Schön ja, aber giftiger als eine Schlange. Du hast die Ehre, deine pöbelhaften Augen auf Maria Mancini zu richten, Nichte von Kardinal Mazarin und Frau von Lorenzo Onofrio Colonna, Oberreichsmarschall von Spanien. Seit sie vor drei Jahren nach Rom gekommen ist, rivalisiert sie mit der Königin um den Ruf als beliebteste Gastgeberin und versammelt ebenfalls die vornehmste Gesellschaft der Stadt in ihren Salons. Christine hasst sie, ein Gefühl, das die Mancini von Herzen erwidert.«

»Warum hat sie sie dann eingeladen?«

»Machst du Witze? Soll sie ihr diese Genugtuung gönnen? Niemals. Die Einladung für die Mancini ist als erste rausgegangen. Christine wird versuchen, sie auf jede erdenkliche Weise zu blamieren und bloßzustellen. Da werden wir noch was erleben, wart’s ab. Aber hier kommt der Herzog von Créqui, der französische Gesandte beim Heiligen Stuhl, noch so ein eitler Pfau ohne nennenswerte Qualitäten, abgesehen von seiner adeligen Herkunft. Dahinter hält Monsignor Lascaris Einzug, ein enger Vertrauter Azzolinis, der, wie man hört, schon den Kardinalshut für ihn bereithält. Ein kluger und schweigsamer Mann. Nicht ungefährlich. Man sollte ihm nicht auf die Füße treten.«

»Und wer ist der Fettsack, der da gerade hereinkommt?«

»Das ist Kardinal Imperiali, der Gouverneur von Rom. Ein großer Esser, ein großer Hurenbock, ein großer Spieler, ansonsten eine komplette Null. Jetzt pass mal auf. Achte auf den Gesichtsausdruck von Maria Mancini. Siehst du? Sie macht eine Miene, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. Und weißt du, warum? Guck dir die Dame an, die gerade eintritt.«

»Hübsch, wenn auch nicht mein Typ«, kommentierte der Maler.

»Das ist Donna Ottavia Giustiniani, eine Gesellschaftsdame der Königin und die einzige Person auf der Welt, die von der Mancini noch mehr gehasst wird als Christine. Sie ist die Tochter eines Barbiers in Pesaro und heißt eigentlich Pazzaglia mit Nachnamen, aber die Königin hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihr einen Adelstitel verleihen zu lassen. Alle wissen, dass sie das Bett mit Christine teilt, aber niemand traut sich, etwas zu sagen.«

»Das Bett mit ihr teilt? Wie meinst du das?«

»Na ja, wie ich es sagte. Was die Fleischeslust angeht, pflegt unsere gute Monarchin so ihre eigenen, ungenierten Vorlieben. Aber jetzt sollten wir mal zusehen, dass wir etwas in den Bauch bekommen, bevor diese adeligen Geier alles kahl fressen.«

Christine hatte wie immer keine Kosten und Mühen gescheut. Je mehr ihre Schulden wuchsen, desto mehr gab sie das Geld mit vollen Händen aus. Spanischer Schinken, andalusische Feigen, Fleisch- und Leberpasteten aus dem Périgord, französische, italienische, spanische und ungarische Weine – jede Region Europas war durch ihre vorzüglichsten und berühmtesten Spezialitäten vertreten.

Die beiden gingen auf einen der voll beladenen Tische zu, um den noch kein allzu großes Gedränge herrschte.

Fulminacci streckte die Hand nach einem Rebhuhnschenkel in Aspik aus. Als seine Finger sich um das begehrte Geflügel legten, fiel sein Blick auf das andere Ende des Tisches.

Was er dort sah, ließ ihn zusammenfahren.

»Ard… äh, Baldassarre… Oh Gott«, flüsterte er schwach. »Sieh nur… Guck doch… Oh nein…« Weil ihm die Stimme versagte, stieß er den Freund mit dem Ellbogen an.

Ohne mit dem Kauen aufzuhören, hob der Großmeister den Kopf. »Ganz ruhig, Giovanni. Sieh woanders hin. Tu so, als wäre nichts. Benimm dich ganz unbefangen.«

»Unbefangen, du spinnst wohl. Wir sind geliefert!«

»Jetzt nicht die Nerven verlieren. Wir gehen schön langsam von hier weg, als würden wir einfach weiterschlendern. Ganz langsam, so ist’s gut. Mischen wir uns unter die Gäste.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er auch hier sein wird?«, zischte Fulminacci.

