56

Itta Bena, Mississippi

Die Straße verlief mitten durch das Sumpfgebiet vor den Toren der kleinen Stadt, Zypressen säumten die Straße, ein schwaches morgendliches Sonnenlicht drang durch das Geäst. Ein verblichenes Schild, das in dieser Landschaft ziemlich verloren wirkte, verkündete:

Longitude Pharmaceuticals, Inc.

Gegründet 1966

»Der Zukunft entgegen mit besseren Arzneimitteln«

Der Buick holperte und vibrierte auf dem miserablen Straßenbelag, die Reifen schlugen auf den Asphalt. Im Rückspiegel sah Hayward einen kleinen, sich nähernden Punkt, der sich bald als Pendergasts Rolls-Royce entpuppte. Am Morgen hatte Pendergast darauf bestanden, dass sie mit zwei Autos fuhren, und behauptet, er müsse noch verschiedene Nachforschungen anstellen; aber Hayward war sich ziemlich sicher, dass er nur nach einem Vorwand gesucht hatte, um aus dem gemieteten Buick heraus und wieder hinein in seinen bequemeren Rolls zu kommen.

Der Rolls näherte sich schnell, wobei er die Höchstgeschwindigkeit um einiges überschritt, bog auf die linke Fahrspur und jagte an ihr vorbei, wodurch der Buick durchgerüttelt wurde. Hayward sah nur ganz kurz eine blasse, zum Gruß erhobene Hand unter einem schwarzen Ärmel.

Die Straße beschrieb eine lange Kurve, und schon bald hatte Hayward den Rolls wieder eingeholt, der im Leerlauf vor dem Tor der pharmazeutischen Fabrik stand. Pendergast sprach gerade mit dem Security-Beamten im Wachhäuschen. Nach einem längeren Gespräch, in dessen Verlauf der Wachmann mehrmals zum Telefon ging, wurden beide Wagen durchgewinkt.

Hayward fuhr an einem Schild mit der Beschriftung: LONGITUDE PHARMACEUTICALS, INC., ITTA BENA-BETRIEBSANLAGE vorbei und bog gerade noch rechtzeitig auf den Parkplatz, um zu sehen, dass Pendergast seine Les Baer 45er überprüfte. »Rechnen Sie mit Ärger?«

»Man weiß ja nie«, erwiderte Pendergast, steckte die Waffe ins Holster zurück und strich seinen Anzug zurecht.

Eine Rasenfläche voller Fingerhirse führte zu einem Komplex niedriger Gebäude aus gelbem Backstein, der an drei Seiten von den Ausbuchtungen eines sumpfigen Sees umgeben war, der voll von Sumpflilien und Entengrün war. Hinter einem Schutzschirm aus Bäumen konnte Hayward weitere Gebäude erkennen, von denen einige offenbar mit Efeu bewachsen und verfallen waren. Und hinter dem Ganzen lag der dunstige, düstere Black-Brake-Sumpf. Hayward schaute in die Richtung des Feuchtgebiets, das selbst am hellen Tag finster wirkte, und erschauderte leicht. In ihrer Jugend hatte sie jede Menge Geschichten über den Sumpf gehört: Legenden über Piraten, Geister und noch seltsamere Dinge. Sie wedelte eine Stechmücke weg.

Sie betrat hinter Pendergast das Hauptgebäude. Die Dame am Empfang hatte bereits zwei Namensschildchen bereitgelegt, das eine für MR. PENDERGAST, das andere für MS. HAYWARD. Hayward nahm ihr Schildchen und heftete es sich ans Revers.

»Nehmen Sie den Fahrstuhl, erster Stock, letzte Tür rechts«, sagte die grauhaarige Empfangsdame und lächelte.

Als sie in den Aufzug einstiegen, bemerkte Hayward: »Sie haben nicht gesagt, dass wir Polizisten sind. Mal wieder nicht.«

»Es ist mitunter nützlich, erst die Reaktion abzuwarten, bevor man eine solche Information preisgibt.«

Hayward zuckte mit den Schultern. »Egal, aber kommt Ihnen das nicht alles ein bisschen zu leicht vor?«

»Doch.«

»Wer von uns spricht mit den Leuten?«

»Sie haben sich beim letzten Mal so gut geschlagen, würden Sie auch diesmal wieder die Honneurs machen?«

»Gern. Nur könnte es sein, dass ich diesmal nicht so nett bin.« Sie spürte das beruhigende Gewicht ihrer Dienstwaffe, die enganliegend unterhalb der Schulter im Holster steckte.

Knarrend fuhr der Lift ein Stockwerk hinauf. Als sie heraustraten, befanden sie sich in einem langen, mit Linoleum ausgelegten Flur. Sie schlenderten bis zum Ende und gelangten an eine offene Tür, hinter der eine Sekretärin in einem großen Büro arbeitete. Am gegenüberliegenden Ende sah man eine verblichene, aber trotzdem ansehnliche, geschlossene Eichentür.

