13
New Orleans
Pendergast steuerte den Rolls-Royce auf den vom Licht der Natriumdampflampen grell erleuchteten Parkplatz in der Dauphine Street. Der Parkplatzwächter, ein Mann mit dicken Ohren und schweren Tränensäcken unter den Augen, ließ die Schranke hinter ihnen herunter und reichte Pendergast ein Ticket, das dieser hinter den Scheibenwischer steckte.
»Hinten links, Platz neununddreißig!«, rief der Mann mit unüberhörbarem Mississippi-Delta-Akzent und betrachtete den Rolls mit großen Augen. »Ach nein, nehmen Sie lieber Platz zweiunddreißig, der ist größer. Und wir haften auch nicht für Schäden. Vielleicht sollten Sie Ihren Wagen besser im LaSalle’s in der Toulouse abstellen, im Parkhaus.«
»Vielen Dank, ich ziehe diesen Parkplatz vor.«
»Wie Sie wollen.«
Pendergast manövrierte den großen Rolls über den engen Parkplatz und steuerte ihn vorsichtig auf die zugewiesene Parkfläche. Sie stiegen aus. Der Parkplatz war zwar groß, vermittelte aber trotzdem ein klaustrophobisches Gefühl, weil er an allen Seiten von ganz unterschiedlichen alten Gebäuden eingeschlossen war. Es war ein milder Winterabend, und obwohl es schon ziemlich spät war, wankten immer noch Gruppen junger Männer und Frauen, einige mit Plastikbechern voll Bier in der Hand, über die Bürgersteige und riefen sich gegenseitig irgendetwas zu, lachten und lärmten. Von den dahinterliegenden Straßen wehte gedämpft der Lärm von Rufen und Schreien, hupenden Autos und Dixieland-Jazz herüber.
»Ein typischer Abend im French Quarter«, sagte Pendergast und lehnte sich gegen den Rolls. »Bourbon ist die übernächste Straße, Epizentrum der öffentlichen Zurschaustellung der moralischen Verderbtheit dieses Landes.« Während er die Abendluft einatmete, glitt ein schwer zu deutendes Lächeln über seine blassen Gesichtszüge.
D’Agosta wollte losgehen, aber Pendergast rührte sich nicht vom Fleck. »Gehen wir?«, fragte er schließlich.
»Gleich, Vincent.« Pendergast schloss die Augen, so als wollte er die Atmosphäre des Ortes in sich wirken lassen. D’Agosta wartete und rief sich in Erinnerung, dass Pendergasts sonderbare Stimmungsschwankungen und seltsame Eigenarten Geduld erforderten, viel Geduld. Doch die Fahrt von Savannah hierher war lang und anstrengend gewesen – wie es schien, besaß Pendergast da unten einen weiteren Rolls, der mit dem in New York praktisch identisch war –, und außerdem hatte er Kohldampf. Zudem freute er sich schon seit geraumer Zeit auf ein kühles Bier, und mit anzusehen, wie diese Zecher mit ihren Bechern voll Bier vorbeigingen, besserte seine Stimmung auch nicht gerade.
Nach einer Minute räusperte sich D’Agosta. Pendergast schlug die Augen auf.
»Sehen wir uns Ihr Elternhaus an?«, fragte D’Agosta. »Oder wenigstens das, was davon noch übrig ist?«
»Ja, genau das machen wir.« Pendergast drehte sich um. »Wir befinden uns hier in einem der ältesten Abschnitte der Dauphine Street, im Herzen des French Quarter, des echten French Quarter.«
D’Agosta brummte irgendetwas. Da sah er, dass der Parkwächter sie von der anderen Seite des Parkplatzes mit einem gewissen Argwohn beobachtete.
Pendergast streckte den Arm aus. »Das zauberhafte neoklassizistische Stadthaus hier zum Beispiel wurde von einem der berühmtesten der ersten New-Orleans-Architekten erbaut, James Gallier Senior.«
»Wie’s aussieht, wurde es in ein Holiday Inn umgewandelt«, sagte D’Agosta mit einem Blick auf das Schild an der Fassade.
