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New York City

Vier Uhr nachmittags, Samstag. Lieutenant Vincent D’Agosta drängelte sich durch die Menschenmenge, duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging zu jener Stelle, wo der Leichnam ausgestreckt auf dem Bürgersteig lag, vor einem der zahllosen, praktisch identischen indischen Restaurants in der East 6. Street. Unter der Leiche hatte sich eine große Blutlache gebildet, in der sich die roten und violetten Neonlichter im schmutzigen Fenster des Restaurants surreal glänzend spiegelten.

Auf den Täter war mindestens ein Dutzend Mal geschossen worden. Und jetzt war er tot. Mausetot. Er lag zusammengesackt auf der Seite, der eine Arm war weit zur Seite ausgestreckt, seine Waffe lag etwa sieben Meter entfernt. Jemand von der Spurensicherung vermaß gerade die Entfernung von der offenen Hand bis zur Waffe.

Bei dem Toten handelte es sich um einen dürren Weißen, Anfang dreißig, dünnes Haar. Wie er so dalag, erinnerte er D’Agosta an einen durchgebrochenen Stock; die Beine waren schräg abgewinkelt, das eine Knie war an die Brust gezogen, das andere nach außen und hinten gedreht, die Arme ausgebreitet. Die beiden Streifenpolizisten, die geschossen hatten, ein dicker Schwarzer und ein drahtiger Latino, standen ein wenig abseits und redeten mit jemandem vom Dezernat Interne Ermittlungen.

D’Agosta ging hinüber, nickte dem Beamten aus dem Dezernat zu und umfasste die Hände der beiden Polizisten. Sie fühlten sich schwitzig an, so als wären die Männer nervös.

Ist schon verdammt hart, dachte er, einen Menschen getötet zu haben. Im Grunde kommt man nie richtig darüber hinweg.

»Lieutenant«, sagte einer der Polizisten hastig, begierig, einem weiteren Zuhörer nochmals alles zu berichten, »der Typ hatte gerade mit gezückter Waffe das Restaurant ausgeraubt und ist die Straße runtergelaufen. Wir haben uns ausgewiesen, unsere Dienstmarken gezeigt, und da hat er auf uns geschossen, der Scheißkerl hat einfach sein Magazin geleert, im Laufen. Zivilisten waren auf der Straße, wir hatten keine andere Wahl, wir mussten ihn niederschießen. Keine Wahl, Mann, keine Wahl …«

D’Agosta legte dem Beamten die Hand auf die Schulter, drückte sie freundschaftlich und blickte auf sein Namensschild. »Ocampo, regen Sie sich nicht auf. Sie haben getan, was Sie tun mussten. Die interne Untersuchung wird das erweisen.«

»Ich meine, der hat einfach losgeballert, so als gäbe es kein Morgen …«

»Für ihn wird es keines geben.« D’Agosta trat mit dem Beamten vom Dezernat Interne Ermittlungen ein paar Schritte zur Seite. »Irgendwelche Probleme?«

»Ich glaube nicht, Sir. Heutzutage kommt es natürlich immer zu einer Anhörung. Aber der Fall ist glasklar.« Er klappte sein Notizbuch zu.

D’Agosta senkte die Stimme. »Sorgen Sie dafür, dass die beiden Beamten psychologische Betreuung bekommen. Und stellen Sie auch sicher, dass sie sich mit den Gewerkschafts-Anwälten treffen, bevor sie weitere Aussagen machen.«

»Wird gemacht.«

D’Agosta blickte nachdenklich auf die Leiche. »Wie viel hat er erbeutet?«

»Zweihundertzwanzig, plus oder minus. Armes Schwein von Drogenabhängigem, sehen Sie sich den doch mal an, der ist völlig abgemagert wegen des Zeugs.«

»Ja, traurig. Haben Sie irgendwelche Ausweispapiere gefunden?«

»Warren Zabriskie, wohnhaft in Far Rockaway.«

D’Agosta schüttelte den Kopf und ließ den Blick über den Tatort schweifen. Die ganze Sache war so unkompliziert, wie man es sich nur wünschen konnte: zwei Streifenpolizisten, beide Angehörige einer Minderheit; der tote Täter ein Weißer; Zeugen ohne Ende; alles von Sicherheitskameras eingefangen. Ein glasklarer Fall. Es würde keine Protestmärsche, keine Anschuldigungen wegen Brutalität seitens der Polizei geben. Der Schütze hatte bekommen, was er verdiente – da würden alle, wenn auch widerstrebend, zustimmen.

