19
Bayou Goula, Louisiana
Das eine schwarzgekleidete Bein über das andere geschlagen, die Arme verschränkt, saß Pendergast so reglos da wie die Alabaster-Statuen auf der von Palmen umstandenen Terrasse des eleganten Hotels. Das Gewitter vom Vorabend war vorübergezogen, und es versprach ein warmer, sonniger Tag zu werden, voll von falschen Versprechungen eines nahenden Frühlings. Vor Pendergast lag eine breite Auffahrt aus weißem Kies. Ein kleines Heer von Hoteldienern und Caddies war damit beschäftigt, teure Autos und glänzende Golfkarren hierhin und dorthin zu befördern. Jenseits der Auffahrt lag ein Swimmingpool, azurblau glitzernd im spätmorgendlichen Licht, ohne Schwimmer, aber umgeben von Sonnenhungrigen, die Bloody Marys tranken. Jenseits des Pools erstreckten sich ein ausgedehnter Golfkurs, makellose Fairways und geharkte Bunker, über die Männer in pastellfarbenen Blazern und Frauen goldener und weißer Aufmachung schlenderten. Dahinter wiederum zog das breite braune Band des Mississippi vorüber.
»Mr. Pendergast?«
Pendergast blickte auf und sah einen kleinen, rundlichen Endfünfziger im dunklen Anzug, das Jackett zugeknöpft und mit dunkelroter Krawatte mit ganz feinem Dessin. Seine Glatze glänzte so hell in der Sonne, dass sie vergoldet hätte sein können, die dicken weißen Koteletten standen leicht über die Ohren hinaus. Die kleinen blauen Augen saßen tief in den Höhlen im geröteten Gesicht. Der verkniffene Mund war zu einem geschäftsmäßigen Lächeln erstarrt.
Pendergast erhob sich. »Guten Morgen.«
»Ich bin Portby Chausson, Geschäftsführer des Grand Hotel Bayou.«
Pendergast schüttelte die ausgestreckte Hand. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Chausson deutete mit seiner pinkfarbenen Hand in Richtung Hotel. »Ebenso. Zu meinem Büro geht’s dort entlang.«
Er ging voran, durch den Innenhof in ein hallendes, mit cremefarbenem Marmor ausgelegtes Foyer. Pendergast folgte dem Geschäftsführer, vorbei an wohlgenährten Geschäftsleuten mit schlanken Frauen am Arm, zu einer schlichten Tür unmittelbar hinter dem Empfangstresen. Chausson öffnete die Tür, und ein opulentes Büro im Stil des französischen Barock kam zum Vorschein. Chausson begleitete Pendergast zu einem Stuhl vor dem reichverzierten Schreibtisch.
»Ihrem Akzent entnehme ich, dass Sie nicht aus diesem Teil des Landes stammen«, sagte Chausson, während er hinter seinem Schreibtisch Platz nahm.
»Ich komme aus New Orleans«, erwiderte Pendergast.
»Ah.« Chausson rieb sich die Hände. »Aber Sie sind ein neuer Gast, wie ich annehme?« Er konsultierte seinen Computer. »In der Tat. Nun, Mr. Pendergast, danke, dass Sie uns für Ihre Urlaubswünsche in Betracht gezogen haben. Und gestatten Sie mir, Sie zu Ihrem exquisiten Geschmack zu beglückwünschen: das Bayou Grand ist das luxuriöseste Resort-Hotel im gesamten Mississippi-Delta.«
Pendergast legte den Kopf schräg.
»Aber gut, am Telefon deuteten Sie an, dass Sie an unseren Golf-und-Freizeit-Arrangements Interesse haben. Wir hätten da zwei: das einwöchige Platin-Paket und das zweiwöchige Diamant-Paket. Das einwöchige Angebot fängt bei zwölftausendfünfhundert an. Allerdings möchte ich Ihnen vorschlagen, zum zweiwöchigen aufzustocken, weil darin –«
»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Chausson«, unterbrach Pendergast sanft. »Aber wenn Sie mir gestatten, nur einen Augenblick zu Wort zu kommen, dann könnte ich, wie ich glaube, uns beiden wertvolle Zeit sparen.«
Der Geschäftsführer hielt inne und sah Pendergast erwartungsvoll lächelnd an.
