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New York City

Es war erst Viertel nach sieben, doch die Ermittler im Dezernat für Tötungsdelikte waren schon mitten bei der Arbeit, sie nahmen die Daten der potentiellen Morde und Totschläge auf, die es in der Nacht gegeben hatte, und versammelten sich in den Pausenräumen, um die Fortschritte bei offenen Fällen zu besprechen. Captain Laura Hayward saß hinter ihrem Schreibtisch und beendete einen ungewöhnlich umfassenden Monatsbericht für den Commissioner. Der arme Mann war neu hier – er war aus Texas hergewechselt –, und Hayward wusste, dass er ein wenig bürokratisches Händchenhalten schätzte.

Sie schrieb ihren Bericht zu Ende, speicherte und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Er war nicht mal mehr lauwarm; sie war bereits seit über einer Stunde im Büro. Als sie den Becher abstellte, klingelte ihr Handy. Es war ihr privates Handy, nicht das offizielle, und nur vier Menschen kannten die Nummer: ihre Mutter, ihre Schwester, der Anwalt der Familie – und Vincent D’Agosta.

Sie zog das Handy aus der Jackentasche und betrachtete es. Da sie es mit den Vorschriften sehr genau nahm, wäre sie normalerweise während der Arbeitszeit nicht rangegangen. Diesmal jedoch machte sie die Bürotür zu und klappte das Handy auf.

»Hallo?«

»Laura«, kam D’Agostas Stimme. »Ich bin’s.«

»Vinnie. Alles in Ordnung? Ich war ein wenig besorgt, als du dich gestern Abend nicht gemeldet hast.«

»Es ist alles in Ordnung, und es tut mir leid. Es ist nur so, es wurde alles ein bisschen … hektisch.«

Sie setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch. »Erzähl.«

Es folgte eine Pause. »Also, wir haben das Schwarzgerahmte gefunden.«

»Das Gemälde, hinter dem ihr her wart?«

»Ja. Zumindest glaube ich, dass es das Bild ist.«

Sonderlich aufgeregt schien er deswegen nicht zu sein. Er klang eher irritiert. »Wie habt ihr es gefunden?«

»Es war hinter der Kellerwand eines Doughnut-Ladens versteckt, so unglaublich es klingt.«

»Und wie seid ihr drangekommen?«

Wieder eine Pause. »Wir, äh, sind eingebrochen.«

»Eingebrochen?«

»Ja.«

Sämtliche Alarmglocken schrillten in Haywards Kopf. »Wie habt ihr’s gemacht, habt ihr euch nach Ladenschluss reingeschlichen?«

»Nein. Wir haben es gestern Nachmittag gemacht.«

»Rede weiter.«

»Pendergast hat alles geplant. Wir sind rein, haben so getan, als kämen wir vom Bauamt, und Pendergast –«

»Ich habe meine Meinung geändert. Ich will nichts mehr hören. Überspring das und erzähl, was danach passiert ist.«

»Also, deshalb habe ich nicht wie sonst angerufen. Als wir Baton Rouge verlassen hatten, merkten wir, dass wir verfolgt wurden. Wir hatten eine irre Verfolgungsjagd durch die Sümpfe und Bayous von –«

»Vinnie! Hör mal kurz auf. Bitte.« Das war genau das, was sie befürchtet hatte. »Ich dachte, du hättest mir versprochen, auf dich aufzupassen und dich nicht in Pendergasts regelwidrigen Mist reinziehen zu lassen.«

»Das weiß ich doch, Laura. Ich hab’s nicht vergessen.« Wieder eine Pause. »Sobald ich wusste, dass wir dicht an dem Gemälde dran waren, richtig dicht, dachte ich, ich würde fast alles tun, um das Geheimnis zu lüften – damit ich wieder zu dir zurück kann.«

Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Und was ist dann passiert?«

»Wir haben unseren Verfolger abgehängt. Es war schon Mitternacht, als wir endlich nach Penumbra zurückkamen. Wir trugen die Holzkiste, die wir geborgen hatten, in die Bibliothek und stellten sie auf einen Tisch. Pendergast war unglaublich pingelig damit. Statt die verdammte Lattenkiste mit einer Brechstange aufzustemmen, mussten wir winzige Werkzeuge benutzen, die sogar einen Juwelier zum Schielen gebracht hätten. Es hat Stunden gedauert. Irgendwann muss das Gemälde Feuchtigkeit abbekommen haben, weil die Rückseite am Holz festklebte, und das abzulösen, dauerte noch länger.«