»Und das prächtige Haus dort ist das Gardette–Le-Pretre-Haus. Erbaut für einen Zahnarzt, der aus Philadelphia hierherkam, als New Orleans noch spanisch war. Ein Pflanzer namens Le Pretre hat es neunzehnneununddreißig für über zwanzigtausend Dollar gekauft – eine ungeheure Summe zur damaligen Zeit. Die Le Pretres besaßen das Haus bis in die siebziger Jahre, aber leider ist es mit der Familie danach bergab gegangen. Inzwischen ist es, glaube ich, in Luxus-Eigentumswohnungen umgewandelt worden.«
»Okay«, sagte D’Agosta. Der Parkwächter kam mit mürrischer Miene zu ihnen herüber.
»Und direkt auf der anderen Straßenseite«, sagte Pendergast, »liegt das alte kreolische Cottage, in dem James Audubon eine Zeitlang mit seiner Frau, Lucy Bakewell, gewohnt hat. Heute beherbergt es ein kleines Museum.«
»Entschuldigen Sie«, sagte der Parkwächter, dessen Augen sich zu froschähnlichen Schlitzen verengten. »Vorsätzliches Herumlungern ist hier verboten.«
»Verzeihen Sie!« Pendergast zog einen Fünfzig-Dollar-Schein aus der Hosentasche. »Wie achtlos von mir, Ihnen kein Trinkgeld anzubieten. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Achtsamkeit.«
Der Mann lächelte. »Na ja, ich wollt nicht … aber trotzdem vielen Dank, Sir.« Er nahm den Geldschein entgegen. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, kein Grund zur Eile.« Er nickte, lächelte und ging zurück in sein Wachhäuschen.
Pendergast hatte es offenbar nach wie vor nicht eilig, den Parkplatz zu verlassen. Die Hände hinter dem dunklen Anzug verschränkt, ging er umher und blickte mal dahin und mal dorthin, als wäre er in einem Museumssaal, sein Gesichtsausdruck eine seltsame Mischung aus Wehmut, Verlust und etwas, das sich nicht so leicht bestimmen ließ. D’Agosta bemühte sich, seine zunehmende Verärgerung zu unterdrücken. »Suchen wir nun endlich Ihr Elternhaus?«, fragte er schließlich.
Pendergast drehte sich zu ihm um und sagte leise: »Aber wir haben es doch schon gefunden, mein lieber Vincent.«
»Und wo liegt es?«
»Genau hier. Hier stand Rochenoire.«
Auf einmal sah D’Agosta den asphaltierten Parkplatz mit ganz anderen Augen. Ein Windstoß wehte ein Stück ekligen Mülls vom Boden, wirbelte es herum und herum. Irgendwo schrie eine Katze.
»Nachdem das Haus abgebrannt war«, sagte Pendergast, »wurden die unterirdischen Grüfte entfernt, der Keller wurde zugeschüttet und der Rest planiert. Jahrelang war das hier ein unbebautes Grundstück, bis ich es schließlich an die Firma verpachtet habe, die diesen Parkplatz betreibt.«
»Das Grundstück gehört Ihnen noch immer?«
»Die Pendergasts verkaufen niemals Grundbesitz.«
»Ah ja, so.«
Pendergast wandte sich ab. »Rochenoire lag weit zurück von der Straße, davor befand sich ein französischer Garten. Ursprünglich war es ein Kloster, ein großes Steingebäude mit Erkerfenstern, Zinnen und einem Witwengang. Neogotisch, ziemlich ungewöhnlich für die Straße. Ich bewohnte eines der Eckzimmer, im ersten Stock, dort oben.« Er zeigte in die Luft. »Von dort blickte man über das Audubon-Cottage hinweg zum Fluss, das andere Fenster ging hinaus zum Le-Pretre-Haus. Ah, die Le Pretres … ich habe sie damals stundenlang beobachtet, wenn sie hinter den erleuchteten Fenstern auf und ab gingen, und ihr theatralisches Getue belauscht.«
»Und Helen haben Sie im Audubon-Museum, das gegenüber liegt, kennengelernt?« D’Agosta hoffte, mit seiner Frage das Gespräch zurück auf die anstehende Aufgabe zu lenken.
