22

D’Agosta nahm die Ausfahrt auf der I-10 und fuhr auf den Bell Chasse Highway, dann ging’s auf der fast leeren Schnellstraße weiter. Es war wieder ein warmer Februartag, er hatte die Fenster heruntergelassen und das Radio auf einen Sender mit klassischem Rock ’n’ Roll eingestellt. Es ging ihm besser als in den vergangenen Tagen. Während der Wagen die Überlandstraße entlanggondelte, trank er einen Krispy Kreme-Kaffee und stellte den Becher in die Halterung zurück. Die beiden Kürbis-Gewürz-Doughnuts hatten ihm richtig gutgetan, Kalorien hin oder her. Nichts konnte ihm die gute Laune verderben.

Am Vorabend hatte er eine Stunde lang mit Laura Hayward telefoniert. Das hatte sein Stimmungshoch ausgelöst. Anschließend war er in einen langen, traumlosen Schlaf gefallen. Als er aufwachte, war Pendergast schon losgefahren, und Maurice hatte ihm Frühstück serviert: Schinkenspeck, Eier und Maisgrütze. Anschließend war er in die Stadt gefahren, wo er sich mit den Leuten vom 6. Bezirk der Polizei New Orleans prima verstanden hatte. Als sie von seiner Verbindung mit der Familie Pendergast erfuhren, hatten die Kollegen zwar zunächst misstrauisch reagiert, aber als sie merkten, dass er ein ganz normaler Typ war, änderte sich ihre Einstellung. Man räumte ihm die freie Nutzung der Computer ein, und es dauerte keine anderthalb Stunden, da hatte er den Kunsthändler ausfindig gemacht, der sich schon so lange für das verschollene Gemälde interessierte: John W. Blast, zurzeit wohnhaft in Sarasota, Florida. Ein in der Tat unangenehmer Zeitgenosse. Fünf Festnahmen in den vergangenen zehn Jahren: Verdacht auf Erpressung; Verdacht auf Fälscherei; Besitz gestohlenen Eigentums; Besitz von Produkten geschützter Tiere; Gewaltanwendung und Körperverletzung. Entweder hatte er Geld oder gute Anwälte, oder beides, denn jedes Mal war er ungeschoren davongekommen. D’Agosta druckte sich die Details aus, steckte die Kopien in seine Jacketttasche und ging – trotz des ausgiebigen Frühstücks schon wieder hungrig – ins örtliche Krispy Kreme, ehe er nach Penumbra aufbrach.

Pendergast brannte bestimmt schon darauf, zu erfahren, was bei seinen Nachforschungen herausgekommen war.

Als er auf die Auffahrt zum alten Plantagenhaus bog, sah er, dass Pendergast schon wieder zu Hause war. Der Rolls-Royce stand im Schatten der Zypressen. D’Agosta parkte daneben und ging mit knirschenden Schritten über den Kies, dann stieg er die Stufen zur überdachten Veranda hinauf. Er betrat die leere Eingangshalle und schloss die Haustür hinter sich.

»Pendergast?«, rief er.

Keine Antwort.

Er ging den Flur hinunter und spähte in die verschiedenen Wohnräume. Alle waren dunkel und leer.

»Pendergast?«, rief er nochmals.

Vielleicht macht er ja einen kleinen Spaziergang, dachte D’Agosta. Das Wetter wäre gut genug dafür.

Mit schnellen Schritten stieg er die Treppe hinauf, bog auf dem Treppenabsatz scharf um die Ecke und blieb abrupt stehen. Aus dem Augenwinkel sah er eine vertraute Silhouette, die schweigend im Salon saß. Pendergast, im selben Sessel sitzend wie am Vorabend. Das Licht war ausgeschaltet, so dass er im Dunkeln saß.

»Pendergast?«, sagte D’Agosta. »Ich dachte, Sie wären nicht im Haus, und –«

Er hielt inne, als er Pendergasts Gesicht sah. Es zeigte einen Ausdruck der Leere, der ihn zögern ließ. Er setzte sich in einen Sessel in der Nähe, aber seine gute Laune war wie weggeblasen. »Was ist denn los?«

Pendergast holte tief Luft. »Ich bin zu Torgensson gefahren, Vincent. Es gibt kein Gemälde.«

»Kein Gemälde?«

»In Torgenssons Haus ist heute ein Beerdigungsinstitut untergebracht. Das Gebäude wurde entkernt. Nur die tragenden Wände und Balken wurden stehengelassen, damit das Unternehmen dort einziehen konnte. Dort ist nichts. Nichts.« Pendergasts Lippen wurden schmal. »Die Spur endet einfach.«

»Aber was ist mit dem Arzt? Er muss doch irgendwo hingezogen sein; wir könnten doch von dort die Spur wieder aufnehmen.«