Hayward trat als Erste ein. Die Sekretärin, die ziemlich jung und hübsch war und einen Pferdeschwanz und roten Lippenstift trug, hob den Kopf. »Bitte nehmen Sie Platz.«

Sie setzten sich auf ein braungraues Sofa, davor stand ein Glastisch, auf dem Stapel von eselsohrigen Broschüren lagen. In aufgeräumtem Tonfall sagte die Sekretärin von ihrem Schreibtisch aus: »Ich bin Joan Farmer, Dr. Dalquists Privatsekretärin. Er wird den ganzen Tag nicht abkömmlich sein und hat mich gebeten festzustellen, wie ich Ihnen helfen kann.«

Hayward beugte sich zu ihr vor. »Ich fürchte, Sie können uns gar nicht helfen, Miss Farmer. Das kann nur Mr. Dalquist.«

»Wie gesagt, er hat zu tun. Wenn Sie mir vielleicht erklären möchten, was Sie benötigen?« Jetzt klang ihre Stimme schon nicht mehr ganz so freundlich.

»Ist er dort drin?« Hayward wies mit einem Nicken zur geschlossenen Tür.

»Miss Hayward, ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Mr. Dalquist darf nicht gestört werden. Also noch einmal: Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wir sind wegen des Vogelgrippe-Projekts hier.«

»Ich bin mit diesem Projekt nicht vertraut.«

Schließlich holte Hayward ihren Dienstausweis aus der Tasche, legte ihn auf den Tisch und klappte ihn auf. Die Sekretärin zuckte leicht zusammen, beugte sich vor, betrachtete ihn und inspizierte anschließend Pendergasts Ausweis, den er ebenfalls gezückt hatte.

»Polizei – und FBI? Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?« Rasch wich ihr Ausdruck des Erschreckens unverhüllter Verärgerung. »Bitte warten Sie hier.« Sie stand auf und klopfte leise an die geschlossene Tür, dann öffnete sie sie, verschwand aus dem Blick und zog sie hinter sich zu.

Hayward warf Pendergast einen kurzen Blick zu. Sie erhoben sich gleichzeitig, gingen zur Tür hinüber und betraten den Raum.

Es war ein freundliches, wenn auch ein wenig spartanisch eingerichtetes Büro. Ein Mann, der mehr wie ein Professor und weniger wie ein Vorstandschef aussah – er trug eine Brille, ein Tweedjackett und eine Khakihose –, unterhielt sich mit der Sekretärin vor einem großen Schreibtisch. Sein weißes Haar war sorgfältig gekämmt, der weiße Schnauzbart lag über Lippen, die vor Gereiztheit geschürzt waren.

»Das hier ist ein Privatbüro!«, sagte die Sekretärin.

»Wie ich höre, sind Sie beide Polizisten«, sagte Dalquist. »Also, wenn Sie einen Durchsuchungsbefehl haben, würde ich den gerne mal sehen.«

»Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl«, sagte Hayward. »Wir hatten gehofft, inoffiziell mit Ihnen sprechen zu können. Wenn wir einen Durchsuchungsbefehl benötigen, dann besorgen wir uns einen.«

Ein Zögern. »Wenn ich wüsste, worum es geht, wäre das möglicherweise nicht nötig.«

Hayward wandte sich zu Pendergast um. »Special Agent Pendergast, vielleicht hat Mr. Dalquist ja recht, und wir sollten uns doch einen Durchsuchungsbefehl besorgen. Immer schön die Vorschriften einhalten, wie ich immer sage.«

»Das kann zwar durchaus ratsam sein, Captain Hayward. Es könnte aber natürlich an die Öffentlichkeit gelangen, dass wir einen Durchsuchungsbefehl angefordert haben.«

Dalquist seufzte. »Bitte setzen Sie sich. Miss Farmer, ich kümmere mich um die Angelegenheit, vielen Dank. Und bitte schließen Sie die Tür hinter sich.«

Die Sekretärin verließ den Raum, doch weder Hayward noch Pendergast setzten sich.

»Also, worum geht’s denn in dieser Sache? Um was für eine Vogelgrippe?«, fragte Dalquist und errötete leicht. Hayward betrachtete ihn eingehender, konnte in seinen feindselig dreinblickenden blauen Augen jedoch keinen Anhaltspunkt dafür entdecken, dass er ihnen etwas verschwieg.

»Wir arbeiten hier überhaupt nicht mit Grippeviren«, fuhr Dalquist fort und trat hinter den Schreibtisch. »Wir sind ein kleines pharmazeutisches Forschungsunternehmen mit einigen wenigen Produkten zur Behandlung bestimmter Collagen-Krankheiten, und damit hat es sich.«

»Vor etwa dreizehn Jahren«, sagte Hayward, »hat Longitude hier ein illegales Forschungsprojekt über die Vogelgrippe durchgeführt.«

»Illegal? Wieso illegal?«

»Weil die Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten wurden. Ein erkrankter Vogel ist vom Betriebsgelände entkommen und hat eine in der Nähe lebende Familie angesteckt. Alle Angehörigen starben, und Longitude hat die Sache vertuscht. Und vertuscht sie immer noch – worauf bestimmte Morde in jüngster Zeit hindeuten.«

