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Der lächelnde Mann mit der Zahnlücke auf dem kleinen Flugplatz hatte das Fahrzeug als Landrover bezeichnet. Das ist, dachte D’Agosta, während er sich mit aller Kraft festhielt, mehr als beschönigend. Was immer die Kiste früher einmal gewesen sein mochte, heute verdiente sie es kaum, als Automobil bezeichnet zu werden. Die Karre hatte keine Fenster, kein Dach, kein Radio und keine Sicherheitsgurte. Die Motorhaube war mit Draht am Kühlergrill befestigt. Die unter ihnen liegende Sandpiste war durch die faustgroßen Löcher im Chassis zu sehen.

Pendergast, der am Steuer saß – er trug Khakihemd und -hose und einen Safarihut –, kurvte um ein großes Schlagloch herum, und sofort danach knallte der Wagen in ein kleineres. D’Agosta hob es durch den Aufprall mehrere Zentimeter aus dem Sitz. Er riss sich zusammen und packte erneut den Überrollbügel. Das hier ist wirklich furchtbar, dachte er. Es war glühend heiß, und überall, in seinen Ohren, der Nase, den Haaren und in Hautfalten, von deren Existenz er nicht einmal wusste, hatte er Staub. Er überlegte, ob er Pendergast bitten sollte, langsamer zu fahren, entschied sich aber dagegen. Denn je mehr sie sich dem Ort näherten, an dem Helen Pendergast ums Leben gekommen war, desto grimmiger wurde sein Begleiter.

Er drosselte nur leicht die Geschwindigkeit, als sie in ein weiteres Dorf kamen – noch eine trostlos wirkende Ansammlung von mit Stöcken und getrocknetem Lehm erbauten Hütten, die in der brütenden Mittagssonne lagen. Es gab keinen Strom im Ort, der einzige kommunale Brunnen befand sich mitten auf dem verlassenen Dorfplatz. Schweine, Hühner und Kinder liefen ziellos in der Gegend herum.

»Und ich habe immer gemeint, die South Bronx wäre eine üble Gegend«, murmelte D’Agosta mehr zu sich selbst als zu Pendergast. »Bis zum Kingazu-Camp sind es noch zehn Meilen«, erwiderte Pendergast und gab Gas.

Wieder geriet der Wagen in ein Schlagloch, und wieder wurde D’Agosta in die Luft geschleudert und landete hart auf dem Steißbein. Nach den Impfungen taten ihm beide Arme weh, außerdem hatte er Kopfschmerzen wegen der sengenden Sonne und weil er ständig durchgerüttelt wurde. In den vergangenen 36 Stunden war nur eine Sache schmerzfrei abgelaufen, das Telefonat mit seinem Chef, Captain Singleton. Singleton hatte seinen Antrag auf Beurlaubung beinahe kommentarlos genehmigt. D’Agosta hatte fast den Eindruck, sein Chef sei erleichtert gewesen, dass er ihn eine Weile nicht zu Gesicht bekam.

Nach einer halben Stunde kamen sie im Kingazu-Camp an. Während Pendergast den Jeep auf einen improvisierten Parkplatz unter einer kleinen Gruppe von Leberwurstbäumen steuerte, nahm D’Agosta das überaus gepflegte Fotosafari-Camp in Augenschein: die makellosen, mit Reet und Stroh gedeckten Hütten; die großen Segeltuch-Gebäude mit Schildern wie SPEISEZELT und BAR; die hölzernen Gehsteige, die die Gebäude miteinander verbanden; die mit Leinen bespannten Pavillons mit bequemen Liegestühlen, auf denen ein Dutzend dicker und glücklicher Touristen, baumelnde Kameras um den Hals, dösten. Zwischen den Dachspitzen verliefen Kabel mit kleinen Glühbirnen. Ein wenig abseits im Busch schnurrte ein Generator. Alles war in hellen, beinahe knalligen Farben gehalten.

»Als wär’s ein Teil von Disney World«, sagte D’Agosta und stieg aus.