»Es stimmt, ich habe ein gewisses Interesse an Ihren Golf-Reisen gezeigt. Aber bitte verzeihen Sie mir mein kleines Täuschungsmanöver.«
Chausson machte ein verständnisloses Gesicht. »Täuschungsmanöver?«
»Ganz recht. Ich wollte lediglich Ihre Aufmerksamkeit erregen.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Und ich weiß nicht, wie ich mich deutlicher ausdrücken soll, Mr. Chausson.«
»Wollen Sie damit sagen«, der leere Gesichtsausdruck verdüsterte sich, »dass Sie gar nicht vorhaben, im Bayou Grand abzusteigen?«
»Das stimmt, leider. Golf ist nicht mein Sport.«
»Und dass Sie mich getäuscht haben, damit Sie … Zugang zu mir bekommen konnten?«
»Wie ich sehe, ist der Groschen endlich gefallen.«
»In diesem Fall, Mr. Pendergast, haben wir nichts weiter zu besprechen. Schönen Tag noch.«
Pendergast betrachtete einen Augenblick lang seine perfekt manikürten Fingernägel. »Ich sehe das etwas anders.«
»Dann hätten Sie mich direkt ansprechen sollen, ohne eine List anzuwenden.«
»Hätte ich das getan, dann wäre ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bis in Ihr Büro vorgedrungen.«
Chausson wurde rot. »Ich habe genug gehört. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Und wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen, es gibt hier zahlende Gäste, um die ich mich zu kümmern habe.«
Aber Pendergast machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen griff er mit einem Seufzen, das fast bedauernd klang, in die Tasche seiner Anzugjacke, zog ein kleines Lederetui hervor, klappte es auf und zeigte seinen goldenen Dienstausweis.
Chausson starrte einen langen Moment darauf. »FBI?«
Pendergast nickte.
»Ist ein Verbrechen geschehen?«
»Ja.«
Chausson traten Schweißperlen auf die Stirn. »Sie wollen doch wohl nicht … in meinem Hotel eine Verhaftung vornehmen, oder?«
»Mir schwebt da etwas anderes vor.«
Chausson war ungeheuer erleichtert. »Geht es hier um einen Kriminalfall?«
»Um keinen, der mit dem Hotel in Zusammenhang steht.«
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl oder eine Vorladung?«
»Nein.«
Chausson schien seine Fassung zum großen Teil wiederzugewinnen. »Ich fürchte, Mr. Pendergast, wir müssen unsere Anwälte konsultieren, bevor wir auf irgendwelche Anfragen reagieren können. Unternehmenspolitik. Tut mir sehr leid.«
Pendergast steckte seinen Dienstausweis ein. »Das ist höchst bedauerlich.«
Chausson machte eine unübersehbar selbstzufriedene Miene. »Mein Assistent wird Sie hinausbegleiten.« Er drückte auf einen Knopf. »Jonathan?«
»Stimmt es, Mr. Chausson, dass dieses Hotel ursprünglich das Haus eines Baumwollbarons war?«
»Ja, ja.« Ein schlanker junger Mann betrat das Zimmer. »Würden Sie Mr. Pendergast bitte hinausbegleiten?«
»Ja, Sir.«
Pendergast machte noch immer keine Anstalten aufzustehen. »Ich frage mich, Mr. Chausson, was Ihre Gäste wohl dazu sagen würden, wenn sie erführen, dass in diesem Hotel früher einmal ein Sanatorium untergebracht war.«
Auf einmal verschlossen sich Chaussons Gesichtszüge. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Von einem Sanatorium für alle möglichen Arten von außerordentlich unangenehmen, hochinfektiösen Krankheiten. Cholera, Tuberkulose, Malaria, Gelbfieber –«
»Jonathan?«, sagte Chausson. »Mr. Pendergast wird noch eine Weile hierbleiben. Bitte schließen Sie die Tür hinter sich.«
Der junge Mann zog sich zurück. Chausson wandte sich zu Pendergast um und setzte sich vor; seine rosafarbenen Kinnbacken wackelten vor lauter Empörung. »Wie können Sie es wagen, mir zu drohen?«
»Drohen? Was für ein hässliches Wort. ›Die Wahrheit macht frei‹, Mr. Chausson. Ich biete Ihnen an, Ihre Gäste mittels der Wahrheit zu befreien, nicht, ihnen zu drohen.«
Einen Augenblick lang blieb Chausson regungslos stehen. Dann ließ er sich langsam zurück auf seinen Stuhl sinken. »Was wollen Sie?«, fragte er leise.