D’Agosta sah sich um. Trotz der Kälte hatte sich hinter dem Absperrband eine ziemlich große Menschenmenge gebildet, East-Village-Rocker und Yupsters und Metrosexuelle oder wie immer zum Teufel man diese Leute heutzutage nannte. Das Team von der Spurensicherung beschäftigte sich nach wie vor mit dem Toten, die Sanitäter warteten auf der einen Seite, der Besitzer des ausgeraubten Restaurants wurde von Detectives befragt. Alle gingen ihrer Arbeit nach. Alles im Griff. Ein sinnloser, idiotischer Drecksfall, der einen wahren Sturm von Papierkram, Befragungen, Berichten, Analysen, Beweismittel-Kartons, Anhörungen, Pressekonferenzen auslösen würde. Und das alles wegen zweihundert lausiger Dollar, damit sich ein Junkie einen Schuss setzen konnte.

D’Agosta überlegte gerade, wann er sich wohl auf elegante Weise verabschieden konnte, als er am gegenüberliegenden Ende des abgesperrten Bereichs einen Ruf hörte und einen Aufruhr sah. Jemand hatte sich unter das Absperrband geduckt und ohne Erlaubnis den Tatort betreten. Wütend wandte sich D’Agosta um – und vor ihm stand Special Agent A. X. L. Pendergast, verfolgt von zwei uniformierten Beamten.

»Hallo, Sie …!«, rief einer der Beamten und packte Pendergast grob an der Schulter. Mit einer routinierten Bewegung befreite sich Pendergast, zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Beamten unter die Nase.

»Was zum Te–?« Der Beamte wich einen Schritt zurück. »Bundespolizei, der Typ ist vom FBI

»Was will der denn hier?«, fragte der andere.

»Pendergast!«, rief D’Agosta und trat rasch auf ihn zu. »Was führt Sie denn hierher? Dieser Fall gehört doch nicht gerade zu der Art von –«

Pendergast brachte ihn mit einer heftigen Geste zum Schweigen: Er zog mit der Hand einen Strich durch die Luft zwischen ihnen. In dem vom Neonlicht erhellten Halbdunkel wirkte sein Gesicht so weiß, dass er beinahe wie ein Gespenst aussah. Pendergast war wie stets wie ein wohlhabender Bestattungsunternehmer gekleidet, im für ihn typischen maßgeschneiderten schwarzen Anzug. Nur dass der Agent diesmal irgendwie anders aussah – ganz anders. »Ich muss mit Ihnen sprechen. Sofort.«

»Klar, kein Problem. Sobald ich hier alles unter Dach und Fach –«

»Ich meine sofort, auf der Stelle, Vincent.«

D’Agosta starrte ihn ungläubig an. Das war gar nicht der coole, entspannte Pendergast, den er so gut kannte. So hatte er ihn noch nie erlebt: wütend, brüsk, mit hastigen Bewegungen. Und nicht nur das. Der sonst stets makellos gebügelte Anzug war zerknittert und zerdrückt, wie er bei näherem Betrachten feststellte.

Pendergast packte ihn am Revers. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten. Um mehr als einen Gefallen. Kommen Sie mit.«

Die vehemente Aufforderung verblüffte D’Agosta derart, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als ihr Folge zu leisten. Er verließ den Tatort unter den Blicken seiner Kollegen, folgte Pendergast an der Menschenmenge vorbei und ging die Straße hinunter, dorthin, wo der Rolls-Royce im Leerlauf stand. Am Steuer saß Proctor, der Chauffeur, mit bemüht ausdrucksloser Miene.

