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Die Sonne war schon hinter einem Band aus schlammfarbenen Wolken untergegangen, als Laura Hayward schließlich zur kleinen Landstraße gelangte, die aus Itta Bena hinaus und anschließend weiter nach Osten zur Autobahn führte. Laut GPS waren es bis zurück nach Penumbra viereinhalb Stunden; sie würde also vor Mitternacht dort eintreffen. Pendergast hatte ihr gesagt, er werde noch später zurück sein. Er war losgefahren, um noch mehr über June Brodie herauszufinden.
Es war ein langer, einsamer, leerer Highway. Hayward war schläfrig und machte das Fenster auf, um einen Stoß frischer Luft hereinzulassen. Der Wagen füllte sich mit dem Geruch nach Abend und feuchter Erde. In der nächsten Stadt wollte sie schnell irgendwo einen Kaffee und ein Sandwich rausholen. Vielleicht konnte sie auch ein kleines Speiselokal finden. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gesessen.
Ihr Handy klingelte; sie zog es mit einer Hand aus der Handtasche. »Hallo?«
»Captain Hayward. Dr. Foerman vom Caltrop Hospital.«
Als sie den ernsten Tonfall des Arztes hörte, wurde ihr sofort bange.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie noch so spät am Abend störe, aber ich musste Sie leider anrufen. Der Zustand von Mr. D’Agosta hat sich plötzlich sehr verschlechtert.«
Sie schluckte. »Und was heißt das?«
»Wir machen gerade Tests, aber es sieht so aus, dass er eine seltene Art von anaphylaktischem Schock erlitten hat, der vermutlich mit der Schweineklappe in seinem Herzen zusammenhängt.« Er hielt inne. »Ich will ganz ehrlich sein: Es steht nicht gut um ihn. Wir … wir fanden, dass Sie benachrichtigt werden sollten.«
Einen Augenblick brachte Hayward kein Wort heraus. Sie drosselte das Tempo und bog auf den Seitenstreifen. Der Wagen kam leicht schleudernd auf dem Randstreifen zum Stehen.
»Captain Hayward?«
»Ich bin noch da.« Mit zittrigen Fingern gab sie Caltrop, LA in ihr GPS ein. »Eine Sekunde.« Das GPS berechnete die Zeit, die sie von ihrem Standort bis nach Caltrop brauchen würde. »Ich bin in zwei Stunden bei Ihnen. Vielleicht weniger.«
»Wir erwarten Sie.«
Sie klappte das Handy zu und legte es auf den Beifahrersitz. Dann holte sie tief und erschauernd Luft. Und dann gab sie völlig abrupt Gas, kurbelte das Lenkrad herum und wendete um 180 Grad, so dass der Schotter hinter dem Wagen aufspritzte und das Heck mit quietschenden Reifen auf den Highway zurückschleuderte.
Judson Esterhazy schlenderte, die Hände in die Taschen des Arztkittels geschoben, durch die doppelflügelige Glastür in die warme Abendluft und atmete tief durch. Von seinem Aussichtspunkt im überdachten Bereich des Haupteingangs des Krankenhauses blickte er auf den Parkplatz. Die von Natriumdampflampen hellerleuchtete Fläche führte um den Haupteingang herum und zog sich um eine Seite des kleinen Krankenhauses; sie war zu drei viertel leer. Ein ruhiger, ereignisloser Märzabend im Krankenhaus von Caltrop.
Er wandte seine Aufmerksamkeit der räumlichen Anordnung des Geländes zu. Hinter dem Parkplatz erstreckte sich eine gemähte Rasenfläche bis hinunter zu einem kleinen See. Am anderen Ende des Krankenhauses befand sich ein schmaler Park mit einigen sorgfältig gepflanzten und gepflegten Tupelobäumen. Zwischen diesen verlief ein Fußweg, an den schönsten Stellen waren Granitbänke aufgestellt.
Esterhazy, allem Anschein nach ein Arzt, der an die frische Luft gegangen war, schlenderte über den Parkplatz zum Rand des kleinen Parks und setzte sich auf eine Bank. Träge las er die Namen, die in die Bank geschnitzt waren – eine dumme Spielerei, aber die Spender wollten eben nicht anonym bleiben.
