27
Golf von Mexiko
Es schien fast so, als ob die Delta 767 in zehntausend Metern Höhe schwebe; der Himmel war heiter und wolkenlos, das Meer eine durchgehende blaue Fläche in der Tiefe, die im nachmittäglichen Licht glitzerte.
»Darf ich Ihnen noch ein Bier bringen, Sir?«, fragte die Stewardess und beugte sich beflissen über D’Agosta.
»Gern.«
Die Stewardess wandte sich D’Agostas Sitznachbarn zu. »Und Sie, Sir? Alles in Ordnung bei Ihnen?«
»Nein«, sagte Pendergast und deutete abfällig auf das kleine Tellergericht Räucherlachs, das auf seinem heruntergeklappten Sitzrücken-Tablett stand. »Meinem Gefühl nach hat das Gericht Zimmertemperatur. Könnten Sie mir bitte ein gekühltes bringen?«
»Sehr gern.« Die Stewardess nahm den Teller mit berufsmäßiger Geste vom Tablett.
D’Agosta wartete, bis die Stewardess zurückkam, dann machte er es sich in dem breiten, komfortablen Sitz bequem und streckte die Beine aus. Nur wenn er mit Pendergast reiste, flog er erster Klasse, woran er sich aber durchaus gewöhnen konnte.
In der Lautsprecheranlage ertönte ein Pling!, dann gab der Pilot durch, dass das Flugzeug in zwanzig Minuten auf dem Sarasota Bradenton International Airport landen werde.
D’Agosta trank einen Schluck von seinem Bier. Sunflower im Bundesstaat Louisiana lag schon achtzehn Stunden und Hunderte Meilen hinter ihnen, doch das seltsame Haus der Doanes – mit diesem Kleinod von Zimmer voller Wunderdinge – war ihm immer wieder durch den Kopf gegangen. Pendergast hatte jedoch nicht die geringste Neigung gezeigt, darüber zu sprechen, und war den ganzen Flug über nachdenklich und still gewesen.
D’Agosta versuchte es noch einmal. »Ich habe da eine Theorie.«
Pendergast warf ihm einen kurzen Blick zu.
»Ich glaube, die Familie Doane sollte uns auf die falsche Fährte locken.«
»In der Tat.« Pendergast aß versuchsweise einen Bissen von dem Lachs.
»Denken Sie doch mal darüber nach. Die Doanes sind viele Monate nach Helens Besuch übergeschnappt. Wie kann der Besuch also irgendetwas mit dem zu tun haben, was später passiert ist? Oder mit einem Papagei?«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Pendergast vage. »Mich wundert nur, dass es vor dem … Ende zu diesem plötzlichen Erblühen schöpferischer Intelligenz gekommen ist. Und zwar bei allen Angehörigen der Familie.«
»Es ist ja eine bekannte Tatsache, dass Wahnsinn vererbbar ist.« D’Agosta hütete sich allerdings, aus dieser Beobachtung einen Schluss zu ziehen. »Wie dem auch sei, es sind immer die Talentierten, die verrückt werden.«
»Verheißungsvoll beginnen wir des Lebens Lenz, doch dann folgt Stagnation, Verzweiflung, Armut und Demenz.« Pendergast wandte sich zu D’Agosta um. »Sie glauben also, dass die Kreativität der Doanes dazu geführt hat, dass sie den Verstand verloren haben?«
»Mit Sicherheit ist das mit der Tochter passiert.«
»Verstehe. Und dass Helen den Papagei gestohlen hat, hat nichts mit dem zu tun, was der Familie später zugestoßen ist. Ist das Ihre Hypothese?«
»Mehr oder weniger. Was glauben Sie?« D’Agosta hoffte, Pendergast mit dieser Frage aus der Reserve zu locken.
