5
St. Charles Parish, Louisiana
Langsam glitt der Rolls-Royce Silver Shadow über die kreisförmige Auffahrt, wobei das vernehmliche Knirschen der Kieselsteine unter den Reifen hier und da von kleinen Stellen mit Fingerhirse gedämpft wurde. Dem Rolls folgte ein metallicsilberner Mercedes neueren Baujahrs. Schließlich hielten beide Autos vor einem großen, neoklassizistischen Plantagenhaus, das von uralten, mit Spanischem Moos behängten Schwarzeichen umstanden war. Eine kleine, an die Fassade angeschraubte Bronzeplakette verkündete, dass das Herrenhaus unter dem Namen Penumbra bekannt war, im Jahre 1821 von der Familie Pendergast erbaut worden war und im Verzeichnis der Kulturdenkmäler der Vereinigten Staaten aufgeführt wurde.
A. X. L. Pendergast stieg aus dem Fond des Rolls und nahm seine Umgebung in Augenschein. Es war ein später Nachmittag Ende Februar. Das weiche Licht, das die griechischen Säulen umspielte, warf goldene Lichtstreifen auf die überdachte Veranda. Ein leichter Nebel trieb über den verwilderten Rasen und das Unkraut im Garten. Hinter dem Haus sangen Zikaden schläfrig in den Hainen der Sumpfzypressen und den Mangrovensümpfen. Die Kupferleisten an den Balkonen im ersten Stock waren von einer dicken Schicht Grünspan überzogen. Kleine abgeplatzte Placken weißer Farbe wölbten sich von den Säulen. Haus und Anlage verströmten eine Atmosphäre der Feuchtigkeit, Vergessenheit und Vernachlässigung.
Ein sonderbarer Gentleman, klein und untersetzt, gekleidet in einen schwarzen Cutaway und mit einer weißen Nelke im Knopfloch, stieg aus dem Mercedes. Er wirkte mehr wie ein Oberkellner eines englischen Herrenclubs zu Beginn des 20. Jahrhunderts und weniger wie ein Rechtsanwalt aus New Orleans. Trotz des Sonnenlichts trug er einen fest eingerollten Regenschirm akkurat unter den Arm geklemmt. In der anderen, rehbraun behandschuhten Hand hielt er eine Alligatorenhaut-Aktentasche. Er setzte seinen Bowler auf und tippte kurz darauf.
»Mr. Pendergast. Wollen wir?« Der Rechtsanwalt zeigte auf einen überwucherten, rechts vom Haus liegenden und von einer Hecke umschlossenen Baumgarten.
»Selbstverständlich, Mr. Ogilby.«
»Vielen Dank.« Der Anwalt ging mit raschen Schritten voran und fegte dabei mit seinen Budapester Schuhen durchs feuchte Gras. Pendergast folgte langsameren Schritts und weniger zielstrebig. Als Mr. Ogilby vor einer Pforte in der Hecke ankam, schob er sie auf. Gemeinsam betraten sie den Baumgarten. Kurz darauf blickte Ogilby verschmitzt lächelnd zurück und sagte: »Kommen Sie, halten wir Ausschau nach dem Gespenst!«
»Ja, das wäre spannend«, sagte Pendergast, ebenso scherzhaft.
Der Anwalt ging rasch weiter auf dem einst mit Kies bestreuten, heute aber mit Unkraut überwucherten Weg. Hinter einer großen Hemlocktanne war ein rostiger Eisenzaun zu sehen, der ein kleines Stück Land umschloss. Hier und da ragten Grabsteine aus Schiefer und Marmor aus dem Gras, einige aufrecht stehend, andere geneigt.
Vor einem der größeren Grabsteine blieb Ogilby, dessen schwarze, mit Bügelfalten versehene Hose inzwischen klitschnass war, stehen, wandte sich um und wartete, die Aktentasche mit beiden Händen umklammernd, bis sein Mandant zu ihm aufschloss. Pendergast ging, sich über das blasse Kinn streichend, nachdenklich auf dem privaten Friedhof umher, bis er schließlich neben dem picobello gekleideten Anwalt stehen blieb.
»Also! Da wären wir wieder!«
Pendergast nickte abwesend. Er kniete sich hin, schob das Gras von der Vorderseite des Grabsteins weg und las laut vor:
Hic Iacet Sepultus
Louis de Frontenac Diogenes Pendergast
2. April 1899 – 15. März 1975
Tempus Edax Rerum
Ogilby, der hinter Pendergast stand, stellte seine Aktentasche auf dem Grabstein ab, löste die Verschlüsse, hob den Deckel an und zog ein Schriftstück heraus. Dann legte er es auf den ein wenig kippelig auf dem Grabstein liegenden Aktenkoffer.