Bislang war alles nach Plan gelaufen. Sicher, es war ziemlich schwierig gewesen, D’Agosta zu finden. Irgendwie war es Pendergast gelungen, ihm eine neue Identität zu verschaffen, außerdem hatte er medizinische Berichte gefälscht, eine Geburtsurkunde besorgt, das komplette Programm. Hätte Judson nicht Zugang zu nichtöffentlichen pharmazeutischen Akten gehabt, dann hätte er den Lieutenant womöglich nie aufgespürt. Letztlich hatte die Schweine-Herzklappe den notwendigen Hinweis geliefert. Jetzt wusste er, dass D’Agosta wegen seines verletzten Herzens in eine Kardio-Klinik verlegt worden war. D’Agostas Voruntersuchungen hatten ergeben, dass seine Aortenklappe stark geschädigt war. Der Mistkerl hätte sterben sollen, doch als er wider Erwarten überlebte, war Judson klar, dass D’Agosta eine Schweine-Herzklappe brauchen würde.
Es gab nicht viele Anfragen nach Herzklappen von Schweinen im System. Wenn du die Schweineklappe findest, findest du auch den Mann. Und genau das hatte er getan.
Und da war ihm aufgegangen, dass er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. D’Agosta war zwar nicht das Hauptziel, aber komatös und im Sterben liegend konnte er trotzdem einen höchst wirksamen Köder abgeben.
Er sah auf die Uhr. Pendergast und Hayward operierten, wie er wusste, noch immer von Penumbra aus; vermutlich waren sie höchstens ein paar Stunden entfernt. Und natürlich waren sie mittlerweile über D’Agostas Gesundheitszustand informiert und würden wie die Verrückten hierher ins Krankenhaus rasen. Das Timing war perfekt. D’Agosta lag im Sterben, wegen der Dosis Pavulon, die er ihm verabreicht hatte, wobei die Dosierung zwar weit im tödlichen Bereich lag, aber so fein abgestimmt war, dass sie nicht sofort zum Tod führte. Das war das Schöne am Pavulon – die Dosis konnte so angepasst werden, dass sie den Todeskampf in die Länge zog. Sie führte zu zahlreichen Krankheitssymptomen, wie man sie auch bei einem anaphylaktischen Schock beobachtete, und hatte eine Halbwertszeit im Körper von weniger als drei Stunden. Pendergast und Hayward würden gerade noch rechtzeitig eintreffen, um das Todesröcheln mitzuerleben.
Esterhazy erhob sich und schlenderte den mit Backsteinen gepflasterten Gehweg entlang, der durch den kleinen Park führte. Der Lichtschein vom Parkplatz reichte nicht weit, beließ den Park zum großen Teil im Dunkeln. Hier könnte ein geeigneter Standort sein, um den Schuss abzugeben. Wenn er denn ein Scharfschützengewehr verwenden würde. Aber das konnte natürlich nicht funktionieren. Wenn die beiden ankamen, würden sie möglichst nahe am Haupteingang parken, aus dem Auto springen und ins Gebäude laufen – und wären damit sich ständig bewegende Zielscheiben. Nachdem er Pendergast vor Penumbra nicht erwischt hatte, hatte Esterhazy keine Lust, es noch einmal auf diese Weise zu versuchen. Diesmal wollte er keine Risiken eingehen.
Darum die abgesägte Schrotflinte.
Er ging zurück in Richtung Krankenhauseingang. Dort positioniert, wären seine Erfolgsaussichten sehr viel besser. Er würde auf der rechten Seite des Gehwegs Stellung beziehen, zwischen den Laternen. Egal, wo Pendergast und Hayward parkten, sie müssten dicht an ihm vorbeikommen. Dort würde er sie dann – im Arztkittel, das Klemmbrett in der Hand, den Kopf darübergebeugt – in Empfang nehmen. Sie würden besorgt sein, in Eile, er würde der Arzt sein, also keinerlei Argwohn erregen. Was konnte normaler sein? Sie würden sich ihm nähern und aus dem Gesichtsfeld all jener, die sich im Gebäude, hinter der Glastür befanden, verschwinden. Dann würde er die abgesägte Flinte unter dem Arztkittel hervorziehen und aus nächster Nähe, aus der Hüfte schießen. Die gewaltige Schrotflinte würde ihnen die Eingeweide und das Rückenmark buchstäblich aus dem Rücken pusten. Dann musste er nur noch die sieben Meter zum Auto gehen, einsteigen und wegfahren.
