KAPITEL XLI
Capitaine de la Fleur ging um den Skorpion herum und richtete seinen Degen dabei weiter auf dessen Kehle, bis er ihm Auge in Auge gegenüberstand. Er tat das wider besseres Wissen, denn nach so vielen Monaten fruchtloser, frustrierender Jagd wollte er sich die Befriedigung nicht versagen, die Niederlage im Blick seines Feindes zu sehen.
Dieser Schritt war jedoch keine gute Idee, wie sich herausstellte.
Solange er den Musketier nicht richtig sehen konnte, hatte der Skorpion keine Möglichkeit zu einer noch so verzweifelten Gegenwehr gehabt. Wenn er versucht hätte, sein Schwert zu heben, um die ihn bedrohende Klinge wegzuschlagen, hätte er sich nach links drehen müssen und hätte damit dem Franzosen Gelegenheit gegeben, ihn tödlich zu verwunden. Doch nun, da er vor ihm stand, sah die Sache ganz anders aus.
Der Skorpion gönnte sich einen Augenblick, um die Muskeln seines rechten Arms zu entspannen, und als er bereit war, neigte er nur den Kopf ein Stück zur Seite und kreuzte blitzschnell die Klinge des Gegners.
Sobald die Waffen aufeinandertrafen, schob er mit einer Drehung seines Schwerts die Spitze des gegnerischen Degens von seinem Körper weg. Dann machte er einen flinken Schritt zurück und ging in die Ausgangsstellung, sodass er sich nun in gleichwertiger Position befand und zum Duell bereit war.
De la Fleur zögerte kurz und reagierte nicht schnell genug auf die Initiative des Gegners.
Bis er richtig merkte, was passierte, stand ihm der Skorpion schon mit erhobenem Schwert und perfekt ausbalancierter Körperhaltung gegenüber. Laut brüllend stürzte der Franzose sich auf den Auftragsmörder und wirbelte seinen Degen in einem Hagel von Hieben herum, um ihn durch reinen Krafteinsatz zu überwältigen. Er übertrug die ganze Stärke seines muskulösen Arms auf seine Klinge und baute darauf, dass die schmalere Waffe des Gegners dem Ansturm nicht standhalten konnte. Auf dem Feld, mitten im Schlachtgetümmel, wo die Kämpfer sich dicht umeinander drängten, wäre das zweifellos eine erfolgreiche Taktik gewesen. Doch der Skorpion war kein als Soldat verkleideter Bauer; er war einer der fähigsten und erfahrensten Haudegen des Kontinents und schlug die Attacken relativ mühelos zurück, indem er den heftigen Degenhieben die ganze ausgefuchste Gewandtheit seiner Kunst entgegensetzte. Er beantwortete die Gewalt des Angriffs nicht mit frontaler Gegengewalt, sondern führte seine Paraden mit seitlichen Körperdrehungen aus, wodurch er die Wucht der Schläge abschwächte und die Klinge des Gegners von ihrem Ziel ablenkte.
Ein so schneller, heftiger Kampf konnte nicht lange andauern, und tatsächlich wurde der Franzose nach ein paar Dutzend Hieben sichtlich langsamer.
Durch das Degengeklirre hindurch hörte der Skorpion den Musketier schwer atmen. Die wütende Anfangsattacke hatte seinen Feind außer Atem gebracht, und er war sicher, dass die schnellere Erschöpfung des Franzosen ihm bei länger anhaltendem Kampf zum Vorteil gereichen würde. Andererseits war der Hinterhalt, in den man ihn gelockt hatte, gut organisiert und geplant worden. Höchstwahrscheinlich war in diesem Moment schon Verstärkung unterwegs, denn ein so sorgfältiger Plan würde auch Vorkehrungen für den Fall mit einschließen, dass etwas schiefging. Daher musste er sich den Franzosen so schnell wie möglich vom Leib schaffen und verschwinden, ehe es im Haus vor Soldaten nur so wimmelte.
Nach dieser kurzen Abwägung beschleunigte der Skorpion sein Fechten und beschränkte sich nicht mehr darauf, die gegnerischen Hiebe zu parieren, sondern ging mit einer Serie von schnellen Ausfällen zum Gegenangriff über, die er mit gezielten Stößen abwechselte, um die Deckung des anderen aufzubrechen.
