50
Penumbra-Plantage
Der alte Diener, Maurice, öffnete Hayward, worauf sie die düsteren Räume des Plantagenhauses betrat. Es entsprach ziemlich genau ihrer Vorstellung von dem Domizil, aus dem Pendergast stammte: Oberschicht, deren Stammbaum bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückreichte, allerdings im Niedergang begriffen, angefangen vom baufälligen Haus bis zum schwermütigen alten Diener in seiner Butlerkluft.
»Hier entlang, Captain Hayward«, sagte Maurice, wandte sich um und wies mit offener Handfläche zum Salon. Als sie den Raum betrat, sah sie Pendergast vor einem Kamin sitzen, ein kleines Glas neben der rechten Hand. Er erhob sich und wies ihr einen Platz auf dem Sofa zu.
»Einen Sherry?«
Sie stellte ihre Aktentasche ab und nahm daneben Platz. »Nein, danke. So etwas trinke ich nicht.«
»Etwas anderes vielleicht? Bier? Tee? Einen Martini?«
Sie warf Maurice einen kurzen Blick zu. Sie wollte ihn nicht bemühen, war aber doch ziemlich erschöpft nach der Fahrt. »Einen Tee bitte. Stark, mit Milch und Zucker.«
Der Diener neigte kurz den Kopf und zog sich zurück.
Pendergast setzte sich wieder und schlug ein Bein übers andere. »Wie war Ihre Fahrt nach Siesta Key und St. Francisville?«
»Ergiebig. Aber zunächst – wie geht’s Vinnie?«
»Er hält sich ganz gut. Die Verlegung in ein Privatkrankenhaus wurde ohne besondere Vorkommnisse vollzogen. Und die zweite Operation, bei der seine Aortenklappe durch eine Herzklappe vom Schwein ersetzt wurde, ist hervorragend verlaufen, so dass er sich inzwischen auf dem Wege der Besserung befindet.«
Hayward lehnte sich zurück. Ihr fiel ein riesiger Stein vom Herzen. »Gott sei Dank. Ich möchte ihn besuchen.«
»Wie ich bereits erwähnte – das wäre unklug. Selbst ihn anzurufen könnte wenig ratsam sein. Wir scheinen es hier mit einem ausgesprochen cleveren Killer zu tun haben, der, wie ich glaube, über gewisse Insiderinformationen über uns verfügt.« Pendergast trank einen kleinen Schluck von seinem Sherry. »Jedenfalls habe ich gerade den Laborbericht über die Federn erhalten, die ich aus dem Oakley-Plantagenhaus entwendet habe. Die Vögel waren tatsächlich mit einem Vogelgrippevirus infiziert, aber die sehr kleine Probe, die ich in die Finger bekommen konnte, war einfach zu abgebaut, um sie kultivieren zu können. Trotzdem: Der Forscher, den ich eingestellt habe, hat eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Das Virus ist neuroinvasiv.«
Hayward seufzte. »Das werden Sie mir erläutern müssen.«
»Das Virus versteckt sich im menschlichen Nervensystem. Es ist stark neurovirulent. Und das, Captain, ist das letzte Stück in dem Puzzle.« Pendergast erhob sich und ging vor dem Kamin auf und ab. »Das Papageienvirus lässt einen Menschen erkranken, genauso wie jedes Grippevirus. Und so wie viele andere Viren auch verbirgt es sich im Nervensystem, um dem Blutkreislauf und somit dem menschlichen Immunsystem aus dem Weg zu gehen. Aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf. Denn dieses Virus wirkt darüber hinaus auf das Nervensystem. Und diese Auswirkung ist höchst ungewöhnlich. Er verstärkt die Gehirnaktivität, was zu einem Erblühen der intellektuellen Fähigkeiten führt. Mein Forscher – ein überaus kluger Mann – hat mir erklärt, dass dies von einer Lockerung der neuronalen Netzwerke herrührt. Soll heißen, das Virus macht die Nervenenden ein wenig empfindlicher. Es bewirkt, dass sie schneller und leichter Impulse abfeuern, mit weniger Stimuli auskommen. Sie werden schießwütig, sozusagen. Aber das Virus hemmt auch die Produktion des Acetylcholin im Gehirn. Und wie es scheint, bringt diese Kombination von Auswirkungen das Nervensystem letztlich ins Ungleichgewicht und führt bei dem Erkrankten zu einer unkontrollierbaren sensorischen Reizüberflutung.«
Hayward runzelte die Stirn. Das waren doch sehr weitgehende Spekulationen, selbst für jemanden wie Pendergast. »Und Sie sind sich da ganz sicher?«
