24
Sunflower, Louisiana
»Wissen Sie schon, was Sie möchten, junger Mann?«, fragte die Kellnerin.
D’Agosta legte die Speisekarte auf den Tisch zurück. »Den Wels.«
»Frittiert, im Ofen gebacken, gebraten oder gegrillt?«
»Gegrillt, nehme ich an.«
»Ausgezeichnete Wahl.« Sie notierte sich die Bestellung auf ihrem Notizblock und wandte den Kopf. »Und Sie, Sir?«
»Die Fischsuppe«, sagte Pendergast. »Aber ohne das Kartoffelpüree.«
»Kein Problem.« Sie nahm auch diese Bestellung auf, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und schritt in ihren bequemen weißen Schuhen davon.
D’Agosta schaute ihr nach, wie sie mit den Hüften wackelnd in Richtung Küche ging. Seufzend trank er einen Schluck von seinem Bier. Es war ein langer, ermüdender Nachmittag gewesen. Sunflower im Bundesstaat Louisiana, eine Stadt mit ungefähr dreitausend Einwohnern, war auf der einen Seite von einem Eichenwald und auf der anderen von einem riesigen Zypressensumpf, bekannt als Black Brake, umgeben. Der Ort war völlig nichtssagend: kleine, schäbige Häuser mit Lattenzäunen davor, abgewetzte Bürgersteige, die ausgebessert werden mussten, Redbone-Jagdhunde, die auf den Vorderveranden dösten. Ein heruntergekommenes, von der Außenwelt vergessenes Nest mit hartgesottenen, hart arbeitenden Einwohnern.
Pendergast und D’Agosta waren im einzigen Hotel der Stadt abgestiegen und anschließend getrennter Wege gegangen; jeder hatte aufzudecken versucht, warum Helen Pendergast eine dreitätige Pilgerreise zu einem so entlegenen Fleckchen Erde angetreten hatte.
Doch das Glück, das sie bislang gehabt hatten, hatte sie in Sunflower offenbar verlassen. D’Agosta hatte fünf fruchtlose Stunden damit zugebracht, in leere Gesichter zu blicken und in Sackgassen zu geraten. Es gab dort keine Kunsthändler oder Museen, keine Privatsammlungen oder historische Gesellschaften. Niemand erinnerte sich, Helen gesehen zu haben. Das Foto, das er herumgezeigt hatte, löste nur ausdruckslose Mienen aus. Nicht einmal der Porsche half der Erinnerung der Leute auf die Sprünge. John James Audubon hatte sich, wie ihre Nachforschungen zeigten, niemals in dieser Gegend von Louisiana aufgehalten.
Als D’Agosta sich schließlich mit Pendergast im kleinen Restaurant des Hotels zum Abendessen traf, war er fast genauso niedergeschlagen, wie Pendergast an jenem Morgen gewirkt hatte. Und als wollte der Himmel seiner Stimmung entsprechen, waren dunkle Gewitterwolken aufgezogen.
»Nichts«, beantwortete er Pendergasts Frage und schilderte ihm den entmutigenden Vormittag. »Vielleicht hat sich die alte Lady ja falsch erinnert. Oder hat uns bloß verarscht, um noch einen Zwanziger einzustecken. Wie war’s bei Ihnen?«
Das Essen kam. Mit einem fröhlichen »Da wären wir!« stellte die Kellnerin ihnen die Teller hin. Schweigend betrachtete Pendergast sein Gericht, löffelte ein Fischstückchen aus der Suppe und betrachtete es eingehend.
»Darf ich Ihnen noch ein Bier bringen?«, fragte sie D’Agosta und strahlte.
»Warum nicht?«
»Und eine Club-Soda für Sie?«, fragte sie Pendergast.
»Nein danke, die hier reicht mir.«
Beschwingten Schritts verließ die Kellnerin ihren Tisch.
D’Agosta wandte sich zu Pendergast um. »Nun? Hatten Sie Glück?«
»Eine Sekunde.« Pendergast holte sein Handy hervor und wählte. »Maurice? Wir übernachten hier in Sunflower. Ganz recht. Gute Nacht.« Er steckte das Handy wieder ein. »Meine Erfahrungen, fürchte ich, waren ebenso entmutigend wie Ihre.« Das Funkeln in seinen Augen und das ironische Lächeln straften seine vermeintliche Enttäuschung allerdings Lügen.
»Wie kommt es eigentlich, dass ich Ihnen nicht glaube?«, fragte D’Agosta schließlich.