»Mr. Pendergast?« Er hielt ihm einen schweren silbernen Füllfederhalter hin.
Pendergast unterzeichnete das Schriftstück.
Ogilby nahm den Füllfederhalter zurück, setzte seine schwungvolle Unterschrift unter das Dokument, versah es mit einem Notarssiegel, datierte es und steckte es wieder in die Aktentasche. Dann klappte er sie zu und schloss sie ab.
»Fertig! Hiermit wird Ihnen bescheinigt, dass Sie das Grab Ihres Großvaters besucht haben. Und somit werde ich Ihnen die Zuwendungen aus der Stiftung der Familie Pendergast auch weiterhin auszahlen, zumindest bis auf weiteres.« Er lachte auf.
Pendergast erhob sich, worauf Ogilby ihm sein kleines Händchen hinhielt. »Es war mir ein Vergnügen, Mr. Pendergast. Und in fünf Jahren werde ich doch wohl abermals das Vergnügen haben, mit Ihnen zusammenzutreffen?«
»Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite – und wird es immer bleiben«, erwiderte Pendergast und lächelte ironisch.
»Ausgezeichnet! Dann mache ich mich jetzt auf den Rückweg in die Stadt. Fahren Sie auch zurück?«
»Ich schaue noch einmal kurz bei Maurice vorbei. Er wäre todtraurig, wenn er erführe, dass ich wieder weggefahren bin, ohne ihm einen Besuch abgestattet zu haben.«
»Ganz recht, ganz recht! Wenn man sich vorstellt, dass er sich nun schon seit – wie vielen Jahren: zwölf? – ohne fremde Hilfe um Penumbra kümmert. Wissen Sie, Mr. Pendergast …« Ogilby beugte sich vor und senkte die Stimme, so, als wolle er ein Geheimnis ausplaudern. »Sie sollten das Haus wirklich renovieren lassen. Sie könnten ein hübsches Sümmchen dafür bekommen – ein wirklich hübsches Sümmchen! Plantagenhäuser aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg sind derzeit groß in Mode. Man könnte es doch in eine charmante kleine Pension umwandeln!«
»Vielen Dank, Mr. Ogilby, aber ich werde das Haus noch eine Weile länger behalten, glaube ich.«
»Wie Sie wünschen, wie Sie wünschen! Aber halten Sie sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr draußen auf – Sie wissen schon, bei den vielen Familiengespenstern.« Ogilby ging mit langen Schritten davon, vor sich hin kichernd, die Aktentasche schwingend; bald war er verschwunden, so dass Pendergast allein an dem Familiengrab zurückblieb. Er hörte, wie der Mercedes gestartet wurde, hörte, wie das Knirschen auf dem Kies leiser wurde.
Er spazierte noch einige Minuten auf dem Friedhof umher und las dabei die Inschriften auf den Grabsteinen. Jeder Name weckte Erinnerungen, eine seltsamer und exzentrischer als die andere. Viele der sterblichen Überreste stammten von Familienangehörigen, die nach dem Brand aus den Ruinen der Kellerkrypta der Pendergastschen Villa in der Dauphine Street exhumiert worden waren; andere Vorfahren hatten den Wunsch geäußert, in ihrer alten Heimat die letzte Ruhe zu finden.
Das goldene Licht verblasste, die Sonne versank hinter den Bäumen. Langsam zogen aus Richtung des Mangrovensumpfs fahle Nebelschwaden über die Rasenfläche. Die Luft roch nach Grün, Moos und Farnkraut. Schweigend und reglos stand Pendergast lange auf dem Friedhof, während der Abend sich über das Land senkte. Der gelbliche Schein von Lampen, die in den Fenstern des Plantagenhauses angingen, fiel durch die Bäume des Arboretums. Der Geruch nach brennendem Eichenholz lag in der Luft; ein Geruch, der unweigerlich Erinnerungen an Kindheitssommer zurückbrachte. Als Pendergast aufblickte, sah er, dass aus einem der großen Backsteinschornsteine des Herrenhauses träge eine blaue Rauchfahne emporstieg. Er verließ den Friedhof, durchquerte den Baumgarten und gelangte zur überdachten Veranda, deren wellig verzogene Dielen unter seinen Schritten knarrten.
