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Baton Rouge
Absichtlich mit festen, gleichmäßigen Schritten marschierte Laura Hayward über den Flur im ersten Stock des Allgemeinen Krankenhauses von Baton Rouge. Sie hatte alles unter Kontrolle, Atmung, Gesichtsausdruck, Körpersprache. Alles. Bevor sie New York verließ, hatte sie Jeans und ein Polohemd angezogen, sie trug die Haare offen, die Uniform hatte sie zu Hause gelassen. Sie war als Privatperson hier, nicht mehr und nicht weniger.
Ärzte, Schwestern und andere Krankenhausangestellte glitten schemenhaft an ihr vorbei, als sie auf die Doppeltüren zusteuerte, die in die Chirurgie führten. Sie schob sich hindurch und achtete darauf, ihre Schritte langsam und fest zu halten. Die Aufnahme lag zu ihrer Rechten, aber sie ging daran vorbei und ignorierte das höfliche »Kann ich Ihnen helfen?« der Krankenschwester. Sie ging geradewegs ins Wartezimmer, an dessen hinterem Ende sie eine einsame Gestalt sitzen sah, die sich erhob und einen Schritt auf sie zutat, das Gesicht ernst, fast grimmig, einen Arm ausgestreckt.
Sie trat zu ihm, hob mit einer geschmeidigen Bewegung den rechten Arm, holte aus und versetzte ihm einen Schlag. »Scheißkerl!«
Er taumelte rückwärts, machte aber keine Anstalten, sich zu verteidigen. Sie schlug ihn erneut ins Gesicht.
»Egoistischer, arroganter Scheißkerl! Nicht nur, dass Sie fast seine Karriere zerstört hätten. Jetzt haben Sie ihn auch noch umgebracht, Sie Arschloch!«
Sie holte ein drittes Mal aus. Diesmal jedoch umfasste er ihren Arm mit einem Griff wie ein Schraubstock, zog sie zu sich heran, drehte sie um und drückte ihr sanft, aber fest die Arme an die Seite. Sie kämpfte kurz gegen ihn an. Und dann spürte sie, wie ihr Zorn, der ganze Hass in sich zusammenfiel, ebenso schnell, wie er in ihr aufgestiegen war. Sie sackte in Pendergasts Griff zusammen, völlig ausgelaugt. Er half ihr zu einem Stuhl. Vage nahm sie wahr, dass es irgendwo einen Aufruhr gab, Schritte, Rufe. Als sie aufblickte, wurde sie umringt von drei Wachmännern, die verschiedenste widersprüchliche Fragen und Befehle blafften, während die Aufnahmeschwester mit vor den Mund gelegten Händen hinter ihnen stand.
Pendergast stand auf, zückte sein Mäppchen mit dem Dienstausweis und hielt es ihnen hin. »Ich kümmere mich darum. Kein Grund zur Aufregung.«
»Aber es hat einen tätlichen Angriff gegeben«, sagte einer der Wachleute. »Sir, Sie bluten.«
Pendergast trat einen aggressiven Schritt vor. »Ich sagte, ich kümmere mich darum. Ich danke Ihnen und Ihren Kollegen für die prompte Reaktion, einen schönen Abend noch.«
Nach einem kurzen Moment der Verwirrung entfernten sich die Wachleute, ließen aber einen Mann zurück, der neben der Tür des Wartezimmers Aufstellung nahm, die Arme vor der Brust verschränkte und Hayward misstrauisch im Auge behielt.
Pendergast setzte sich neben sie. »Er wird schon seit Stunden operiert. Offenbar ist es sehr ernst. Ich habe darum gebeten, über seinen Zustand informiert zu werden, sobald es irgendetwas zu – ah, da ist ja einer der Chirurgen.«
Ein Arzt betrat mit ernster Miene das Wartezimmer. Er schaute von Hayward zu Pendergast, dessen Gesicht blutete, enthielt sich aber jeglichen Kommentars. »Special Agent Pendergast?«
»Ja. Und das ist Captain Hayward von der New Yorker Polizei, eine enge Freundin des Patienten. Sie können mit uns beiden ganz frei sprechen.«
»Verstehe.« Der Arzt nickte und zog ein Klemmbrett zu Rate, das er in der Hand hielt. »Die Kugel ist schräg von hinten eingetreten und hat das Herz gestreift, bevor sie in einer Rippe steckenblieb.«
»Das Herz?«, fragte Hayward. Nach einer Weile gelang es ihr, sich zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen.