»Passen Sie mal gut auf, ich werde an unserer Kellnerin gleich ein kleines Experiment durchführen.«
Die Kellnerin kam mit D’Agostas Bud und einer frischen Serviette zurück. Während sie beides vor ihm abstellte, sagte Pendergast in seiner melodiösesten Stimme, wobei er seinen Akzent noch hervorkehrte: »Meine Liebe, dürfte ich Ihnen vielleicht eine Frage stellen?«
Mit einem kecken Lächeln drehte sie sich zu ihm um. »Schießen Sie los, junger Mann.«
Betont umständlich zog Pendergast ein kleines Notizbuch aus seiner Jacketttasche. »Ich bin Reporter oben in New Orleans und stelle gerade Recherchen über eine Familie an, die hier früher mal gelebt hat.« Er klappte das Notizbuch auf und blickte erwartungsvoll zu der Kellnerin auf.
»Wie heißt die Familie?«
»Doane.«
Hätte Pendergast gesagt, er wolle das Lokal ausrauben, die Reaktion hätte nicht dramatischer ausfallen können. Die Miene der Frau verschloss sich sofort, wurde leer und ausdruckslos, die Augen wurden zugekniffen. Auch die Keckheit verschwand augenblicklich.
»Darüber weiß ich nichts«, murmelte sie. »Da kann ich Ihnen leider nicht helfen.« Und damit drehte sie sich um, verließ den Tisch und schob sich durch die Tür zur Küche.
Pendergast steckte das Notizbuch wieder ein und wandte sich zu D’Agosta zu. »Nun, was halten Sie von meinem kleinen Experiment?«
»Woher zum Teufel haben Sie gewusst, dass die so reagieren würde? Die verschweigt uns doch offensichtlich irgendetwas.«
»Das, mein lieber Vincent, ist genau der Punkt.« Pendergast trank noch einen Schluck Club-Soda. »Ihr Verhalten passt ins Bild. Alle Leute in der Stadt reagieren auf die gleiche Weise. Ist Ihnen während Ihrer Erkundigungen heute Nachmittag denn nicht ein gewisses Maß an Zögerlichkeit und Argwohn aufgefallen?«
D’Agosta überlegte. Es stimmte zwar, niemand war besonders zuvorkommend gewesen, aber er hatte das schlichtweg auf die Trotzigkeit der Kleinstädter geschoben, das Misstrauen gegen irgend so einen Yankee, der in ihre Stadt geschneit kam und jede Menge Fragen stellte.
»Während meiner Nachforschungen«, fuhr Pendergast fort, »bin ich auf ein zunehmend verdächtiges Ausmaß an Vernebelung und Leugnung gestoßen. Und als ich schließlich einen älteren Herrn um Informationen anging, hat er mir hitzig beschieden, dass die Geschichten über die Doanes nichts als Geschwätz seien, ganz gleich, was ich sonst gehört hätte. Natürlich habe ich danach angefangen, mich nach der Familie Doane zu erkundigen. Und da habe ich dann eine ähnliche Antwort bekommen, wie Sie sie gerade eben gehört haben.«
»Und weiter?«
»Ich habe das Büro des Lokalblatts aufgesucht und gebeten, die alten Ausgaben sehen zu dürfen, beginnend ungefähr ab dem Zeitpunkt, als Helen hier war. Dort verweigerte man mir die Mithilfe, so dass das hier«, Pendergast zog seine Dienstmarke hervor, »notwendig war, damit man sich eines Besseren besann. Wie ich feststellte, waren in den Jahren um Helens Besuch hier in der Stadt in bestimmten Ausgaben des Lokalblatts mehrere Seiten sorgfältig herausgeschnitten worden. Ich habe mir notiert, um welche Ausgaben es sich handelt, und bin anschließend die Landstraße zurückgefahren, zur Bücherei in Kemp, der letzten Stadt vor Sunflower. Die älteren Ausgaben der Zeitungen dort verfügten über alle Seiten, die im Lokalblatt von Sunflower fehlten. Und so habe ich von der Geschichte erfahren.«
»Und worum drehte sie sich?«, fragte D’Agosta.