Pendergast nickte. »Ich hatte dem Museum unser Doppelelefantfolio für eine Ausstellung ausgeliehen und wurde zur Vernissage eingeladen. Die waren immer begierig, das Exemplar unserer Familie in die Finger zu bekommen, das mein Ururgroßvater direkt bei Audubon subskribiert hatte.«
Pendergast stockte. In dem grellen Licht, in das der Parkplatz getaucht war, wirkte sein Gesicht beinahe gespenstisch weiß. »Als ich das kleine Museum betrat, habe ich auf der anderen Seite des Raums eine junge Frau gesehen, die zu mir herüberschaute.«
»Liebe auf den ersten Blick?«, fragte D’Agosta.
Das geisterhafte Lächeln kehrte zurück. »Es war, als wäre die Welt plötzlich verschwunden, als würde niemand sonst existieren. Sie war absolut zauberhaft. Ganz in Weiß gekleidet. Ihre Augen waren so blau, dass es an indigofarben grenzte, durchsetzt mit kleinen violetten Pünktchen. Höchst ungewöhnlich. Mehr noch: meiner Erfahrung nach einzigartig. Sie kam geradewegs zu mir herüber, stellte sich vor und fasste meine Hand, noch ehe ich meine Fassung wiedergewann …« Er stockte. »Helen kannte keine Schüchternheit, sie war der einzige Mensch, dem ich völlig vertraut habe.«
Pendergasts Stimme klang belegt, dann riss er sich zusammen. »Außer Ihnen, mein lieber Vincent.«
D’Agosta war erstaunt, plötzlich auf diese Weise gelobt zu werden. »Danke.«
»Was für einen schwelgerischen Unsinn ich da rede«, sagte Pendergast rasch. »Die Antworten liegen in der Vergangenheit, aber wir dürfen uns nicht in ihr verlieren. Wie dem auch sei: Ich glaube, es war wichtig für uns – für uns beide –, dass wir an diesem Ort angefangen haben.«
»Angefangen?«, wiederholte D’Agosta. Dann drehte er sich um. »Sagen Sie mal, Pendergast –«
»Ja?«
»Apropos Vergangenheit, es gibt da etwas, was ich mich schon die ganze Zeit frage. Warum haben die – wer immer sie sind – sich eigentlich die ganze Mühe gemacht?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
»Den dressierten Löwen erwerben. Den Tod des deutschen Fotografen herbeiführen, um Sie und Helen in das Camp zu locken. Diese vielen Leute bestechen. Das hat doch enorm viel Geld und Zeit gekostet. Das ist doch ein enorm komplizierter Plan. Warum nicht einfach eine Entführung oder einen Autounfall hier unten in New Orleans inszenieren? Ich meine, das wäre doch der leichtere Weg …« Er brach ab.
Einen Augeblick schwieg Pendergast. Dann nickte er langsam. »Sie haben recht. Es ist eine höchst merkwürdige Vorgehensweise. Aber vergessen Sie nicht, unser Freund Wisley hat gesagt, dass es sich bei einem der Verschwörer, die er belauscht hat, um einen Deutschen handelte. Und dieser Tourist, den der Löwe als Ersten tötete, war ebenfalls Deutscher. Vielleicht war der erste Mord ja mehr als nur ein Ablenkungsmanöver.«
»Das habe ich nicht bedacht«, sagte D’Agosta.
»Wenn dem so ist, würde das die Ausgaben und Anstrengungen eher rechtfertigen. Aber behalten wir diesen Gedanken einstweilen im Kopf. Ich bin überzeugt, dass unser erster Schritt darin bestehen muss, mehr über Helen selbst herauszufinden – wenn das denn möglich ist.« Er griff in die Außentasche seines Jacketts, zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus und reichte es D’Agosta.
D’Agosta faltete es auseinander. Eine Adresse, verfasst in Pendergasts eleganter Schrift:
214 Mechanic Street
Rockland, Maine
»Was ist das?«, fragte D’Agosta.
»Die Vergangenheit. Dort ist Helen aufgewachsen. Das ist Ihre nächste Aufgabe, Vincent. Meine eigene liegt hier.«