»Unter anderem wurde die Aortenklappe teilweise zerstört und die Blutzufuhr zu einem Teil des Herzens blockiert. Im Augenblick versuchen wir, die Klappe wieder zu flicken, damit das Herz weiterschlägt.«
»Wie hoch sind die … Überlebenschancen?«, fragte sie.
Der Arzt zögerte. »Jeder Fall ist anders. Positiv ist, dass der Patient nicht allzu viel Blut verloren hat. Wenn die Kugel auch nur einen halben Millimeter weiter links eingedrungen wäre, hätte es die Aorta zerrissen. Allerdings wurden auch so gravierende Schäden am Herzen angerichtet. Aber sollte die Operation erfolgreich verlaufen, hat er ausgezeichnete Chancen, wieder ganz gesund zu werden.«
»Hören Sie«, sagte Hayward. »Ich bin Polizistin. Mir gegenüber müssen Sie nicht um den heißen Brei herumreden. Ich will wissen, wie seine Überlebenschancen stehen.«
Der Chirurg schaute sie aus blassen, verwaschenen Augen an. »Es ist eine schwierige, komplizierte Operation. Ein Team der besten Chirurgen von Louisiana tut gerade in diesem Augenblick sein Möglichstes. Aber sogar unter den günstigsten Umständen … ein gesunder Patient, keine Komplikationen … also, die Operation verläuft nicht oft erfolgreich. Es ist wie der Versuch, den Motor eines Autos zu reparieren – während er läuft.«
»Nicht oft?« Plötzlich fühlte sie sich ganz elend. »Was genau heißt das?«
»Ich weiß nicht, ob es da irgendwelche Studien gibt, aber als Chirurg würde ich die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Verlaufs bei fünf Prozent ansetzen … oder weniger.«
Es folgte ein langes Schweigen. Fünf Prozent oder weniger.
»Wie steht’s mit einer Herztransplantation?«
»Wenn wir ein passendes, funktionsfähiges Herz zur Verfügung hätten, wäre das eine Möglichkeit. Aber wir haben keins.«
Hayward tastete blind nach der Lehne des Stuhls und sank darauf nieder.
»Hat Mr. D’Agosta irgendwelche Verwandte, die wir benachrichtigen sollten?«
Hayward antwortete nicht sofort. Schließlich sagte sie: »Eine Ex-Frau und einen Sohn … in Kanada. Sonst gibt es niemanden. Und es heißt Lieutenant D’Agosta.«
»Ich bitte um Verzeihung. Jetzt müssen Sie mich entschuldigen, ich muss in den OP zurück. Die Operation wird mindestens noch acht Stunden dauern, sofern alles gut verläuft. Sie können gerne hierbleiben, aber ich bezweifle, dass es vorher etwas Neues zu berichten gibt.«
Hayward nickte vage. Es fiel ihr schwer, seine Worte zu erfassen. Sie schien jede Fähigkeit zur rationalen Reflexion eingebüßt zu haben.
Sie spürte die leichte Berührung des Arztes an der Schulter. »Dürfte ich fragen, ob der Lieutenant religiös ist?«
Sie versuchte, sich auf die Frage zu konzentrieren, und nickte. »Er ist katholisch.«
»Hätten Sie gern, dass ich den Krankenhauspfarrer bitte, zu Ihnen zu kommen?«
»Den Priester?« Sie schaute Pendergast an, unsicher, was sie darauf antworten sollte.
»Ja«, sagte Pendergast. »Es wäre schön, wenn der Priester kommt. Wir würden gern mit ihm sprechen. Und in Anbetracht der Umstände sagen Sie ihm bitte, er solle sich darauf vorbereiten, die Letzte Ölung zu erteilen.«
Ein leises Piepen war irgendwo an dem Arzt zu hören, und er langte automatisch hinunter, löste einen Piepser vom Gürtel und schaute darauf. Gleichzeitig erwachte die Lautsprecheranlage zum Leben, und eine besänftigende Frauenstimme ertönte aus einer versteckten Box:
»Code blau, OP zwei-eins. Code blau, OP zwei-eins. Codeteam bitte zum OP zwei-eins.«
»Sie entschuldigen mich«, sagte der Chirurg, einen Anflug von Hast in der Stimme. »Ich muss jetzt gehen.«