Wieder eine Pause, länger als vorher. »Dr. Arne Torgensson verstarb im Jahr achtzehnhundertzweiundfünfzig. Völlig verarmt und in geistiger Umnachtung aufgrund einer Syphilis-Infektion. Aber vorher hatte er noch das Inventar des Hauses verkauft, Stück für Stück, an unzählige unbekannte Käufer.«

»Wenn er das Gemälde verkauft hat, müsste es doch Unterlagen darüber geben.«

Pendergast sah ihn betrübt an. »Es gibt keine Unterlagen. Möglicherweise hat er das Gemälde gegen Kohle zum Heizen verkauft. Oder er hat es in seinem Wahnsinn in Stücke gerissen. Vielleicht hat es ihn auch überdauert, und es ist bei der Sanierung vernichtet worden. Ich bin gegen eine Mauer gelaufen.«

Und da hast du also aufgegeben, dachte D’Agosta. Bist nach Hause gekommen und hast dich in den dunklen Salon gesetzt. In all den Jahren, in denen er Pendergast kannte, hatte er ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt. Und dennoch: Die Fakten rechtfertigten nicht eine derartige Verzweiflung.

»Helen war ebenfalls dem Gemälde auf der Spur«, sagte D’Agosta ein wenig schroffer, als er beabsichtigt hatte. »Sie haben – wie lange? – ein paar Tage danach gesucht. Ihre Frau hat jahrelang nicht aufgegeben.«

Pendergast erwiderte nichts darauf.

»Na gut, dann gehen wir die Sache eben von einer anderen Richtung an. Statt dass wir dem Gemälde nachspüren, folgen wir den Spuren Ihrer Frau. Der letzte Ausflug, den sie unternommen hat, der, als sie zwei, drei Tage nicht zu Hause war … vielleicht hatte der ja etwas mit dem verschollenen Gemälde zu tun.«

»Selbst wenn Sie recht hätten«, erwiderte Pendergast, »der Ausflug liegt mehr als ein Dutzend Jahre zurück.«

»Wir können es aber doch versuchen. Und dann können wir Mr. John W. Blast, dem Kunsthändler im Ruhestand, in Sarasota einen Besuch abstatten.«

In Pendergasts Blick glomm ein Funke Interesse.

D’Agosta tätschelte seine Jacketttasche. »Es stimmt. Er ist der Mann, der außer Helen hinter dem Schwarzgerahmten her war. Sie irren sich, wenn Sie sagen, Sie wären gegen eine Wand gelaufen.«

»Helen kann in den drei Tagen überall hingefahren sein«, entgegnete Pendergast.

»Was zum Teufel soll das? Sie geben einfach auf?« D’Agosta sah Pendergast verständnislos an. Dann drehte er sich um und rief zum Flur hinaus. »Maurice? Hallo! Maurice!« Wo steckte der Kerl eigentlich, wenn man ihn brauchte?

Einen Augenblick war es still. Dann hörte D’Agosta irgendwo weit entfernt in dem Herrenhaus ein leises Knallen. Kurz darauf waren auf der hinteren Treppe Schritte zu hören. Maurice bog um die Ecke des Flurs. »Was wünschen die Herren?«, keuchte er ziemlich außer Atem.

»Helens Ausflug, den Sie gestern Abend erwähnten … als meine Frau ohne Vorwarnung abreiste und zwei Tage lang fort war.«

»Ja?« Maurice nickte.

»Können Sie uns noch etwas mehr darüber erzählen? Gibt es vielleicht Tankstellen-Quittungen, Hotelrechnungen?«

Maurice kramte in seinem Gedächtnis, dann sagte er: »Nein, Sir.«

»Meine Frau hat nach ihrer Rückkehr nichts gesagt. Kein einziges Wort?«

Maurice schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, Sir.«

Pendergast saß völlig regungslos in seinem Sessel. Stille breitete sich im Zimmer aus.

»Doch, wenn ich’s mir recht überlege, war da doch etwas«, sagte Maurice. »Obwohl ich bezweifle, dass es Ihnen weiterhelfen kann.«

D’Agosta zuckte zusammen. »Was war das?«

»Nun ja …« Der alte Diener zögerte. D’Agosta hätte ihn am liebsten am Revers gepackt und geschüttelt.

»Es ist nur so, dass … mir jetzt einfällt, dass Ihre Frau mich anrief, Sir. Am ersten Morgen, von unterwegs.«

Pendergast erhob sich langsam. »Reden Sie weiter, Maurice«, sagte er leise.