Einen Augenblick blieben sie schweigend im Schatten der Leberwurstbäume stehen. D’Agosta sog den Duft von brennendem Holz, den Geruch von gemähtem Gras und – schwächer – eines erdigen, animalischen Moschus ein, den er nicht identifizieren konnte. Das sackpfeifenartige Summen der Insekten vermischte sich mit anderen Lauten, dem Tuckern der Generatoren, dem Gurren der Tauben, dem rastlosen Murmeln des nahe gelegenen Luangwa-Flusses. D’Agosta warf Pendergast einen verstohlenen Blick zu. Sein Begleiter stand mit eingefallenen Schultern da, so als trüge er eine schreckliche, schwere Last. Seine Augen funkelten vor unterdrücktem Zorn. Und während er sich im Camp mit einer seltsamen Mischung aus Verlangen und Furcht umschaute, zuckte ein Wangenmuskel. Er musste bemerkt haben, dass D’Agosta ihn ansah, denn plötzlich riss er sich zusammen, reckte sich und glättete seine Safariweste. Das merkwürdige Glitzern verschwand allerdings nicht aus seinen Augen.

»Folgen Sie mir.«

Er ging an den Pavillons und dem Speisezelt vorbei zu einem kleineren Gebäude, das ein wenig abseits vom übrigen Camp unter einer kleinen Gruppe von Bäumen am Ufer des Luangwa stand. Ein Elefant stand bis zu den Knien in dem schlammigen Fluss. D’Agosta beobachtete, wie das Tier mit dem Rüssel Wasser schöpfte und sich über den Rücken sprühte, dann den runzligen Kopf hob und einen harschen, trompetenden Laut ausstieß, der vorübergehend das Summen der Insekten übertönte.

Das kleine Gebäude beherbergte eindeutig die Verwaltung. Es verfügte über ein Vorzimmer, das jetzt leer war, und das eigentliche Büro, in dem ein Mann hinter einem Schreibtisch saß und eifrig auf einem Notebook tippte. Er war um die fünfzig, schlank und drahtig, die hellen Haare waren von der Sonne gebleicht, die Arme sonnengebräunt.

Der Mann hatte sie kommen gehört und hob den Kopf. »Ja, was kann ich für Sie …« Als er Pendergast sah, stockte er. Kein Zweifel, er hatte einen der Gäste erwartet.

»Wer sind Sie?«, fragte er und erhob sich.

»Underhill ist mein Name«, sagte Pendergast. »Und das hier ist mein Freund, Vincent D’Agosta.«

Der Mann erwiderte seinen Blick. »Was kann ich für Sie tun?« D’Agosta hatte den Eindruck, dass der Mann nur selten unerwarteten Besuch bekam.

»Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?«, sagte Pendergast.

»Rathe.«

»Mein Freund und ich waren vor ungefähr zwölf Jahren hier auf Safari. Wir sind zufällig wieder hier in Sambia – wir wollen weiter ins Mgandi-Jagdcamp –, und da dachten wir, wir schauen mal kurz vorbei.« Er lächelte kalt.

Rathe blickte aus dem Fenster, ungefähr in die Richtung des provisorischen Parkplatzes. »Mgandi, sagten Sie?«

Pendergast nickte.

Rathe streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie. Bei dem, was heutzutage hier alles abläuft, den ständigen Rebellenaufständen und was sonst noch alles, kann man schon ein bisschen nervös werden.«

»Das kann ich gut verstehen.«

Rathe deutete auf zwei abgewetzte Holzstühle vor dem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

»Ein Bier wäre schön«, antwortete D’Agosta sofort.

»Natürlich. Einen Moment.« Rathe ging hinaus und kam kurz darauf mit zwei Flaschen Mosi-Bier zurück. D’Agosta nahm seine Flasche entgegen, murmelte »Danke« und genehmigte sich einen ordentlichen Schluck.

»Sind Sie der Pächter des Camps?«, fragte Pendergast, als der Mann sich hinter seinen Schreibtisch setzte.

»Nein, der Verwalter. Der Mann, den Sie meinen, heißt Fortnum. Er ist noch im Busch mit einer Gruppe.«

»Fortnum. Verstehe.« Pendergast blickte sich um. »Ich nehme an, dass es seit der Zeit, als ich hier war, mehrere personelle Veränderungen gegeben hat. Das ganze Camp hat sich ziemlich verändert.«

Rathe lächelte freudlos. »Wir müssen uns der Konkurrenz stellen. Heute verlangen unsere Kunden neben der schönen Natur auch Komfort.«

»Natürlich. Trotzdem jammerschade, nicht wahr, Vincent? Wir hatten gehofft, einige vertraute Gesichter zu sehen.«

D’Agosta nickte. Es hatte fünf großer Schlucke bedurft, nur um den Staub aus der Kehle zu waschen.