»Zusätzliche Forschungen wären erforderlich, um die Hypothese zu bestätigen, aber es ist die einzige Antwort, die passt.« Er hielt inne. »Denken Sie mal einen Moment nach, Captain. Sie sitzen auf dieser Couch. Sie spüren, wie das Leder gegen ihren Rücken drückt. Sie sind sich der Teetasse in Ihrer Hand bewusst. Sie können den Lammrücken riechen, den es zum Abendessen geben wird. Sie hören eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Geräusche: das Zirpen der Grillen, das Singen der Vögel in den Bäumen, das Prasseln im Kamin, Maurice, wie er in der Küche hantiert.«
»Kein Problem«, sagte Hayward. »Aber worauf wollen Sie hinaus?«
»Sie würden diese Sinnesreize und vermutlich hundert weitere wahrnehmen, wenn Sie innehielten und von ihnen Notiz nähmen. Das Entscheidende jedoch ist: Sie nehmen sie gar nicht wahr. Denn ein Teil Ihres Gehirns – der Thalamus, um genau zu sein – fungiert sozusagen als Verkehrspolizist und regelt, dass Sie sich lediglich jener Sinnesreize bewusst sind, die Ihnen im Moment wichtig sind. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn es diesen Verkehrspolizisten nicht gäbe. Sie würden ununterbrochen von Sinnesreizen bombardiert und wären außerstande, irgendeinen von ihnen zu ignorieren. Das mag zwar kurzfristig die kognitiven Funktionen und die Kreativität steigern, langfristig jedoch würde es Sie in den Wahnsinn treiben. Buchstäblich. Und genau das ist Audubon passiert. Und Ähnliches ist auch der Familie Doane widerfahren – nur sehr viel schneller und stärker. Wir haben bereits vermutet, dass der Wahnsinn, unter dem Audubon und die Doanes litten, mehr als nur Zufall war. Wir hatten nur eben nicht das Verbindungsglied. Bis jetzt.«
»Der Papagei der Doanes«, sagte Hayward. »Auch er trug das Virus in sich. Genauso wie die Papageien, die von der Oakley-Plantage gestohlen wurden.«
»Korrekt. Meine Frau muss diesen außergewöhnlichen Effekt zufällig entdeckt haben. Sie erkannte, dass die Erkrankung Audubon zutiefst verändert hatte, und als Epidemiologin verfügte sie über die nötige Sachkenntnis, die Gründe dafür herauszufinden. Ihre geniale Idee bestand darin, zu erkennen, dass es sich nicht nur um eine psychische Veränderung handelte, verursacht dadurch, dass Audubon dem Tod nur knapp entronnen war, sondern auch um eine physiologische Veränderung. Sie haben gefragt, welche Rolle Helen in dieser ganze Sache spielte: Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie sich, mit den besten Absichten, mit ihrer Entdeckung an ein pharmazeutisches Unternehmen gewandt hat, das daraus ein Medikament zu entwickeln versuchte. Ein Medikament zur Bewusstseinssteigerung, ein Mittel, für das meines Wissens heute der Begriff ›Hirndoping‹ verwendet wird.«
»Und was ist mit dem Medikament passiert? Warum ist es nicht entwickelt worden?«
»Wenn wir das erfahren, werden wir, wie ich glaube, den Gründen für den Mord an meiner Frau sehr viel näher gekommen sein.«
Hayward sagte sehr behutsam: »Ich habe heute erfahren, dass Blackletter nach seinem Ausscheiden aus der Organisation Doctors With Wings für mehrere Pharmafirmen als Berater tätig war.«
»Ausgezeichnet.« Wieder ging Pendergast auf und ab. »Ich bin bereit für Ihren Bericht.«
Hayward fasste ihre Besuche in Florida und St. Francisville kurz zusammen. »Blast wie auch Blackletter wurden von einem Profikiller ermordet, der eine abgesägte Flinte Kaliber zwölf verwendet hat, Munition acht Kugeln pro Unze. Er hat die Häuser betreten und die Männer erschossen, dann hat er die Zimmer verwüstet und ein paar Sachen mitgehen lassen, damit das Ganze aussieht wie ein Raubüberfall.«
»Für welche Pharmaunternehmen war Blackletter als Berater tätig?«
Hayward öffnete ihre Aktentasche, zog einen braunen Umschlag hervor, zog daraus ein Blatt Papier und hielt es ihm hin.
Pendergast kam herüber und nahm das Blatt entgegen. »Haben Sie irgendwelche von Blackletters früheren Kontakten oder Partnern ausgegraben?«
»Ich habe einen Schnappschuss von einer alten Flamme.« Sie reichte ihm das Foto, und er betrachtete es kurz.