»Der Grund meines Besuchs ist das Sanatorium. Ich bin hier, um mir alte Akten anzusehen, die möglicherweise noch existieren. Vor allem jene, die sich auf einen bestimmten Patienten beziehen.«
»Und wer soll dieser Patient sein?«
»John James Audubon.«
Chausson runzelte die Stirn. Und dann schlug er mit seinen ausgiebig geschrubbten Händen in unverhüllter Verärgerung auf den Schreibtisch. »Nicht schon wieder!«
Pendergast sah ihn verwundert an. »Wie bitte?«
»Jedes Mal, wenn ich glaube, dass dieser elende Kerl vergessen ist, kommt jemand anders hierher. Und ich nehme an, dass auch Sie sich nach dem Gemälde erkundigen wollen.«
Pendergast saß schweigend da.
»Ich sage Ihnen, was ich den anderen erzählt habe. John James Audubon war hier vor fast hundertachtzig Jahren Patient. Die … äh, das Sanatorium wurde vor mehr als einem Jahrhundert geschlossen. Sämtliche Unterlagen – und mit Sicherheit jedwedes Gemälde – sind längst verschwunden.«
»Und das ist alles?«, fragte Pendergast.
Chausson nickte; damit war für ihn die Sache abgeschlossen. »Und das ist alles.«
Ein kummervoller Ausdruck trat in Pendergasts Gesichtszüge. »Jammerschade. Nun ja, einen schönen Tag noch, Mr. Chausson.« Und damit erhob er sich vom Stuhl.
»Eine Sekunde.« Chausson erhob sich ebenfalls, plötzlich besorgt. »Sie werden den Gästen doch nichts davon erzählen …«
Pendergast sah noch bekümmerter drein. »Wie gesagt, jammerschade.«
Chausson streckte die Hand aus. »Warten Sie einen Moment.« Er zog ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich die Stirn. »Kann sein, dass noch ein paar Akten übrig sind. Kommen Sie mit.« Und damit holte er tief und erschauernd Luft und schritt vorneweg aus dem Büro.
Pendergast folgte Chausson durch ein elegantes Restaurant, vorbei an einem Bereich, in dem Speisen vorbereitet wurden, in eine riesige Küche. Schnell wichen der Marmor und das Gold weißen Kacheln und gummierten Bodenmatten. Auf der anderen Seite der Küche öffnete Chausson eine Metalltür. Eine alte Eisentreppe führte in einen kühlen, feuchten, schwach erleuchteten Kellergang, der sich endlos in die Erde von Louisiana zu bohren schien. Die Wände und Decke bestanden aus bröckelndem Gips, der Fußboden aus schartigen Ziegelsteinen.
Schließlich blieb Chausson vor einer mit Beschlägen versehenen Eisentür stehen. Mit einem Knarzen schob er sie auf und trat ins Dunkel, wobei die feuchte Luft stark nach Pilzbefall und Moder roch. Nachdem er einen altmodischen Lichtschalter im Uhrzeigersinn gedreht hatte, kam ein riesiger Raum zum Vorschein. Das Huschen und Quieken des sich zurückziehenden Ungeziefers war deutlich zu hören. Der Boden war von ausrangierten, mit Asbest verkleideten Rohren und diversem, mit Schimmel überzogenen Gerümpel übersät. »Das war ehemals der Heizungsraum«, sagte Chausson und bahnte sich einen Weg zwischen dem Rattenkot und dem Müll.