Ein langes Schweigen. »Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung. Ich weiß nichts von der Sache. Longitude ist vor ungefähr zehn Jahren durch eine Insolvenz gegangen. Das Unternehmen hat eine vollständige Restrukturierung durchlaufen. Es ist niemand mehr hier aus jener Zeit. Das alte Management-Team ist nicht mehr da. Wir haben uns verkleinert und konzentrieren uns heute auf wenige Kernprodukte.«

»Kernprodukte? Als da wären?«

»Hauptsächlich Medikamente gegen Dermatomyositis und Polymyositis. Wir sind ein kleines, spezialisiertes Unternehmen. Ich habe noch nie gehört, dass hier an der Vogelgrippe geforscht wurde.«

»Niemand aus der Zeit von vor zehn Jahren ist noch übrig?«

»Keiner, soweit ich weiß. Wir hatten einen verheerenden Brand, bei dem der damalige Vorstandschef ums Leben kam, außerdem war das gesamte Betriebsgelände mehrere Monate lang geschlossen. Als wir wieder anfingen, waren wir im Kern ein anderes Unternehmen.«

Hayward zog ein Kuvert aus der Jacke. »Nach unserem Kenntnisstand hat Longitude kurz vor der Insolvenz seine Forschungen zu mehreren Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen und zu neuen Impfstoffen eingestellt. Einfach so. Sie waren die einzige Firma, die in diesem Bereich geforscht hat. Dadurch haben Millionen kranker Menschen in der Dritten Welt jede Hoffnung verloren.«

»Wir waren bankrott.«

»Und deshalb haben sie die Forschungen eingestellt?«

»Der neue Vorstand hat den Bereich geschlossen. Ich persönlich habe erst zwei Jahre nach dieser Zeit in der Firma angefangen. Ist das ein Verbrechen?«

Hayward merkte, dass sie schwer atmete. Es hatte keinen Sinn. So kamen sie nicht weiter. »Mr. Dalquist, die veröffentlichten Unterlagen Ihres Unternehmens deuten darauf hin, dass Sie im Jahr acht Millionen Dollar verdienen. Ihre wenigen Medikamente sind hochprofitabel. Was machen Sie mit all dem Geld?«

»Genau das, was jedes andere Unternehmen damit macht. Gehälter, Steuern, Dividenden, Gemeinkosten, Forschung und Entwicklung.«

»Verzeihen Sie, wenn ich das so sage, aber angesichts der Gewinne sieht Ihr Forschungsgelände definitiv heruntergekommen aus.«

»Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen. Wir haben hier das allerneueste Equipment. Aber wir liegen weit vom Schuss und müssen uns deshalb auch keinem Schönheitswettbewerb stellen.« Er breitete die Hände aus. »Offenbar missfällt Ihnen die Art und Weise, wie wir unser Geschäft betreiben. Vielleicht missfalle ich Ihnen. Mag auch sein, dass Ihnen missfällt, dass ich acht Millionen im Jahr verdiene und wir heute ein recht profitables Unternehmen sind. Okay. Aber wir sind unschuldig, was diese Anschuldigungen betrifft. Absolut unschuldig. Sehe ich denn wie jemand aus, der etwas mit Mord zu tun hat?«

»Beweisen Sie uns das Gegenteil.«

Dalquist trat hinter dem Schreibtisch hervor. »Mein erster spontaner Gedanke war, Sie auflaufen zu lassen, Sie dazu zu zwingen, sich einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen, Sie vor Gericht bis aufs Messer zu bekämpfen und unsere hochbezahlten Anwälte darauf anzusetzen, den Prozess auf Wochen oder Monate hinauszögern. Selbst wenn Sie gewännen, würden Sie am Ende einen begrenzten Durchsuchungsbefehl haben und müssten sich mit einem Berg von Papieren herumschlagen. Aber wissen Sie was? Ich lasse das bleiben. Ich werde Ihnen einen Freifahrtschein ausstellen, und zwar hier und jetzt. Sie können hingehen, wohin Sie wollen, alles untersuchen und Zugang zu allen Dokumenten bekommen. Wir haben nichts zu verbergen. Würde Sie das zufriedenstellen?«

Hayward warf Pendergast einen Blick zu. Seine Miene war nicht zu entziffern, seine silberfarbenen Augen waren leicht geschlossen.

»Das wäre sicherlich ein Anfang«, sagte sie.

Dalquist beugte sich über den Schreibtisch und betätigte einen Knopf. »Miss Farmer, bitte setzen Sie ein Schreiben auf, das ich unterzeichne, in dem diesen beiden Herrschaften der völlige, komplette und unbegrenzte Zutritt zu sämtlichen Anlagen von Longitude Pharmaceuticals eingeräumt wird, samt Anweisungen, dass die Mitarbeiter alle Fragen vollständig und wahrheitsgemäß beantworten und selbst die sensibelsten Bereiche und Dokumente zugänglich machen sollen.«

Er ließ den Knopf der Gegensprachanlage los und blickte auf. »Ich hoffe allerdings, dass Sie so schnell wie möglich das Gelände verlassen.«

Pendergast brach sein langes Schweigen. »Wir werden sehen.«