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New York City

Kaum hatte Captain Hayward den schäbigen Wartebereich vor den Verhörzimmern im Kellergeschoss des Polizeihochhauses betreten, da standen die beiden Zeugen, die sie einbestellt hatte, von ihren Stühlen auf.

Auch der Sergeant des Morddezernats erhob sich, worauf Hayward die Stirn runzelte. »Okay, bitte nehmen Sie wieder Platz und entspannen Sie sich. Ich bin nicht der Präsident.« Ihr war schon klar, dass ihr Dienstgrad ein bisschen furchteinflößend wirkte, vor allem auf jemanden, der auf einem Schiff arbeitete, aber das hier war zu viel, und deshalb war ihr unbehaglich zumute. »Tut mir leid, dass ich Sie an einem Sonntag einbestellt habe, Sergeant. Ich rede einzeln mit ihnen, keine besondere Reihenfolge.«

Sie ging weiter ins Verhörzimmer, eines von den netteren. Hier wurden die auskunftswilligen Zeugen vernommen, nicht die unkooperativen Verdächtigen »gegrillt«. Der Raum war mit einem Beistelltisch, einem Schreibtisch und ein paar Stühlen möbliert. Der Mann mit dem Diktaphon war schon da. Er nickte und gab ihr das »Alles Klar«-Zeichen.

»Danke«, sagte Hayward. »Ich danke Ihnen, vor allem, weil Sie so kurzfristig gekommen sind.« Ihr Vorsatz fürs neue Jahr lautete: Unterdrücke deine bisweilen gereizten Bemerkungen jenen gegenüber, die in der Hierarchie tiefer stehen. Die, die über ihr standen, sollten dagegen nach wie vor deutliche Worte zu hören bekommen: Nach oben treten, nach unten buckeln, das war ihr Leitspruch.

Sie steckte den Kopf durch den Türspalt. »Schicken Sie mir bitte den ersten herein.«

Der Sergeant führte den ersten Zeugen herein, der noch seine Uniform trug. Hayward deutete auf einen der Stühle.

»Mir ist klar, dass Sie bereits vernommen wurden, aber ich hoffe, noch eine Runde macht Ihnen nichts aus. Ich will mich bemühen, es kurz zu machen. Kaffee, Tee?«

»Nein danke, Captain«, sagte der Schiffsoffizier.

»Sie sind der Sicherheitschef des Schiffs, ist das richtig?«

»Ja.«

Der Sicherheitschef, ein gutmütiger älterer Herr mit einem Schopf weißer Haare und einem angenehmen britischen Akzent, sah wie ein Polizeibeamter im Ruhestand in einer englischen Kleinstadt aus. Was er vermutlich auch ist, dachte sie.

»Also, was ist denn passiert?«, fragte sie. Sie fing immer gern mit allgemeinen Fragen an.

»Nun, Captain, die Sache kam mir kurz nach dem Ablegen zur Kenntnis. Ich erhielt die Information, dass sich einer der Passagiere, Constance Greene, merkwürdig benehme.«

»Könnten Sie das näher erläutern?«

»Sie hatte ihr Baby mit an Bord gebracht, einen drei Monate alten Säugling. Schon allein dies war ungewöhnlich – ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern, dass ein Passagier schon einmal ein so kleines Kind mit an Bord gebracht hat. Vor allem nicht eine alleinstehende Mutter. Ich erhielt die Nachricht, dass kurz nach ihrer Einschiffung eine freundliche Passagierin ihr Baby habe sehen wollen – und ihr dabei vielleicht zu nahe kam –, und dass Ms. Greene die Passagierin offenbar bedroht habe.«

»Was hat sie getan?«

»Ich habe Ms. Greene in ihrer Kabine befragt und bin zu dem Schluss gekommen, dass sie lediglich überfürsorglich reagierte – Sie wissen ja, wie einige dieser Mütter sein können – und dass sie die Passagierin nicht wirklich bedrohen wollte. Die Passagierin, die sich beschwert hatte, war, wie ich fand, eine neugierige alte Wichtigtuerin.«

»Was für einen Eindruck hat sie auf Sie gemacht? Ms. Greene, meine ich.«

»Ruhig, gelassen, recht distanziert.«

»Und das Baby?«

»Lag bei ihr im Zimmer, in einer Wiege, die unser Housekeeping zur Verfügung gestellt hatte. Es schlief während meines kurzen Besuchs.«

»Und was passierte dann?«

»Ms. Greene hat sich drei, vier Tage lang in ihrer Kabine eingeschlossen. Danach wurde sie während der restlichen Überfahrt da und dort auf dem Schiff gesehen. Ich weiß von keinen weiteren Vorfällen, das heißt, bis Ms. Greene bei der Passkontrolle ihr Baby nicht vorweisen konnte. Das Kind war in ihren Pass eingetragen, wie es üblich ist, wenn eine Staatsbürgerin der USA im Ausland ein Kind zur Welt bringt.«

»Hat Ms. Greene auf Sie einen geistig gesunden Eindruck gemacht?«

»Sie wirkte geistig völlig gesund, zumindest während meines Gesprächs mit ihr. Und ungewöhnlich selbstsicher für eine junge Dame ihres Alters.«