Mit geschlossenen Augen ging er den Ablauf durch und nahm dabei die Zeit. Fünfzehn Sekunden, mehr oder weniger, von Anfang bis Ende. Sobald der Sicherheitsbeamte am Empfangstresen nach Unterstützung telefoniert und den Mumm aufgebracht hätte, sich mit seinem dicken Hintern nach draußen zu bewegen, wäre er, Judson, längst über alle Berge.
Es war ein guter Plan. Einfach und idiotensicher. Seine Zielpersonen wären unvorbereitet, exponiert. Selbst der legendär coole Pendergast würde aufgeregt sein. Keine Frage, Pendergast gab sich die Schuld an D’Agostas Zustand – und nun lag sein guter Freund auch noch im Sterben.
Die einzige Gefahr, allerdings nur eine geringe, konnte dann drohen, wenn ihn jemand im Krankenhaus ansprach oder zur Rede stellte, bevor die Zeit des Handelns gekommen war. Doch das war eher unwahrscheinlich. Es war ein teures Privatkrankenhaus und groß genug, dass ihn niemand zweimal angeschaut hatte, als er hereinmarschiert kam und seinen Ausweis vorzeigte. Er war geradewegs in D’Agostas Zimmer spaziert und hatte ihn vollgepumpt mit Schmerzmitteln vorgefunden, in tiefem Schlaf nach der Operation. Man hatte keinen Security-Beamten postiert, offensichtlich weil man den Eindruck hatte, D’Agostas Identität gut genug verborgen zu haben. Und Judson musste schon zugeben, man hatte das hervorragend hinbekommen, der ganze Papierkram stimmte, alle im Krankenhaus glaubten, es handele sich um Tony Spada aus Flushing, Queens …
Außer dass er der einzige Patient in der ganzen Region war, der ein vierzigtausend Dollar teures Aortenklappe-Transplantat aus einem Schweineherzen benötigte.
Er hatte das Pavulon ganz oben in die Infusionslösung injiziert. Als der Alarm losging, befand er sich längst in einem anderen Bereich des Krankenhauses. Niemand befragte ihn, man sah ihn nicht einmal schräg von der Seite an. Weil er selbst Arzt war, wusste er genau, welchen Eindruck man vermitteln, wie man sich verhalten, was man sagen musste.
Er blickte auf die Uhr. Dann schlenderte er zu seinem Wagen hinüber und stieg ein. Die Schrotflinte schimmerte auf dem Boden vor dem Beifahrersitz. Er würde eine Weile hier sitzen bleiben, im Dunkeln. Dann würde er die Flinte unter seinem Kittel verstecken, aus dem Auto steigen, zu seiner Stellung zwischen den Laternen gehen … und warten, dass die Vögel angeflogen kamen.
Hayward erblickte das Krankenhaus am Ende der langen, geraden Zufahrtsstraße, ein zweistöckiges Gebäude, das in der Nacht schimmerte, gelegen inmitten einer weitläufigen, leicht ansteigenden Rasenfläche, die vielen Fenster spiegelten sich im Wasser eines nahe gelegenen Teichs. Sie gab Gas, die Straße wurde ein wenig abschüssig, überquerte einen Bach, stieg dann wieder an. Nicht weit vom Eingang entfernt bremste sie stark ab, um die überhöhte Geschwindigkeit zu drosseln, und bog, während die Reifen auf dem vom Tau bedeckten Asphalt leise quietschten, in die letzte Kurve vor dem Parkplatz.
Abrupt kam sie in der Parkbucht zum Stehen, die dem Krankenhaus am nächsten lag, stieß die Tür auf und sprang aus dem Auto. Im Laufschritt überquerte sie den Parkplatz und betrat den überdachten Gehweg, der zur Eingangstür führte. Sofort erblickte sie zwischen den Lichtkreisen einen Arzt, Klemmbrett in der Hand, neben dem Fußweg stehend. Er hatte noch eine Chirurgenmaske auf – er musste direkt aus dem OP gekommen sein.
»Captain Hayward?«, fragte der Arzt.
Jählings wandte sie sich um, ein wenig beunruhigt von dem Gedanken, dass er auf sie gewartet hatte. »Ja, wie geht es ihm?«
»Er wird durchkommen«, lautete die etwas gedämpfte Antwort. Lässig hielt der Arzt das Klemmbrett in der einen Hand, während er mit der anderen unter seinen weißen Arztkittel griff.
»Gott sei Dank –«, begann sie, und dann sah sie die Schrotflinte.