KAPITEL XXII

 

Aus dem Hals der Leiche quoll immer noch viel Blut, das sich in einer großen Pfütze auf dem spiegelnden Parkett sammelte.

Auch aus dem abgetrennten Kopf rann das Blut und durchtränkte den grünen Samt, mit dem die Brüstung bezogen war.

Fulminacci stand wie gelähmt da, und obwohl er nichts lieber wollte als weglaufen, zwang ihn eine magnetische Kraft, die Augen auf diese schauerliche Szene gerichtet zu halten.

Dieses etwas morbide Zögern war es, was ihn in Schwierigkeiten brachte.

Denn als er endlich davonrennen wollte, drehte sich eine Dame in der Nebenloge um, um ihrem Sitznachbarn etwas zuzuflüstern, und sah die makabre Trophäe, die nur wenige Ellen von ihr entfernt auf der Brüstung thronte.

Die Frau stieß einen schrillen Schrei aus, der sogar die hohen Triller des Sängers übertönte. Einen kurzen Augenblick lang herrschte Stille, eine ganz unnatürliche Stille, in der sich mehrere Hundert Augenpaare in die Richtung wandten, aus der dieser durchdringende Laut, schrill wie von einer Buccina oder einer hohen Trompete, kam.

Dann brach die Hölle los.

Fulminacci hielt es nicht für klug, sich bei einer geköpften Leiche antreffen zu lassen, und rannte los, ehe die Leute in den Korridor strömten. Er erreichte die Tür zur Wendeltreppe und schlug sie hinter sich zu.

Gerade noch rechtzeitig! Der Riegel war noch nicht eingerastet, als er hörte, wie die Logentüren aufgingen und erregtes Stimmengewirr den Flur erfüllte. Stolpernd hastete der Maler in der Dunkelheit die schmalen, steilen Stufen hinunter.

Als er im Erdgeschoss angekommen war, wollte er gleich auf die Hinterbühne hinausstürzen, doch eine kluge Eingebung hielt ihn zurück. Das Echo vieler erschrockener Stimmen und das Trampeln von Füßen drang durch die Tür zu ihm. Er dachte, der Moment sei günstig, um das Durcheinander zu nutzen und loszulaufen, überlegte es sich aber anders. Besser war es, erst einmal nachzusehen.

Er beugte sich zum Schlüsselloch hinunter und sah wenige Schritte von der Tür entfernt den Assistenten stehen, den er niedergeschlagen und gefesselt hatte. Bei ihm waren der Bühnenmeister und ein anderer Mann mit finsterem Gesicht und der dunklen Uniform der Schergen.

Fulminacci sah sich gezwungen, die Treppe wieder hinaufzusteigen und zu versuchen, durch den Haupteingang hinauszugelangen. Auch im ersten Rang würde Chaos herrschen, aber es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand erkannte oder mit der schrecklichen Bluttat in Verbindung brachte. Er wusste nicht, wo Zane und Beatrice abgeblieben waren, vertraute aber darauf, dass sie seine schwierige Lage erahnten und das Theater ohne ihn verließen.

Schnaufend kam er zum Treppenabsatz im ersten Stock, fand die Tür verschlossen vor und stürzte weiter zum zweiten, wo er anhielt, die Tür einen Spalt öffnete und hinauslugte.

Der Flur war unglaublich überfüllt. Die Leute drängten sich vor der Loge, weil sie einen Blick auf den Tatort werfen wollten, während ein paar Schergen versuchten, der Menge Einhalt zu gebieten. Einer von ihnen befragte die Besucher der angrenzenden Logen, unter denen auch die Frau mit der schrillen Stimme war, die als Erste Alarm geschlagen hatte.

Obwohl Fulminacci ein ganzes Stück weit weg stand, hörte er gut, was sie dem Schergen sagte.

»Ich habe dieses… dieses Ding gesehen… also den Kopf. Mein Gott, wie entsetzlich! Ich dachte, ich sterbe vor Schreck. Glaubt mir, meine Sinne schwanden, mein Blick vernebelte sich, aber ich habe jemanden in der Loge gesehen, als ich mich vorbeugte. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil er einen großen Hut aufhatte, so ähnlich wie ihn die Fuhrknechte tragen, wisst Ihr? Ja, diese breiten, unförmigen Töpfe mit abfallender Krempe. Außerdem hatte er einen dunklen Rock an, dunkelbraun vielleicht, und sehr weite Hosen. Die Schuhe habe ich nicht gesehen, weil sie hinter der Balustrade verborgen waren. Tut mir leid, dass ich ihn so ungenau beschreibe, aber Ihr müsst bedenken, was ich durchgemacht habe, dieses Grauen, dieses Entsetzen!«

Von wegen ungenaue Beschreibung, dachte Fulminacci. Wenn Guercino selbst mich porträtiert hätte, hätte er es nicht minutiöser tun können!

Jedenfalls versperrte ihm die ungeahnte Beobachtungsgabe der Frau nun auch diesen Fluchtweg.