»Aber es war das Schwarzgerahmte?«

»Zumindest hatte es einen schwarzen Rahmen. Aber die Leinwand war von Schimmel überzogen und so dreckig, dass man kaum was erkennen konnte. Pendergast holte Tupfer und Bürstchen und einen Haufen Lösungs- und Reinigungsmittel und fing an, die Schmutzschicht zu entfernen – ich selbst durfte das Bild nicht anrühren. Nach ungefähr einer Viertelstunde hatte er einen kleinen Abschnitt des Gemäldes gereinigt, und dann –«

»Was?«

»… ist er urplötzlich erstarrt. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er mich aus der Bibliothek hinauskomplimentiert und die Tür abgeschlossen.«

»Einfach so?«

»Ja, einfach so. Und ich stand draußen im Flur. Ich hab nicht mal einen Blick auf das Gemälde erhaschen können.«

»Wie ich immer sage, der Typ hat sie nicht mehr alle.«

»Ich gebe zu, er hat so seine Eigenarten. Das war gegen drei Uhr morgens, also dachte ich mir, zum Teufel damit, und hab mich aufs Ohr gehauen. Ehe ich mich’s versah, war es Morgen. Er ist noch da drin und werkelt vor sich hin.«

Hayward spürte, wie ihr langsam der Kamm schwoll. »Typisch Pendergast. Vinnie, der Mann ist nicht dein Freund.«

Sie hörte D’Agosta seufzen. »Ich versuche immer wieder, mir in Erinnerung zu rufen, dass wir den Tod seiner Frau untersuchen, dass das alles ein gewaltiger Schock für ihn gewesen sein muss … Doch, er ist mein Freund, auch wenn er es auf merkwürdige Weise zeigt.« Er hielt kurz inne. »Irgendwas Neues über Constance Greene?«

»Sie ist unter Verschluss in der Justizvollzugsstation des Bellevue-Krankenhauses. Ich habe sie befragt. Sie beteuert immer noch, dass sie ihr Baby über Bord geworfen hat.«

»Hat sie gesagt, warum?«

»Ja. Sie sagt, dass es böse gewesen ist. Genau wie sein Vater.«

»Grundgütiger. Ich wusste ja, dass sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, aber nicht, dass es so schlimm ist.«

»Wie hat Pendergast es aufgenommen?«

»Schwer zu sagen, wie immer bei Pendergast. Oberflächlich betrachtet, schien es ihn kaum zu berühren.«

Kurzes Schweigen. Hayward überlegte, ob sie versuchen sollte, Druck auf ihn auszuüben, damit er nach Hause kam, erkannte dann aber, dass sie ihm nicht noch eine zusätzliche Last aufbürden wollte.

»Da ist noch etwas«, sagte D’Agosta.

»Was denn?«

»Erinnerst du dich an den Typ, von dem ich dir erzählt habe – Blackletter? Helen Pendergasts früherer Chef bei Doctors With Wings?«

»Was ist mit ihm?«

»Er wurde vorgestern Abend in seinem Haus ermordet. Zwei Schüsse aus kürzester Entfernung, Kaliber zwölf. Hat ihm die Eingeweide aus dem Leib gepustet.«

»Gütiger Himmel.«

»Und das ist noch nicht alles. John Blast, dieser unappetitliche Bursche, mit dem wir in Sarasota gesprochen haben, erinnerst du dich? Der ebenfalls an dem Gemälde interessiert war? Ich hatte angenommen, dass der uns verfolgen lässt. Aber ich hab’s gerade in den Nachrichten gehört – er wurde ebenfalls erschossen, gestern, kurz nachdem wir uns das Gemälde geschnappt hatten. Ebenfalls mit zwei Zwölf-Kaliber-Patronen.«

»Hast du eine Ahnung, was da vorgeht?«

»Als ich von dem Mord an Blackletter hörte, dachte ich, dass Blast dahintersteckt. Aber jetzt ist der auch tot.«

»Typisch Pendergast. Wo er auftaucht, gibt’s Ärger.«

»Moment.« Es gab eine Pause von etwa zwanzig Sekunden, bevor D’Agostas Stimme wieder zu hören war. »Das war Pendergast. Er hat gerade an meine Tür geklopft. Das Bild ist jetzt gereinigt, sagt er, und er will meine Meinung hören. Ich liebe dich, Laura. Ich rufe heute Abend wieder an.«

Dann war die Leitung tot.