Er klopfte an, trat einen Schritt zurück und wartete. Ein Knarren von drinnen; das Geräusch langsamer Schritte; ein kompliziertes Entfernen von Riegeln und Ketten; dann endlich schwang die große Tür auf, und vor ihm stand ein gebeugter alter Mann von unbestimmbarer Rasse, gekleidet in eine uralte Butler-Uniform, mit ernstem Gesicht. »Master Aloysius«, sagte er höflich und zurückhaltend, ohne sogleich die Hand auszustrecken.
Pendergast streckte seine Hand aus, worauf der alte Mann einschlug. Die knorrige alte Hand wurde freundlich geschüttelt. »Maurice, wie geht es Ihnen?«
»Mittelprächtig«, antwortete der alte Mann. »Ich habe gesehen, wie die Wagen vorgefahren sind. Ein Glas Sherry in der Bibliothek, Sir?«
»Ja, das wäre schön, danke.«
Maurice wandte sich um und ging langsam durch die Eingangshalle in Richtung Bibliothek. Pendergast folgte ihm. Im Kamin prasselte ein Feuer, weniger um Wärme zu spenden, sondern um die Feuchtigkeit aus dem Zimmer zu vertreiben.
Unter Gläserklirren hantierte Maurice auf der Anrichte, schenkte ein kleines Sherry-Glas voll, stellte es auf ein silbernes Tablett und trug es höchst zeremoniell zu Pendergast hinüber. Der nahm das Glas, nippte daran und blickte sich dann um. Nichts hatte sich zum Guten verändert. Die Tapete war stockfleckig, in den Ecken lagen Staubflusen. Seit seinem letzten Besuch in Penumbra vor fünf Jahren war es mit dem Haus sichtlich bergab gegangen.
»Es wäre schön, wenn Sie mich einen Hausmeister einstellen ließen, der im Hause wohnt, Maurice. Und eine Köchin. Das würde Ihnen viel von Ihrer Last abnehmen.«
»Unsinn! Ich bin auch ohne fremde Hilfe in der Lage, mich um das Haus kümmern.«
»Ich bezweifle, dass Sie hier allein sicher sind.«
»Nicht sicher? Natürlich ist das Haus sicher. Nachts ist es immer gut verriegelt.«
»Gewiss.« Pendergast trank einen kleinen Schluck Sherry, ein ausgezeichneter trockener Oroloso. Ein wenig träge überlegte er, wie viele Flaschen in dem weitläufigen Keller wohl noch lagerten. Vermutlich sehr viel mehr, als er in seinem Leben trinken konnte, von dem Wein, dem Port und dem guten alten Cognac ganz zu schweigen. Im Laufe der Zeit waren die Seitenzweige seiner Familie ausgestorben, weswegen sich die verschiedenen Weinkeller – wie auch der Reichtum – bei ihm, dem letzten überlebenden Angehörigen der Familie mit klarem Verstand, angesammelt hatten.
Er trank noch einen Schluck und stellte das Glas ab. »Maurice, ich sehe mich mal im Haus um. Um der alten Zeiten willen.«
»Jawohl, Sir. Ich bin hier, falls Sie mich brauchen.«
Pendergast erhob sich, öffnete die Kassettentür und betrat die Eingangshalle. Eine Viertelstunde lang spazierte er durch die Räume im Erdgeschoss: die leere Küche und die leeren Wohnräume, der Salon, die Speisekammer und der Gesellschaftsraum. Das Haus roch ein wenig wie in seiner Kindheit – nach Möbelpolitur, altem Eichenholz und, unendlich fern, dem Parfüm seiner Mutter; das alles überlagert von einem sehr viel neueren Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel. Jeder Gegenstand, jedes Figürchen und Gemälde, jeder Briefbeschwerer und silberne Aschenbecher stand an seinem Platz, und jedes kleine Objekt barg Tausende Erinnerungen an längst verstorbene Menschen, an Hochzeiten und Taufen und Begräbnisfeiern, an Cocktailpartys und Maskenbälle und Kinder, die unter den warnenden Rufen ihrer Tanten über die Flure liefen.
Vergangen, alles vergangen.
Er ging die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Hier führten zwei Flure zu den Schlafzimmern in den gegenüberliegenden Flügeln des Hauses, wobei der obere Salon geradeaus hinter einem bogenförmigen, von zwei Elefanten-Stoßzähnen bewachten Durchgang lag.
Pendergast betrat das Wohnzimmer. Auf dem Boden lag ein Zebrafell, über dem großen Kamin schmückte der Kopf eines Kapbüffels die Wand und blickte mit seinen Glasaugen auf ihn herab. An den Wänden hingen weitere Trophäen: Kudu, Buschbock, Hirsch, Reh, Hirschkuh, Wildschwein, Elch.