 

Der nächste Zeuge war ein Purser, der bestätigte, was der Sicherheitschef ausgesagt hatte: dass die Passagierin mit ihrem Baby an Bord gegangen war, dass sie extrem fürsorglich war und dass sie mehrere Tage in ihrer Kabine verschwunden war. Dann, ungefähr auf der Mitte der Überfahrt, wurde sie gesehen, wie sie in den Restaurants speiste und ohne das Baby auf dem Schiff umherging. Die Leute nahmen an, dass sie eine Kinderfrau hatte oder den Babysitting-Dienst auf dem Schiff in Anspruch nahm. Sie blieb für sich, sprach mit niemandem, wies alle freundlichen Gesten zurück. »Ich habe sie für eine dieser extrem reichen Exzentrikerinnen gehalten«, sagte der Purser aus, »Sie wissen schon, von der Sorte, die so viel Geld haben, dass sie tun können, was sie wollen, und sich von niemandem etwas sagen lassen. Und …« Er stockte.

»Sprechen Sie weiter.«

»Zum Ende der Reise hin habe ich dann doch gedacht, dass sie vielleicht ein klein bisschen … irre ist.«

 

Hayward blieb an der Tür zu der kleinen U-Haft-Zelle stehen. Sie war Constance Greene noch nie begegnet, hatte aber von Vinnie viel über sie gehört. Er hatte sie ihr immer so geschildert, als sei sie schon recht alt, doch als die Tür aufschwang, sah Hayward zu ihrer Überraschung eine höchstens 22 oder 23 Jahre alte Frau, deren dunkles Haar zu einem schicken, wenn auch altmodischen Bob geschnitten war und die, immer noch formell gekleidet, auf der herunterklappbaren Pritsche saß.

»Darf ich hereinkommen?«

Constance Greene sah sie an. Hayward brüstete sich damit, in dem Blick eines Menschen lesen zu können, aber diese Augen waren unergründlich.

»Gerne.«

Hayward setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. Konnte es wirklich sein, dass diese Frau ihr eigenes Kind in den Atlantik geworfen hatte? »Ich bin Captain Hayward.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Captain.«

Unter den Umständen empfand sie diese etwas veraltete Begrüßungsfloskel doch als ein wenig unheimlich. »Ich bin eine Bekannte von Lieutenant D’Agosta, den auch Sie kennen, außerdem habe ich gelegentlich mit Ihrem, äh, Onkel, Special Agent Pendergast, zusammengearbeitet.«

»Er ist nicht mein Onkel. Aloysius ist mein Pate. Wir sind nicht verwandt«, korrigierte sie Hayward geziert, pedantisch.

»Ah ja, so. Haben Sie Familie?«

»Nein«, kam die schnelle, schroffe Erwiderung. »Meine Angehörigen sind schon lange tot.«

»Das tut mir leid. Zunächst eine Frage: Könnten Sie mir mit einem Detail aushelfen? Wir haben ein wenig Mühe, Ihre offiziellen Dokumente zu finden. Kennen Sie vielleicht Ihre Sozialversicherungsnummer auswendig?«

»Ich besitze keine Sozialversicherungsnummer.«

»Wo wurden Sie geboren?«

»Hier in der Stadt New York. In der Water Street.«

»Der Name des Krankenhauses?«

»Ich bin zu Hause zur Welt gekommen.«

»Verstehe.« Hayward entschied sich, diesen Befragungsansatz nicht weiterzuverfolgen. Die juristische Abteilung würde das schon noch herausbekommen und, ehrlich gesagt, ging sie damit den bevorstehenden schwierigen Fragen aus dem Weg.

»Constance, ich bin im Morddezernat tätig, aber das hier ist nicht mein Fall. Ich bin nur gekommen, um Fakten zu sammeln. Sie sind nicht verpflichtet, irgendeine meiner Fragen zu beantworten, und diese Befragung hat keinen offiziellen Charakter. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe das vollkommen, danke.«

Hayward wunderte sich erneut über Constance Greenes altmodische Ausdrucksweise und ihr Gebaren. Etwas in ihren Augen wirkte so alt und weise, dass sie zu einem so jungen Kopf nicht recht passen wollten.

Sie atmete tief durch. »Haben Sie Ihr Baby tatsächlich ins Meer geworfen?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil es böse war. So wie sein Vater.«

»Und der Vater ist …«

»Tot.«

»Und wie hieß er noch gleich?«

Stille senkte sich über die Zelle. Und als Greene dann die kühl-violetten Augen abwandte, begriff Hayward besser als durch alles, was Greene gesagt hatte, dass sie diese Frage niemals beantworten würde.

»Warum sind Sie zurückgekommen? Sie waren doch im Ausland. Wieso sind Sie jetzt nach Hause zurückgekehrt?«

»Weil Aloysius meine Hilfe benötigen wird.«

»Hilfe? Was für eine Art Hilfe denn?«

Constance blieb regungslos sitzen. »Er ist auf den Verrat, der seiner harrt, nicht vorbereitet.«