D’Agosta musste fast laufen, um mit Pendergast Schritt zu halten. »Sie wissen, ich helfe Ihnen, wie immer ich auch kann –«

»Sagen Sie kein Wort, sprechen Sie nicht, bis Sie sich angehört haben, was ich Ihnen mitzuteilen habe.«

»Sicher, klar«, fügte D’Agosta hastig hinzu.

»Steigen Sie ein.«

Pendergast setzte sich in den Fond, D’Agosta neben ihn. Pendergast zog ein Fach in der Tür auf und klappte eine kleine Bar auf. Dann griff er nach einer Kristallkaraffe, goss drei Fingerbreit Brandy ins Glas und trank die Hälfte davon in einem einzigen Schluck. Schließlich stellte er die Karaffe zurück und wandte sich zu D’Agosta um. Seine silbrigen Augen glitzerten vor Intensität. »Es handelt sich um keine normale Bitte. Wenn Sie es nicht können oder wollen, dann habe ich vollstes Verständnis dafür. Aber Sie dürfen mich nicht mit Fragen belasten, Vincent. Ich habe keine Zeit, ich habe einfach … keine … Zeit. Hören Sie zu und geben Sie mir dann Ihre Antwort.«

D’Agosta nickte.

»Sie müssen sich vom Dienst beurlauben lassen. Möglicherweise für ein Jahr.«

»Für ein Jahr?«

Pendergast kippte den restlichen Brandy hinunter. »Die ganze Sache kann Monate dauern, vielleicht auch nur Wochen. Aber ich kann einfach nicht sagen, wie lange sie uns in Anspruch nehmen wird.«

»Worum geht es bei ›dieser Sache‹?«

Einen Moment lang schwieg Pendergast. »Ich habe Ihnen gegenüber noch nie von meiner verstorbenen Frau Helen gesprochen, nicht wahr?«

»Nein.«

»Sie ist vor zwölf Jahren ums Leben gekommen, als wir in Afrika auf Safari waren. Sie wurde von einem Löwen angegriffen.«

»O Gott, das tut mir leid.«

»Damals habe ich geglaubt, dass es sich um einen schrecklichen Unfall handelte. Heute weiß ich, dass dem nicht so war.«

D’Agosta wartete.

»Heute weiß ich, dass sie ermordet wurde.«

»O Gott.«

»Die Fährte ist kalt. Ich brauche Sie, Vincent. Ich benötige Ihre Fähigkeiten, Ihr Köpfchen, Ihre Kenntnisse der arbeitenden Klasse, Ihre Art zu denken. Sie müssen mir helfen, die Person – oder die Personen –, die das getan hat, ausfindig zu machen. Ich erstattete Ihnen natürlich sämtliche Auslagen und sorge dafür, dass Ihr Gehalt und Ihre Krankenversicherung weitergezahlt werden.«

Es wurde still im Rolls. D’Agosta war wie vor den Kopf gestoßen. Was würde eine Zusage für seine Karriere bedeuten, seine Beziehung zu Laura Hayward … seine Zukunft? Es wäre verantwortungslos. Nein, mehr als das: Es wäre völlig verrückt.

»Handelt es sich um eine offizielle polizeiliche Ermittlung?«

»Nein. Nur wir beide würden ermitteln. Der Mörder kann sich überall auf der Welt verstecken. Wir würden völlig außerhalb des Systems – jedes Systems – operieren.«

»Und wenn wir den Mörder finden? Was dann?«

»Dann sorgen wir dafür, dass Recht geschieht.«

»Was bedeutet?«

Wieder schenkte sich Pendergast mit wütender Geste ein ordentliches Quantum Brandy ein, trank einen großen Schluck und fixierte D’Agosta aus kalten, platinhellen Augen.

»Dann töten wir ihn.«