»Ich glaube, dass ich keine Zufälle mag, Vincent.«
D’Agosta zögerte. »Sehen Sie, ich habe mich noch etwas anderes gefragt … Ich meine, hat Helen sich vielleicht gelegentlich merkwürdig … sonderbar verhalten?«
Es kam ihm so vor, als strafften sich Pendergasts Züge. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.«
»Diese …«, wieder stockte D’Agosta, »… plötzlichen Reisen zu seltsamen Zielen. Diese Geheimnisse. Dieses Stehlen von Vögeln, erst zwei tote aus dem Museum, dann einen lebendigen von einer Familie. Könnte es vielleicht sein, dass Helen unter einer Form von Stress, oder, Sie wissen schon, an einer Nervenkrankheit litt? In Rockland sind mir nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach ihre Familie nicht so ganz normal –«
Er verstummte, als die Umgebungstemperatur rings um ihre Sitze abrupt um mehrere Grade sank.
Pendergast ließ sich zunächst nichts anmerken, aber als er dann etwas erwiderte, klang seine Stimme fern, um Höflichkeit bemüht. »Es mag schon sein, dass Helen Esterhazy außergewöhnlich war. Aber sie gehörte auch zu den vernunftbegabtesten, geistig gesündesten Menschen, denen ich je begegnet bin.«
»Bestimmt war sie das. Ich wollte damit nicht andeuten –«
»Außerdem zählte sie nicht zu jenen Menschen, die unter Stress zusammenbrechen.«
»Okay«, sagte D’Agosta hastig. War also keine gute Idee gewesen, das Thema anzuschneiden.
»Wir sollten, glaube ich, unsere Zeit lieber dazu nutzen, das anstehende Thema zu erörtern«, lenkte Pendergast das Gespräch in neue Bahnen. »Es gibt da einige Dinge, die Sie über ihn wissen sollten.« Er holte einen dünnen Umschlag aus seiner Jacketttasche und zog ein einzelnes Blatt Papier heraus. »John Woodhouse Blast. Alter: achtundfünfzig. Geboren in Florence, South Carolina. Derzeitiger Wohnort: Vier-eins-eins-zwei Beach Road, Siesta Key. Er ist etlichen Beschäftigungen nachgegangen: Kunsthändler, Galeriebesitzer, Import/Export – außerdem war er als Kupferstecher und Drucker tätig.« Er steckte das Blatt wieder ein. »Seine Kupferstiche waren von recht besonderer Art.«
»Und zwar?«
»Sie stellten Porträts verstorbener Präsidenten dar. Wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Sie meinen, er hat als Geldfälscher gearbeitet?«
»Der Secret Service hat gegen ihn ermittelt. Nichts wurde jemals bewiesen. Außerdem wurde wegen des Schmuggels von Elfenbein und Nashornhorn gegen ihn ermittelt – beides illegal seit der Konvention zum Schutz gefährdeter Arten von neunundachtzig. Auch in dem Fall konnte man ihm nichts nachweisen.«
»Der Typ ist offenbar schlüpfriger als ein Aal.«
»Er ist ganz offensichtlich ein einfallsreicher, entschlossener und gefährlicher Mann.« Pendergast hielt kurz inne. »Aber es gibt da noch einen anderen relevanten Aspekt … seinen Namen: John Woodhouse Blast.«
»Ja und?«
»Blast ist ein direkter Nachkomme von John James Audubon, und zwar über dessen Sohn, John Woodhouse Audubon.«
»Tatsächlich?«
»John Woodhouse war selbst ein guter Maler. Er hat Audubons letztes Werk, Die lebend gebärenden Vierfüßer Nordamerikas, fertiggestellt, wobei er nach dem plötzlichen psychischen Niedergang seines Vaters fast die Hälfte der Bildtafeln selbst gemalt hat.«
D’Agosta stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann glaubt Blast vermutlich, dass das Schwarzgerahmte von Rechts wegen ihm gehört.«
»Das nehme ich an. Wie es aussieht, hat er einen Großteil seines Erwachsenenlebens mit der Suche nach dem Gemälde verbracht. Er scheint sie in den letzten Jahren allerdings aufgegeben zu haben.«
»Und was macht er also jetzt?«
»Das habe ich nicht herausfinden können. Er hält sein aktuelles Blatt verdeckt.« Pendergast schaute aus dem Fenster. »Wir müssen aufpassen, Vincent. Sehr gut aufpassen.«