Pendergast verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging langsam auf und ab. Und während er die Trophäensammlung betrachtete, diese Wächter der Erinnerung an lang zurückliegende Ereignisse, kehrten seine Gedanken unwiderstehlich zu Helen zurück. In der vergangenen Nacht hatte ihn der alte Albtraum – so klar und furchterregend wie stets – erneut heimgesucht, und noch jetzt verspürte er seine bösartigen Nachwirkungen, ähnlich wie ein Geschwür in der Magengrube. Vielleicht konnte ja dieses Zimmer diesen besonderen Dämon austreiben, zumindest eine Zeitlang. Ganz verschwinden würde er natürlich nie.
Auf der gegenüberliegenden Seite, vor der Wand, stand der abgeschlossene Waffenschrank, der seine Jagdwaffen enthielt. Es war ein wüster, blutrünstiger Sport, ein 32,4 Gramm schweres Metallprojektil mit siebenhundert Metern pro Sekunde in ein Wildtier zu treiben, und er wunderte sich, warum er sich zur Jagd hingezogen fühlte. Aber es war Helen gewesen, die die Jagd wahrhaft geliebt hatte. Ein seltsames Hobby für eine Frau, aber sie war ja eine ungewöhnliche Frau gewesen. Eine außergewöhnliche Frau.
Durch den geriffelten, staubigen Glaseinsatz fiel sein Blick auf Helens Krieghoff-Doppelbüchse. Die erlesen gravierten Seitenplatten waren mit Silber und Gold eingelegt, der Schaft aus Walnussholz glänzte vom häufigen Gebrauch. Die Krieghoff war sein Hochzeitsgeschenk gewesen, unmittelbar bevor Helen und er zur Flitterwochen-Safari aufgebrochen waren, auf Kapbüffel in Tansania. Ein wunderschönes Objekt, der Preis lag im sechsstelligen Bereich, nur die feinsten Hölzer und Edelmetalle waren verwendet worden – und dennoch diente es einem höchst grausamen Zweck.
Während Pendergasts Blick darauf ruhte, fiel ihm an der Mündung des Laufs ein schmaler Streifen Rost auf.
Er schritt zur Tür des Salons und rief die Treppe hinunter: »Maurice? Würden Sie mir bitte den Schlüssel zum Waffenschrank bringen?«
Nach einer Weile erschien Maurice in der Eingangshalle. »Jawohl, Sir.« Er wandte sich um und verschwand wieder. Augenblicke später stieg er langsam die knarrende Treppe herauf, einen eisernen Schlüssel in der geäderten Hand. Ein wenig ächzend ging er an Pendergast vorbei und blieb vor dem Waffenschrank stehen, schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn.
»Bitte schön, Sir.« Pendergast verzog keine Miene, doch es freute ihn, dass er in Maurice ein Gefühl des Stolzes verspürte: weil er den Schlüssel griffbereit hatte, zu Diensten war.
»Vielen Dank, Maurice.«
Maurice verließ mit kurzem Nicken den Raum.
Pendergast griff in den Waffenschrank und umfasste den kalten, metallenen Doppellauf. Seine Finger kribbelten, schon allein deshalb, weil es Helens Waffe war. Aus irgendeinem Grund schlug sein Herz schneller, zweifellos die nachklingenden Wirkungen seines Albtraums. Er nahm die Jagdbüchse aus dem Schrank und legte sie auf den Refektoriumstisch in der Mitte des Zimmers. Aus einer Schublade unten im Waffenschrank zog er die Utensilien zur Waffenreinigung hervor und legte sie neben die Waffe. Dann wischte er sich die Hände sauber, nahm das Gewehr zur Hand, klappte den Verschluss auf und spähte in beide Läufe.
Er wunderte sich ein wenig: Der rechte Lauf war stark verschmutzt; der linke sauber. Er legte das Gewehr auf den Tisch zurück und überlegte. Wieder trat er auf den Flur.
»Maurice?«
Wieder erschien der alte Diener. »Ja, Sir?«
»Wissen Sie, ob seit … dem Tod meiner Frau jemand mit der Krieghoff geschossen hat?«
»Es war Ihr ausdrücklicher Wunsch, Sir, dass niemand die Büchse benutzt. Ich selbst verwahre den Schlüssel. Seitdem ist kein Mensch auch nur in die Nähe des Waffenschranks gekommen.«
»Vielen Dank, Maurice.«
»Gern geschehen, Sir.«
Pendergast ging in den Salon zurück, doch diesmal schloss er die Tür hinter sich. Aus einem Schreibtisch zog er ein altes Blatt Briefpapier hervor, das er auf den Tisch legte. Dann steckte er eine Bürste in den rechten Lauf, schob ein wenig von den Schmutzpartikeln auf das Blatt Papier und betrachtete sie eingehend: Stückchen und kleine Flocken von einer verbrannten, papierähnlichen Substanz. Schließlich griff er in die Außentasche seines Jacketts und zog die Lupe hervor, die er stets bei sich trug, klemmte sie sich in die Augenhöhle und betrachtete die Teilchen eingehend. Kein Zweifel, es handelte sich um die versengten, verkohlten Reste von Schusspflaster.