Da er weder über die Bühne noch über die Logenaufgänge verschwinden konnte, blieb ihm nichts anderes übrig, als in seinem Versteck auszuharren, bis auch der letzte Zuschauer gegangen war. Er baute darauf, nicht allzu lange warten zu müssen, da die Aufführung, nach allem, was er mitbekommen hatte, abgebrochen worden war. Sobald das Theater leer war, würde er im Schutz der Dunkelheit das Gebäude verlassen können.

Doch wie schon häufiger an diesem Abend gab der arme Fulminacci sich einem übertriebenen Optimismus hin. Von der anderen Seite der Tür drang nämlich plötzlich die Stimme des Hauptmanns der Schergen zu ihm, der den Theaterdirektor aufforderte, ihn bei einer gründlichen Durchsuchung des Hauses zu begleiten.

Zweifellos wusste der Direktor von der Hintertreppe, auf welcher der Maler sich befand, und vermutlich würde die Durchsuchung gerade in den Bereichen des Theaters beginnen, die als Versteck dienen konnten.

Mit anderen Worten, er saß ganz schön in der Tinte.

Mit klopfendem Herzen lief er die Treppe wieder hinunter, in der wenig realistischen Hoffnung, einen anderen Ausgang zu finden oder es doch noch zu schaffen, die Tür im ersten Stock aufzubrechen. Auch wenn seine Chancen schlecht standen, gab es vielleicht noch irgendeine Möglichkeit, aus dem ersten Stock zu entkommen, bevor die Schergen die Durchsuchung organisiert hatten.

Doch das Schloss widersetzte sich jeder Gewalteinwirkung. Um die Tür zu öffnen, hätte er sich mit der Schulter dagegenwerfen müssen, was nicht unmöglich gewesen wäre angesichts des dünnen Holzes, aber unweigerlich Aufmerksamkeit erregt hätte.

Fulminacci war nun wirklich verzweifelt, aber noch nicht bereit aufzugeben. In völliger Finsternis stieg er die Stufen wieder hinauf und tastete dabei fieberhaft die Wände auf der Suche nach einem rettenden Schlupfloch ab, als seine Finger etwa auf halber Höhe der Treppe auf einen Türrahmen stießen. Er fuhr den Umriss nach und fand die Klinke, die er vorsichtig herunterdrückte. Die Tür war nicht verschlossen.

Auch dahinter konnte sich eine Bedrohung verbergen, das war ihm klar, aber was hatte er für eine Wahl, als sein Glück zu versuchen?

Ganz langsam öffnete er die Tür ein paar Zentimeter und sah, dass sie in einen fensterlosen Raum führte, der nur von einem Kerzenleuchter auf einem runden Tisch mit grünem Tischtuch erhellt wurde. Daran saß ein Mann und hantierte mit einer großen Menge von Münzen, die seine flinken Hände zu ordentlichen Haufen auftürmten. Nicht weit davon, direkt neben dem Kerzenleuchter, lag ein Stoß Karten.

Der Mann kehrte ihm den Rücken zu, und eine zweite Tür, die Gott weiß wohin führte, war nur wenige Schritte entfernt.

Fulminacci beschloss, das Risiko einzugehen und sich leise hinter dem Mann vorbei zu dieser Tür zu schleichen. Die Gefahr einer Entdeckung war zwar groß, aber er stand buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und musste etwas unternehmen. Wenn er erst einmal die andere Tür erreicht hatte, war es egal, ob der Unbekannte ihn bemerkte oder nicht. Da zwischen dem Tisch und dem Ausgang mindestens fünf Schritte lagen, würde der Mann es wohl kaum schaffen, aufzuspringen und ihm den Weg zu versperren, ehe er hinausgestürzt war.

So leise er konnte, schlich Fulminacci in das Zimmer.

Er hatte noch kaum den zweiten Schritt getan und befand sich folglich in nächster Nähe zu dem Tisch, als der Geldzähler sich umdrehte und ihn ohne jedes Erstaunen ansah. Fulminacci verharrte mitten in der Bewegung und machte sich bereit, ihm an die Kehle zu springen, doch der andere hob die Hand und lächelte.

»Wenn Ihr gekommen seid, um mich auszurauben«, sagte er, »mache ich Euch darauf aufmerksam, dass ich meine Haut teuer verkaufen werde. Seht Ihr diese Pistole? Sie ist geladen, und ich bin ein ziemlich guter Schütze.« Wie durch Zauberhand war in der Rechten des Mannes eine Schusswaffe aufgetaucht.

»Ich habe nicht die Absicht, Euch zu berauben, Signore«, erwiderte der Maler. »Ich suche nur nach einem Weg hinaus aus diesem verfluchten Ort. Im Theater ist ein unbeschreibliches Chaos ausgebrochen, offenbar hat man einen Mann ermordet, in einer der oberen Logen.«

»Habt Ihr ihn ermordet?«, fragte der andere.