»Ein ausgezeichneter Anfang.«
»Apropos Blast, es gibt da etwas, was ich nicht verstehe.«
Pendergast legte das Foto zur Seite. »Ja?«
»Nun, es ist ziemlich offensichtlich, dass die Person, die Blackletter getötet hat, auch Blast ermordet hat. Aber warum? Er hatte doch noch nichts mit dieser Vogelgrippe zu tun, oder?«
Pendergast schüttelte den Kopf. »Nein. Aber das ist eine sehr gute Frage. Es muss, glaube ich, mit dem Gespräch zusammenhängen, das Helen einmal mit Blast geführt hat. Blast hat mir gesagt, dass sie, als er sie wegen des Schwarzgerahmten und ihrer Gründe, es besitzen zu wollen, zur Rede stellte, geantwortet hat: ›Ich will es nicht besitzen. Ich will es nur studieren.‹ Jetzt wissen wir, dass Blast hinsichtlich dieser Frage die Wahrheit gesagt hat. Aber wer immer den Mord an meiner Frau arrangiert hat, kann natürlich nicht gewusst haben, was bei diesem Gespräch herausgekommen ist. Möglicherweise hat Helen Blast mehr erzählt – vielleicht viel mehr. Über Audubon und die Vogelgrippe zum Beispiel. Und deshalb musste Blast, um ganz sicherzugehen, sterben. Er stellte zwar kein großes Problem dar, man musste ihn aber trotzdem aus dem Weg räumen.«
Hayward schüttelte den Kopf. »Der Mörder muss extrem kaltschnäuzig sein.«
»Ja wirklich, eiskalt.«
Im selben Moment kam Maurice mit einem Ausdruck des Abscheus im Gesicht herein. »Mr. Hudson ist hier, um Sie zu sprechen, Sir.«
»Schicken Sie ihn herein.«
Hayward schaute zu, wie ein kleiner, untersetzter, unterwürfig wirkender Mann das Zimmer betrat – Trench, Fedora, Nadelstreifen und zweifarbige Budapester. Er sah von Kopf bis Fuß wie die film noir-Karikatur eines Privatdetektivs aus, für den er sich offenbar auch hielt. Sie wunderte sich, dass Pendergast mit so einem Mann Umgang pflegte.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er, neigte den Kopf und nahm seinen Hut ab.
»Überhaupt nicht, Mr. Hudson.« Ihr fiel auf, dass Pendergast sie nicht vorstellte. »Haben Sie die Liste mit den pharmazeutischen Unternehmen, um die ich Sie gebeten habe?«
»Ja, Sir. Ich habe jedes einzelne aufgesucht …«
»Vielen Dank.« Pendergast nahm die Liste entgegen. »Bitte warten Sie im Ostsalon, dort will ich gleich Ihren Bericht entgegennehmen.« Er nickte in Richtung Maurice. »Sorgen Sie dafür, dass Mr. Hudson es sich so lange mit einem alkoholfreien Getränk gemütlich macht.« Maurice begleitete Hudson hinaus auf den Flur.
»Was um alles in der Welt haben Sie angestellt, dass er so …«, Hayward suchte nach dem treffenden Wort, »… demütig ist?«
»Eine Variante des Stockholm-Syndroms. Zunächst bedroht man jemandes Leben, dann verschont man ihn großmütig. Der bedauernswerte Kerl hat den Fehler begangen, sich bei seinem einigermaßen unüberlegten Erpressungsversuch mit einer geladenen Schusswaffe in meiner Garage zu verstecken.«
Hayward zuckte innerlich zusammen. Wieder einmal wurde ihr bewusst, warum sie Pendergasts Methoden so unappetitlich fand. »Wie dem auch sei, er arbeitet jetzt für uns. Und der erste Auftrag, den ich ihm gegeben habe, bestand darin, eine Liste mit Pharmaunternehmen im Umkreis von fünfzig Meilen des Hauses der Doanes zusammenzustellen – basierend auf der Annahme, dass fünfzig Meilen die äußerste Entfernung ist, die ein Papagei, der entfliegt, zurücklegt. Jetzt müssen wir noch eines tun: Ihre Liste mit jenen Unternehmen vergleichen, für die Blackletter beratend tätig war.« Pendergast hielt die zwei Seiten in die Höhe und blickte zwischen ihnen hin und her. Plötzlich verhärteten sich seine Gesichtszüge. Er ließ die Hand, die das Blatt hielt, sinken; sein Blick traf Haywards.
»Wir haben eine Übereinstimmung: Longitude Pharmaceuticals.«