Aber das Kaliber-500/416-NE-Geschoss enthielt kein Schusspflaster, nur die Kugel, die Hülse und die Treibladung. Eine solche Patrone, selbst eine defekte, hätte niemals eine derartige Verschmutzung hinterlassen.
Pendergast untersuchte den linken Lauf, er war sauber und gut geölt. Mit Hilfe der Reinigungsbürste schob er einen Lappen durch den Lauf. Hier war keinerlei Verunreinigung zu erkennen.
Pendergast richtete sich auf, plötzlich hellwach. Das letzte Mal war die Waffe an jenem schrecklichen Tag abgefeuert worden. Er zwang sich, an damals zurückzudenken. Was er im Wachzustand um jeden Preis vermied. Doch sobald er sich erinnerte, fiel es ihm nicht schwer, die Einzelheiten abzurufen. Jeder Augenblick jener Jagd war auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt.
Helen hatte die Waffe nur einmal abgefeuert. Die Krieghoff hatte zwei Abzüge, einer hinter dem anderen. Der vordere Abzug betätigte den rechten Lauf und war zugleich derjenige, der in der Regel zuerst betätigt wurde. Es war der Abzug, den Helen betätigt hatte. Und dieser Schuss hatte den rechten Lauf verunreinigt.
Bei diesem einzigen Schuss hatte Helen den sogenannten Roten Löwen verfehlt. Pendergast hatte das immer darauf zurückgeführt, dass die Kugel durch das Buschwerk abgelenkt worden war, vielleicht war Helen auch zu aufgeregt gewesen.
Doch Helen ließ sich ihre innere Erregung niemals anmerken, nicht einmal unter den extremsten Umständen. Sie schoss kaum einmal daneben. Und sie hatte auch beim letzten Mal nicht danebengeschossen … besser gesagt: hätte nicht danebengeschossen, wenn der rechte Lauf geladen gewesen wäre.
Aber der Lauf war nicht mit einem echten Projektil geladen gewesen, sondern mit einer Platzpatrone.
Damit eine Platzpatrone ein ähnliches Geräusch und einen ähnlichen Rückschlag erzeugte, musste sie einen großen, festen Pfropfen haben, der den Lauf auf genau die Art und Weise verunreinigte, wie er es gerade eben gesehen hatte.
Wäre Pendergast ein Mann von geringerer Selbstbeherrschung gewesen, so hätten die Stützen seiner geistigen Gesundheit unter der emotionalen Intensität seiner Gedanken möglicherweise nachgegeben. An jenem Morgen, unmittelbar bevor sie in den Busch loszogen, um den Löwen zu suchen, hatte Helen die Waffe im Camp mit 500/416-NE-Teilmantelgeschossen geladen. Er war sich da absolut sicher, er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Und er wusste auch, dass es echte Projektile gewesen waren, keine Platzpatronen – niemand, vor allem nicht Helen, würde eine Platzpatrone mit Pfropfen mit einem Zwölf-Unzen-Projektil verwechseln. Er erinnerte sich ganz deutlich daran, wie Helen die abgerundeten Köpfe der beiden Teilmantelgeschosse in die Gewehrläufe schob.
Zwischen dem Zeitpunkt, als Helen die Krieghoff mit den Teilmantelgeschossen lud, und dem Zeitpunkt, als sie schoss, hatte irgendjemand die nicht abgefeuerten Patronen entfernt und gegen Platzpatronen ausgetauscht. Und dann hatte jemand nach der Jagd die beiden Platzpatronen – die eine abgefeuert, die andere nicht – entfernt, um den Austausch zu vertuschen. Aber diese Person hatte einen kleinen Fehler begangen: Sie hatte den Lauf, aus dem geschossen worden war, nicht gesäubert, so dass die beweiskräftige Verunreinigung zurückgeblieben war.
Pendergast setzte sich auf dem Stuhl zurück und hob eine Hand – die ganz leicht zitterte – an den Mund.
Helen Pendergast hatte ihr Leben nicht durch einen tragischen Unfall verloren. Sondern durch einen Mord.