»Nein, bei meiner Ehre!«

»Merkwürdig, einen Bettler von Ehre sprechen zu hören wie einen Edelmann«, gluckste der Unbekannte, ohne die Waffe zu senken. »Und Ihr glaubt, Eure Behauptung kann mich beruhigen?«

»Lasst Euch nicht von meinem Äußeren täuschen, Signore«, entgegnete Fulminacci. »Die Umstände, die mich gezwungen haben, in dieser Aufmachung vor Euch zu erscheinen, sind zu kompliziert, um sie jetzt zu erklären. Mein Name ist Giovanni Battista Sacchi, Kunstmaler, stets zu Euren Diensten.«

Auf diese Mitteilung reagierte der vornehme Mann so überrascht, dass er nun doch die Pistole senkte. Fulminacci konnte sein Gesicht nicht gut erkennen, weil er im Gegenlicht saß, aber da er anscheinend nicht mehr die Absicht hatte, ihn zu erschießen, wagte er es, sich zu regen und ihn genauer zu mustern.

»Aber Ihr… Ihr seid… Du bist doch Arduino… Großer Gott, ich traue meinen Augen nicht… Arduino Ponzani, dich schickt mir der Himmel! Was machst du hier in Rom, noch dazu wie ein Edelmann gekleidet? In der Lombardei suchen sie dich immer noch wegen dieser Geschichte mit dem Abt des Kartäuserklosters.«

»Giovanni, dachte ich’s mir doch, dass du das bist, aber mit diesem Fuhrknechtshut war ich mir nicht sicher«, rief der andere. »Sag du mir lieber, was du im Hinterzimmer eines Theater treibst, die Sbirren auf den Fersen und wie ein Bettler gekleidet?«

»Verdammt, das ist eine zu lange Geschichte. Weißt du, wie ich hier rauskomme?«

»Ich denke, ich kann dir helfen – vorausgesetzt, du versprichst, niemandem meine wahre Identität zu verraten. Ich habe zur Zeit Rang und Namen in der besten Gesellschaft Roms und möchte nicht wegen eines Malers mit loser Zunge auf meine Privilegien verzichten müssen.«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort: Ich werde schweigen wie ein Grab. Du brauchst mich nur schnell hier rauszubringen. Wenn es dich interessiert, erzähle ich dir irgendwann alles, aber jetzt ist keine Zeit dazu.«

»Gut, komm mit.«

Ponzani führte Fulminacci ans andere Ende des Raums, wo er einen versteckten Mechanismus betätigte und eine kleine, perfekt getarnte Geheimtür öffnete.

Die beiden schlüpften durch die Öffnung, durchquerten einen Gang, stiegen eine Treppe hinunter und kamen zu einem Portal, das Ponzani mit einem vergoldeten Schlüssel aufschloss. Sie gingen hindurch und fanden sich draußen vor dem Theater wieder.

»Meine Kutsche steht gleich da hinten«, sagte Ponzani. »Wenn du wirklich in Schwierigkeiten steckst, solltest du besser mit mir fahren. Zu dieser Nachtzeit wäre es nicht klug, zu Fuß zu gehen, du würdest mit Sicherheit an einen Wachtrupp geraten.«

»Dafür wäre ich dir unendlich dankbar. Ich muss nach Trastevere.«

»Kein Problem. Das tue ich gern für einen Freund, auch der alten Zeiten in Mailand wegen.«

»Mir scheint, du hast dich seitdem recht gut herausgemacht«, bemerkte der Maler, als er in die luxuriöse Karosse einstieg, die von zwei Pferden gezogen und einem Kutscher in Livree gelenkt wurde. »Allein diese Kutsche muss dich mindestens zweihundert Dukaten gekostet haben.«

»Sie kostet eher fünfhundert«, antwortete Ponzani, »aber sie gehört nicht mir. Sie gehört Christine, der Königin von Schweden. Ich habe die Ehre, ihr Astrologe und Leibarzt zu sein.«

»Donnerwetter, du hast es ja wirklich weit gebracht! Leibarzt einer Königin! Ich sehe dich noch in den Spielhöllen der Porta Ticinese.«

»Ja, auch das ist eine lange Geschichte. Nachdem ich Mailand so… überstürzt verlassen musste, habe ich mich hier und dort ein bisschen umgetan, mich von meinem Gespür leiten lassen. Glück war auch dabei im Spiel, muss ich zugeben. In Ferrara zum Beispiel…«

»Komm, erzähl«, unterbrach ihn Fulminacci. »Wie hast du es geschafft, ausgerechnet eine Königin hinters Licht zu führen?«

»Also, hinters Licht führen ist ein zu harter Ausdruck, scheint mir. Wenn die Welt voller gutgläubiger Einfaltspinsel ist, kann ich schließlich nichts dafür. Ich tue nichts anderes, als etwas anzubieten, nach dem eine große Nachfrage besteht. Im Übrigen nenne ich mich zur Zeit Baldassarre Melchiorri, Ehrwürdiger Großmeister des höchsten Ordens der Erleuchteten. Hämmer dir das gut in deinen Schädel ein, damit du dich nicht verplapperst.«

»Der höchste Orden der Erleuchteten… noch nie gehört, ehrlich gesagt.«

»Natürlich nicht, mein junger Freund. Der höchste Orden ist meine Erfindung. Ein klangvoller Name, findest du nicht?«