Pendergast vermittelte den Eindruck, als überlegte er einen Augenblick. »Und Alistair Woking? Ist er immer noch Distriktskommissar?«

Wieder schüttelte Rathe den Kopf. »Er ist vor geraumer Zeit gestorben. Lassen Sie mich nachdenken, das muss jetzt fast zehn Jahre her sein.«

»Ah ja? Was ist denn passiert?«

»Ein Jagdunfall«, antwortete Rathe. »Einige Gäste wollten Elefanten jagen, und Woking ist mitgegangen, um das Ganze zu beaufsichtigen. Er wurde versehentlich in den Rücken geschossen. Verdammter Schlamassel.«

»Ja, das ist höchst bedauerlich«, sagte Pendergast. »Und der derzeitige Pächter des Camps heißt Fortnum, sagten Sie? Als wir hier auf Safari waren, hieß der Pächter Wisley. Gordon Wisley.«

»Er lebt noch«, sagte Rathe. »Er ist im vorletzten Jahr in Pension gegangen. Man sagt, dass er von den Einnahmen seiner Jagdkonzession nahe den Victoria-Fällen königlich lebe. Und dass ihn seine Jungs von vorn bis hinten bedienen.«

Pendergast drehte sich zu D’Agosta um. »Vincent, wissen Sie noch, wie unser Waffenträger hieß?«

D’Agosta verneinte – was der Wahrheit entsprach.

»Warten Sie, jetzt fällt es mir wieder ein. Wilson Nyala. Was meinen Sie, ob wir ihm wohl einmal guten Tag sagen können, Mr. Rathe?«

»Wilson ist im Frühjahr gestorben. An Dengue-Fieber.« Rathe runzelte die Stirn. »Einen Augenblick mal … haben Sie Waffenträger gesagt?«

»Schade.« Pendergast verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Und was ist mit unserem Fährtenleser? Jason Mfuni.«

»Hab den Namen nie gehört. Aber solche Aushilfskräfte kommen und gehen ja ständig. Also, was hat das alles zu bedeuten, von wegen Waffenträger? Wir hier im Kingazu-Camp veranstalten ausschließlich Fotoexpeditionen.«

»Wie gesagt, es war eine denkwürdige Safari.« Als er Pendergast das sagen hörte, lief es D’Agosta trotz aller Hitze kalt über den Rücken.

Rathe blieb ihnen eine Antwort schuldig. Stattdessen runzelte er nur weiter die Stirn.

»Haben Sie vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.« Pendergast erhob sich. D’Agosta desgleichen. »Wisleys Jagdcamp liegt in der Nähe der Victoria-Fälle, sagten Sie? Hat es auch einen Namen?«

»Ulani-Bach.« Rathe erhob sich ebenfalls. Sein ursprünglicher Argwohn war zurückgekehrt.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir uns einmal kurz im Camp umschauen?«

»Wie Sie wollen«, erwiderte Rathe. »Aber stören Sie die Gäste nicht.«

 

Vor dem Verwaltungsgebäude blieb Pendergast stehen und blickte nach rechts und links, so als wollte er sich orientieren. Er zögerte kurz. Dann aber folgte er wortlos einem ausgetretenen Pfad, der vom Camp fortführte. D’Agosta hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, das Gebrumme der Insekten schwoll an. Auf der einen Seite des Trampelpfads befand sich ein dichtes Gehölz aus Büschen und Bäumen, auf der anderen der Luangwa-Fluss. D’Agosta spürte, wie ihm das unvertraute Khakihemd am Rücken und an den Schultern unangenehm klebte. »Wohin geht’s denn?«, ächzte er.

»Ins hohe Gras. Dort, wo …« Pendergast ließ den Rest unausgesprochen.

D’Agosta schluckte. »Gut, meinetwegen. Gehen Sie voran.«

Plötzlich blieb Pendergast stehen und drehte sich um. In seine Gesichtszüge war ein Ausdruck getreten, den D’Agosta noch nie gesehen hatte – eine Miene der Trauer, des Bedauerns und einer unergründlichen Müdigkeit. Er räusperte sich, dann sagte er leise: »Es tut mir sehr leid, Vincent, aber das hier muss ich allein tun.«

D’Agosta war erleichtert. »Versteh schon.«

Pendergast fixierte ihn kurz. Dann wandte er sich wieder um, verließ steifbeinig und entschlossen den Weg und betrat den Busch, wo er fast augenblicklich im Schatten unter den Bäumen verschwand.