»Ich wusste es selbst nicht. Normalerweise verschmäht er solche Einladungen.«

»Er ist unseretwegen hier, Gott steh uns bei, er ist unseretwegen hier«, murmelte der Maler. Sein entsetzter Blick schnellte zwischen den prächtigen Kostümen der vielen Gäste hin und her und suchte zwanghaft nach einer weißen Kutte. Er hatte den Inquisitor auf den ersten Blick erkannt, obwohl dessen Gesicht wie bei allen Gästen hinter einer Maske verborgen war. Die stechenden Augen jedoch bohrten sich durch die Sehschlitze der Maske hindurch; seine bleichen, klauenartigen Hände bewegten sich ruhelos.

»Bernardo Muti, die schwarze Seele des Heiligen Offiziums. Er ist hier, um uns zu verhaften, verstehst du das nicht? Was sollen wir jetzt tun, Baldassarre? Beatrice hatte recht, wir hätten fliehen sollen, solange noch Zeit war. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Neapel ist schließlich nicht weit weg…«

»Red keinen Unsinn«, unterbrach ihn Melchiorri. »Ich habe dir doch erklärt, dass es auf der Welt keinen Ort gibt, an dem man vor der Inquisition sicher wäre, abgesehen vielleicht von Japan, wo Europäer jedoch nicht gerade mit offenen Armen empfangen werden, soweit mir bekannt ist. Nein, Giovanni, die Sache wird hier und heute Abend geklärt.«

»Aber wie denn, Herrgott, wie nur? Du weißt, dass ich kein Hasenfuß bin, aber als ich diese Kutte gesehen habe, ist mir das Herz in die Hose gerutscht. Wie sollen wir diesen schrecklichen Mönchen entgehen? Ich will nicht den Schwarzseher spielen, aber ich glaube wirklich, diesmal ist es aus mit uns. Ich rieche schon den Gestank von verbranntem Fleisch.« »Bloß nicht verzagen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass es einen Ausweg gibt. Wir müssen uns nur die nötige Zeit zum Nachdenken nehmen.«

»Nehmen wir uns die nötige Zeit«, sagte der Maler, während er unruhig den Saal musterte, »aber beeilen wir uns, um Gottes willen.«

»Rekapitulieren wir die Situation. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Gerlando die Flucht des Inquisitors aus dem Keller ermöglicht, verflucht sei der Tag, an dem ich den Burschen in meinem Haus aufgenommen habe. Selbst wenn er noch einmal einen Funken von Loyalität für mich empfunden haben sollte, werden die Verhörmethoden der Inquisitoren ihm alsbald die Zunge gelöst haben, sodass Muti jetzt genau weiß, wer ihn entführt hat. Aber er weiß auch, dass wir unantastbar sind, solange wir uns im Palast aufhalten. Er könnte natürlich die Königin bitten, uns auszuliefern, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Die Königin ist den Jesuiten treu ergeben, und wie jeder weiß, sind sich Jesuiten und Dominikaner spinnefeind. Außerdem hat Muti schon mehrfach von der Kanzel aus über Christines schändliches Lotterleben gewettert, wie er es nennt. In dieser Hinsicht brauchen wir uns also keine Sorgen zu machen. Seine einzige Chance, uns in seine Klauen zu bekommen, wäre, uns irgendwie dazu zu bringen, das Gelände des Palazzo Riario zu verlassen. Aber mit welcher List könnte er uns zu einer derartigen Dummheit verleiten? Mir fällt keine ein, sosehr ich auch überlege.«

Als er das hörte, überlief den Maler ein eisiger Schauder.

»Hast du Beatrice in der letzten halben Stunde gesehen?«, fragte er den Freund mit Grabesstimme.

Melchiorri schien nicht sofort zu verstehen.

»Wieso, was willst du denn von…?« Wie vom Blitz getroffen unterbrach er sich. »Heilige Muttergottes, du meinst doch nicht…?«

»Da hast du deine List!«, rief Fulminacci und setzte sich in Bewegung. »Dieser Scheißkerl will Beatrice entführen, um uns von hier wegzulocken. Sind wir erst mal außerhalb des Palasts, sitzen wir in der Falle. Schnell, suchen wir sie. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«