Doch de la Fleur war selbst kein Anfänger mit dem Degen. Auch wenn er nicht das legendäre Geschick des Skorpions besaß, hatte er genug Kämpfe ausgefochten, um sein Handwerk zu verstehen und die feindlichen Angriffe zurückzuschlagen.
Der Raum, in dem sie sich duellierten, war groß genug, dass er mit seiner längeren Waffe seine unterlegene Technik ausgleichen konnte.
Der Skorpion merkte, dass ihm die Zeit davonlief, und obwohl er sich nicht gern unnötigen Risiken aussetzte, musste er nun etwas wagen.
Mit einer flinken Drehung des Handgelenks stieß er die Klinge des Franzosen weg und ließ seine linke Seite für eine Sekunde ungedeckt. De la Fleur erkannte das sofort, machte einen halben Schritt nach rechts und stieß mit einem Ausfallschritt zu, überzeugt, den Kampf damit zu beenden.
Mit dieser Reaktion hatte der Auftragsmörder gerechnet.
Er bewegte sich seinerseits nach rechts und wich dem Angriff mit einem behänden Sprung um Haaresbreite aus, wechselte sein Schwert von der rechten in die linke Hand und konnte so die Stelle treffen, deren Deckung der Gegner vernachlässigte.
Die schmale Klinge des Skorpions durchbohrte die rechte Schulter des Franzosen, der mit einem unterdrückten Stöhnen seine Waffe auf den Dielenboden fallen ließ und auf den Todesstoß wartete.
Der Skorpion jedoch wollte sich nicht damit aufhalten, seinem Verfolger den Garaus zu machen. Mit einem Blick überzeugte er sich davon, dass de la Fleur ihm vorläufig nicht mehr schaden konnte, wirbelte herum und floh durch die offen stehende Tür hinaus.
Fluchend griff der Musketier nach seinem fallen gelassenen Degen, merkte aber sogleich, dass sein rechter Arm nicht zu gebrauchen war. Er fasste den Griff mit der Linken und stürzte dem flüchtigen Mörder hinterher. Als er an einem offenen Fenster vorbeikam, hörte er die Schritte seiner Männer auf dem Pflaster des Hofs. Er lehnte sich hinaus und schrie den Herbeilaufenden zu:
»Nach hinten, Soldaten! Der Skorpion versucht, in den Park zu fliehen.«
Er wartete nicht ab, ob sein Befehl verstanden worden war, sondern rannte weiter zur Treppe.
Der Skorpion hatte indessen einen erheblichen Vorsprung gewonnen. Vier Stufen auf einmal nehmend, war er bereits in der Eingangshalle und lief auf die Terrassentüren zu.
Nur einer von de la Fleurs Männern konnte ihn rechtzeitig abfangen und stellte sich ihm mit dem Degen in der Hand entgegen.
Der Musketier war jedoch ein wesentlich schlechterer Fechter als sein Hauptmann, sodass dem Skorpion wenige gezielte Stöße genügten, um sich seiner zu entledigen. Ohne einen Laut sank er zu Boden, von der spitzen Klinge des Mörders ins Herz getroffen.
Der Skorpion, der seinen Lauf kaum hatte unterbrechen müssen, sprang durch die nächstgelegene Tür und tauchte in die schützende Dunkelheit des Parks ein.
Während er aus voller Kraft rannte, wandte er nur kurz den Kopf, um festzustellen, dass der Mond noch nicht hinter dem Dach des Palazzos verschwunden war. Er durfte den Führer nicht verpassen, ohne den er sich in dem unterirdischen Tunnellabyrinth nicht zurechtfinden würde.
Der Skorpion hatte schon die Hälfte des Parks durchquert, als er hinter sich die Schritte und Rufe seiner Verfolger hörte. Aus Furcht, dass sie ihn einholen könnten, lief er noch schneller, obwohl er kaum noch Luft bekam. Zwar hatte er stets darauf geachtet, in guter körperlicher Verfassung zu bleiben und kein Fett anzusetzen, er hatte sogar Leibesübungen betrieben, aber das Alter machte ihm bei größeren Strapazen nun doch zu schaffen. Und er wusste, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten konnte. Zum Glück war es nicht mehr weit. Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichte er den Brunnen und zwängte sich durch die davorstehenden Büsche, ohne dass seine Verfolger ihn sahen.