In der gegenüberliegenden Ecke lagen mehrere aufgeplatzte Bündel Papier, feucht, von Nagern angefressen, voller Stockflecken, alt und verrottet. In einer anderen hatten Ratten ihr Nest gebaut. »Das ist alles, was von den Unterlagen des Sanatoriums übrig ist«, sagte Chausson, während sich wieder etwas von dem früheren Triumph in seine Stimme schlich. »Ich habe Ihnen ja gesagt, es sind nur Reste. Keine Ahnung, warum die nicht schon vor Jahren weggeworfen wurden.«
Pendergast kniete sich hin und fing an, die Papiere sehr sorgfältig durchzusehen, wobei er jedes einzelne umdrehte und inspizierte. Zehn Minuten verstrichen, dann zwanzig. Chausson klopfte mehrmals auf seine Armbanduhr, doch Pendergast war völlig unempfänglich für Chaussons Gereiztheit. Schließlich erhob er sich, einen dünnen Stapel Papiere in der Hand. »Darf ich mir die ausleihen?«
»Nehmen Sie sie mit … am besten alle.«
Pendergast steckte die Papiere in einen braunen Umschlag. »Sie hatten vorhin erwähnt, dass andere Personen Interesse an Audubon und einem bestimmten Gemälde gezeigt hätten.«
Chausson nickte.
»Hieß das Gemälde vielleicht das Schwarzgerahmte?«
Chausson nickte erneut.
»Diese anderen Personen – wer waren sie, und wann waren sie hier?«
»Die eine war, warten Sie, vor etwa fünfzehn Jahren hier. Kurz nachdem ich hier als Geschäftsführer anfing. Die andere vielleicht ein Jahr darauf.«
»Ich bin also erst die dritte Person, die sich nach den Papieren erkundigt«, sagte Pendergast. »Nach Ihrem Tonfall zu urteilen, hatte ich angenommen, dass es mehr gewesen wären. Erzählen Sie mir von der ersten Person.«
Wieder seufzte Chausson. »Ein Kunsthändler, ein recht unappetitlicher Kerl. In meiner Branche lernt man, einen Menschen an seinem Benehmen, an seiner Wortwahl zu erkennen. Dieser Mann hat mir geradezu Angst eingejagt. Er war an dem Gemälde interessiert, das Audubon angeblich während seiner Zeit hier gemalt hat. Er hat angedeutet, dass er sich für meine Bemühungen erkenntlich zeigen würde. Er ist ziemlich wütend geworden, als ich ihm nichts erzählen konnte.«
»Hat er die Papiere gesehen?«, fragte Pendergast.
»Ich wusste damals noch nicht, dass sie existieren.«
»Erinnern Sie sich, wie der Mann hieß?«
»Ja. Blast. Einen solchen Namen vergisst man nicht.«
»Verstehe. Und die zweite Person?«
»War eine Frau. Jung, rötlich-braunes Haar, schlank. Sehr attraktiv. Sie war sehr viel angenehmer und besaß auch mehr Überredungskraft. Dennoch: Ich konnte ihr nicht viel mehr erzählen, als ich auch Blast gesagt hatte. Sie hat die Papiere durchgesehen.«
»Hat sie irgendwelche davon mitgenommen?«
»Das habe ich ihr nicht gestattet; ich glaubte, die Papiere könnten wertvoll sein. Aber jetzt will ich sie einfach nur noch loswerden.«
Pendergast nickte bedächtig. »Diese junge Frau – wissen Sie noch, wie sie hieß?«
»Nein. Es war komisch, sie hat mir ihren Namen nicht genannt. Ich entsinne mich, dass ich darüber nachgedacht habe, nachdem sie gegangen war.«
»Hatte sie einen ähnlichen Akzent wie ich?«
»Nein. Sie sprach mit einem Nordstaaten-Akzent. So wie die Kennedys.« Chausson erschauderte.
»Verstehe. Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.« Pendergast wandte sich um. »Ich finde schon allein hinaus.«
»O nein«, sagte Chausson rasch. »Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen. Ich bestehe darauf.«
»Keine Sorge, Mr. Chausson. Ich werde Ihren Gästen kein Sterbenswörtchen sagen.« Und dann schritt Pendergast – nachdem er sich kurz verneigt und, noch kürzer, recht traurig gelächelt hatte – rasch über den langen Flur in Richtung Außenwelt.