»Um das seltsame Schicksal der Familie Doane. Mr. Doane war ein finanziell unabhängiger Romanautor, der mit seiner Familie nach Sunflower zog, um von allem wegzukommen und weit weg von den Ablenkungen der Zivilisation den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Die Doanes kauften eines der größten und schönsten Häuser der Stadt, das ein Holzbaron in den Jahren vor der Schließung des Sägewerks gebaut hatte. Doane hatte zwei Kinder. Eines, der Sohn, erhielt die besten Noten und höchsten Auszeichnungen, die die Sunflower High School je vergeben hat, ein intelligenter Bursche nach allem, was man so hört. Die Tochter war eine begabte Dichterin, deren Werke gelegentlich in den örtlichen Zeitungen abgedruckt wurden. Ich habe ein paar davon gelesen, und sie sind tatsächlich gut geschrieben. Mrs. Doane avancierte zu einer bekannten Landschaftsmalerin. Die Stadt war sehr stolz auf ihre begabten Neubürger, über die häufig in der Zeitung berichtet wurde, die Preise bekamen und für den einen oder anderen örtlichen Wohltätigkeitsverein Geld spendeten, Bänder durchschnitten, dergleichen.«
»Landschaftsmalerin«, wiederholte D’Agosta. »Hat die Frau auch Vögel gemalt?«
»Darüber konnte ich nichts herausfinden. Die Familie hatte offenbar auch kein besonderes Interesse an Audubon oder naturhistorischen Kunstwerken. Dann, ein paar Monate nach Helens Besuch, ließ der stete Strom positiver Artikel allmählich nach.«
»Vielleicht hatte die Familie ja genug von der öffentlichen Aufmerksamkeit.«
»Das glaube ich nicht. Es gab da nämlich noch einen letzten Artikel über die Doanes – einen allerletzten Artikel«, fuhr Pendergast fort. »Ein halbes Jahr danach. Darin heißt es, dass William, der Sohn, nach einer großangelegten Fahndung im Staatsforst von der Polizei festgenommen worden sei und momentan im Bezirksgefängnis in Einzelhaft sitze. Anklage: zweifacher Mord mit einer Axt.«
»Der Spitzenschüler?«, fragte D’Agosta ungläubig.
Pendergast nickte. »Nachdem ich das gelesen hatte, habe ich mich in Kemp nach der Familie Doane erkundigt. Die Einwohner dort zeigten sich keineswegs so zurückhaltend, wie es mir hier aufgefallen ist. Eine wahre Flut von Gerüchten und Andeutungen brach über mich herein. Über gemeingefährliche Verrückte, die nur nachts aus dem Haus gingen. Über Wahnsinn und Gewalt. Stalking und Bedrohungen. Es wurde schwierig, Fakten und Fiktion, Kleinstadtklatsch und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Nur in einer Hinsicht bin ich mir einigermaßen sicher, nämlich dass alle Doanes inzwischen tot sind, wobei jeder auf eine einzigartig unangenehme Weise ums Leben gekommen ist.«
»Jeder?«
»Die Mutter beging Selbstmord. Der Sohn starb in der Todeszelle, während er wegen der erwähnten Axtmorde auf seine Hinrichtung wartete. Die Tochter verstarb in einer psychiatrischen Klinik, nachdem sie sich zwei Wochen lang geweigert hatte zu schlafen. Als Letzter kam der Vater ums Leben, er wurde vom Sheriff von Sunflower erschossen.«
»Was war passiert?«
»Anscheinend hatte der Vater angefangen, in der Stadt umherzuspazieren, junge Frauen anzusprechen, die Einheimischen zu bedrohen. Es gibt Berichte über Vandalismus, Sachbeschädigung, kleine Kinder, die einfach verschwanden. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, deuteten an, es habe sich weniger um eine Tötung, sondern eher um eine Exekution gehandelt – mit der stillschweigenden Duldung der Stadtväter von Sunflower. Der Sheriff und seine Deputies haben Mr. Doane in dessen Haus erschossen, während er sich mutmaßlich der Festnahme widersetzte. Es hat keine Ermittlungen gegeben.«
»Jesus Maria«, antwortete D’Agosta. »Das würde die Reaktion der Kellnerin erklären. Und auch die große Feindseligkeit hier im Ort.«
»Genau.«
»Was ist Ihrer Meinung nach mit den Doanes passiert? Haben Sie eine Vermutung?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Ich bin überzeugt, dass die Doanes der Grund für Helens Besuch sind.«
»Das ist ein ziemlich großer Gedankensprung.«
Pendergast nickte. »Aber überlegen Sie doch einmal: Die Doanes sind das einzige herausragende Merkmal in einer ansonsten unscheinbaren Stadt. Es gibt hier nichts von Interesse. In irgendeiner Weise sind die Doanes das Verbindungsglied, nach dem wir suchen.«
Die Kellnerin eilte an ihren Tisch, schnappte sich ihre Teller und schritt davon, noch ehe D’Agosta einen Kaffee bestellen konnte. »Ich frage mich, was wohl erforderlich ist, hier eine Tasse Java zu bekommen«, sagte D’Agosta und versuchte, die Kellnerin durch diesen Satz auf sich aufmerksam zu machen.
»Irgendwie, Vincent, bezweifle ich, dass Sie Ihren ›Java‹ oder irgendetwas sonst in diesem Lokal bekommen.«
D’Agosta seufzte. »Wer bewohnt also heute das Haus?«
»Niemand. Es wurde nach der Erschießung von Mr. Doane verrammelt und verriegelt.«
»Wir fahren hin«, sagte D’Agosta, mehr eine Aussage als eine Frage.
»Ganz genau.«
»Wann?«
Pendergast hob den Finger, damit die Kellnerin zu ihnen kam. »Sowie wir von unserer widerstrebenden, aber höchst vielsagenden Kellnerin die Rechnung bekommen haben.«