Der rattengesichtige Führer erwartete ihn gleich hinter der engen Öffnung in der künstlichen Grotte. Als er ihn keuchend und völlig außer Atem kommen sah, drehte er sich um und führte ihn ohne ein Wort ins Innere des seltsamen Bauwerks, wo er ihm half, die abgetretenen Metallsprossen hinunterzusteigen und in die unterirdische Zisterne zu gelangen, von der das Netz der Gänge abzweigte.
De la Fleurs Männer hatten nicht beobachtet, wie der Skorpion in dem offenen Maul des alten Brunnens verschwunden war. Die Vordersten sahen lediglich seine schlanke Gestalt in das Gebüsch schlüpfen, das die Anlage verbarg.
Laut riefen sie die hinter ihnen kommenden Kameraden herbei und versammelten sich vor dem Dickicht. Als die Vorhut vor der scheinbar undurchdringlichen Pflanzenmauer stand, wusste sie nicht, wo sie anfangen sollte, und wartete die Ankunft der Verstärkung ab, um das dunkle, überwucherte Gebiet besser durchsuchen zu können.
De la Fleur traf als Letzter ein.
Der Hauptmann blutete stark aus dem verletzten Arm und versuchte vergeblich, den Blutfluss zu stillen, indem er die klaffende Wunde mit der linken Hand zusammenpresste. Er fühlte sich schwach und fürchtete, jeden Moment zusammenzubrechen, wollte die Verfolgung aber unbedingt fortsetzen und machte sich Vorwürfe, dass er den berüchtigten Feind so leichtsinnig allein gestellt hatte.
»Er ist dort zwischen diesen Büschen verschwunden«, sagte einer der Musketiere.
»Seid ihr sicher?«, fragte der Offizier nach.
»Ja, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Capitaine.«
»Umstellen wir das Gebiet und suchen es Zoll für Zoll ab. Wenn er hier ist, werden wir ihn finden. Aber Vorsicht, Männer, er ist sehr gefährlich.« »Capitaine, Ihr seid verletzt!«, rief Sergeant Bruyère.
»Ist nicht weiter schlimm, Sergeant. Durchkämmen wir das Gebüsch.«
Die Musketiere begannen sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp zu bahnen und die Schlingpflanzen beiseitezuschieben, die überall als dicke Girlanden herabhingen. Sie zogen den Kreis immer enger und achteten darauf, stets in Sichtweite der Kameraden zu beiden Seiten zu bleiben, damit keiner es mit einer eventuellen Bedrohung allein aufnehmen musste.
Nach wenigen Minuten fanden sie sich vor dem alten Brunnen wieder, ohne auch nur eine Spur des Flüchtigen entdeckt zu haben.
»Verflucht!«, schrie de la Fleur, als ihm klar wurde, dass ihre Mühe umsonst gewesen war. »Dieser Teufel ist uns entwischt, auch wenn ich nicht verstehe, wie er das geschafft hat.«
»Vielleicht ist er durch das Dickicht geflohen, bevor wir es fertig umstellt hatten«, mutmaßte der Sergeant.
»Das halte ich für unwahrscheinlich«, erwiderte der Capitaine. »Das Wäldchen ist zwar klein, aber verflixt dicht und verwildert. Er hatte nur wenige Augenblicke Vorsprung vor den Ersten von euch. Trotzdem sollten zwei Männer zur Einfriedungsmauer laufen und Kontakt zu den Patrouillen draußen aufnehmen. Falls er den Hain durchqueren konnte, hat er möglicherweise die Mauer überklettert. Plachy, Grandet, ihr geht hin, beeilt euch.«
»Seht nur, Capitaine«, rief ein Soldat, der um den Brunnen herumgegangen war, »hier ist eine Art Öffnung. Vielleicht hat er sich in der Grotte versteckt!«
»Folgt mir, Männer, aber seht euch vor!«
Obwohl ihn der Blutverlust stark geschwächt hatte, drang de la Fleur mutig in die künstliche Grotte ein, in der es jedoch so dunkel war, dass er nach wenigen Schritten auf einen Soldaten mit einer Blendlaterne warten musste.