»Es war kurz vor neun. Ich war gerade im Frühstücksraum und trank meinen Kaffee. Das Telefon klingelte, und Mrs. Pendergast war am Apparat. Sie hatte ihre Automobilclub-Karte in ihrem Büro vergessen. Sie hatte eine Reifenpanne und brauchte ihre Mitgliedsnummer.« Maurice warf Pendergast einen kurzen Blick zu. »Sie erinnern sich sicher, dass sie nicht viel von Autos verstand, nicht wahr, Sir?«

»Das ist alles?«

Maurice nickte. »Ich habe die Mitgliedskarte geholt und Ihrer Frau die Nummer vorgelesen. Wofür sie sich bei mir bedankt hat.«

»Sonst nichts?«, fragte D’Agosta nach. »Keine Hintergrundgeräusche? Ein Gespräch vielleicht?«

»Es ist so lange her, Sir.« Maurice dachte angestrengt nach. »Ich glaube, da waren Verkehrsgeräusche. Vielleicht ein Hupen. Sie muss von einer Telefonzelle aus angerufen haben.«

Einen Augenblick lang schwiegen alle drei. Maurices Antwort ernüchterte D’Agosta.

»Was war mit ihrer Stimme?«, fragte Pendergast. »Hat meine Frau angespannt oder nervös geklungen?«

»Nein, Sir. Und jetzt erinnere ich mich doch – sie hat gesagt, sie hätte Glück gehabt, dass sie die Reifenpanne dort hatte, wo sie sich gerade befand.«

»Glück gehabt?«, wiederholte Pendergast. »Warum?«

»Weil sie eine Egg Cream trinken konnte, solange sie wartete.«

Ein Moment des Stillstands. Plötzlich ging eine Art Ruck durch Pendergast. Wortlos lief er an D’Agosta und Maurice vorbei auf den Flur und rannte die Treppe hinunter.

D’Agosta folgte ihm. Die Treppe war leer, doch aus der Bibliothek drangen Geräusche. Als er das Zimmer betrat, sah er, wie Pendergast fieberhaft etwas auf den Regalen suchte und wahllos Bücher auf den Boden warf. Er griff einen Band, ging mit langen Schritten zu einem Tisch in der Nähe, räumte ihn mit einer Armbewegung ab und blätterte in dem Buch. D’Agosta sah, dass es sich um einen Straßenatlas von Louisiana handelte. In Pendergasts Hand erschienen ein Lineal und ein Bleistift, dann beugte er sich über den Atlas, maß Entfernungen und notierte sie sich.

»Dort ist es«, flüsterte er und tippte mit dem Finger auf die Seite. Dann lief er wortlos aus der Bibliothek.

D’Agosta folgte ihm durch das Esszimmer, die Küche, die Speisekammer, den Vorratsraum und die hintere Küche zur rückwärtigen Tür des Herrenhauses. Pendergast nahm zwei Stufen auf einmal und lief durch den weitläufigen Garten zu einer weißgestrichenen Scheune, die zu einer Garage mit einem halben Dutzend Stellplätzen umgewandelt worden war. Er öffnete das Garagentor und verschwand im Dunkel.

D’Agosta ging ihm hinterher. Der große, schummrige Raum roch ein wenig nach Heu und Motorenöl. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er drei in Persennings gehüllte Objekte, bei denen es sich nur um Automobile handeln konnte. Pendergast ging mit großen Schritten zu einem hinüber und zog die Plane herunter. Darunter befand sich ein zweisitziges rotes Cabriolet, tiefliegend und superschnell wirkend. Es funkelte in dem indirekten Licht, das in der umgewandelten Scheune herrschte.

»Wow.« D’Agosta stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein alter Porsche. Was für ein hübsches Auto.«

»Ein Porsche fünf-fünf-null Spyder, Baujahr vierundfünfzig. Er gehörte Helen.« Pendergast sprang behende hinein und tastete unter der Matte nach dem Schlüssel. Während D’Agosta die Tür öffnete und sich auf den Beifahrersitz setzte, fand Pendergast den Schlüssel, steckte ihn ins Zündschloss, drehte ihn. Der Motor sprang mit ohrenbetäubender Lautstärke an.

»Sei gesegnet, Maurice«, sagte Pendergast, während der Motor brummte. »Du hast den Wagen in Topzustand gehalten.«

Pendergast ließ dem Porsche ein paar Sekunden Zeit zum Aufwärmen, dann lenkte er ihn aus der Garage. Kaum hatten sie das Tor hinter sich gelassen, gab er Gas. Der Wagen beschleunigte, wobei ein wahrer Sturm von Kieselsteinchen losbrach, die gegen das Nebengebäude prasselten wie Flintenschrot. D’Agosta spürte, dass es ihn wie einen Astronauten beim Start in den Sitz drückte. Während der Sportwagen die Zufahrt hinunterraste, sah D’Agosta Maurice, der in seiner schwarzen Kleidung auf der Treppe stand und ihnen hinterherschaute.

»Wohin fahren wir?«, fragte er.

Pendergast sah ihn an. Die Verzweiflung war aus seinem Blick gewichen, hatte einem schwachen, aber erkennbaren Glitzern Platz gemacht, dem Glitzern des Jagdfiebers. »Dank Ihnen, Vincent, haben wir den Heuhaufen gefunden«, antwortete er. »Nun wollen wir doch mal sehen, ob wir auch die Nadel finden.«