»Mach Licht, Renard, und sieh zu, dass du mit heiler Haut herkommst!«
Im flackernden Licht der Laterne gingen de la Fleur und Bruyère zwischen den künstlichen Stalagtiten und Stalagmiten voran. Der Rest musste draußen warten, da die Höhle zu eng für einen größeren Trupp war.
Nach einer Biegung standen die drei vor dem Schlund der alten Zisterne und sahen die rostigen Metallsprossen, die nach unten führten.
»Wenn er sich hier drin versteckt, ist er garantiert diese Treppe runtergestiegen«, sagte der Sergeant. »Ich halte es nicht für klug, dass Ihr hinuntergeht, Capitaine. Ihr seid verletzt und verliert viel Blut. Lasst mich und Renard gehen.«
»Nein, Sergeant. Das hier ist zu einer persönlichen Angelegenheit geworden, ich bin unvorsichtig gewesen im Palazzo. Ich hatte ihn schon fast, versteht Ihr, und habe ihn aus Übermut entkommen lassen. Jetzt will ich die Sache selbst zu Ende bringen.«
Mithilfe seines Unteroffiziers betrat der Capitaine die tückische Eisentreppe und stieg mühselig hinab, während Renard sein Bestes tat, ihm von oben zu leuchten.
»Hier ist niemand, Sergeant. Ihr könnt runterkommen«, rief de la Fleur ihnen zu, als er auf dem Grund der Zisterne angelangt war.
Unterstützt von den Kameraden suchte de la Fleur den alten Wasserspeicher ab, bis er den engen Spalt entdeckte, hinter dem sich der geradlinige Tunnel zum Fluss erstreckte.
Renard, der den Boden ableuchtete, fand direkt vor dem Durchgang Fußspuren im Staub.
»Jedenfalls ist jemand hier vorbeigekommen«, sagte er, auf die Abdrücke deutend, »und zwar vor kurzem.«
Bruyère ließ sich von ihm die Laterne geben, steckte den Kopf durch den Spalt und versuchte, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen.
»Hier ist ein Tunnel, Capitaine. Er scheint endlos lang zu sein.«
»Diese alten Palazzi sind voller Geheimgänge, Sergeant. Wir sind bestimmt auf der richtigen Spur. Los, nichts wie hinterher, wir haben ihm schon viel zu viel Vorsprung gelassen.«
Die drei Musketiere zwängten sich durch die schmale Öffnung und folgten dem Tunnel mit den Waffen in der Hand, bereit für einen Angriff.
Doch der lange Gang war leer und verlassen, und auf dem unebenen Boden war noch nicht einmal eine Spur des Skorpions zu erkennen. De la Fleur und seine Männer gingen achtlos an der Abzweigung zu den Katakomben vorbei, weil sie sicher waren, dass der Skorpion den Geheimgang bis zum anderen Ende durchlaufen hatte. Nach ein paar Hundert Metern machte der Tunnel einen Knick, wonach der Weg etwas breiter wurde. Wenig später stießen die drei auf eine offene Gittertür, deren Streben von einer dicken Rostschicht bedeckt waren. Hinter der Tür mussten sie ein paar vor Feuchtigkeit glitschige Stufen hinuntersteigen und gelangten zu einer kleinen Mole. Vor ihnen strömte langsam und majestätisch der Tiber dahin.
»Wenn er ein Boot hatte, sind wir angeschmiert!«, rief Bruyère aus.
Capitaine de la Fleur lehnte sich gegen eine niedrige Mauer aus Quadersteinen dicht bei dem Anlegeplatz und glitt langsam ins Gras, vollkommen geschwächt vom Blutverlust und den Anstrengungen der Nacht.
»Er ist uns wieder entkommen, Sergeant. Wir müssen sofort den Bischof benachrichtigen. Helft mir aufzustehen.«
»Darum werde ich mich kümmern, Capitaine. Ihr könnt keinen Schritt mehr gehen. Ihr braucht einen Arzt.«
»Unsinn, ist doch nur ein Kratzer. Helft mir einfach, auf die Beine zu kommen…«
De la Fleur verlor das Bewusstsein.