44
Aus der Lautsprecheranlage ertönte ein abschließendes bing, bing!, dann herrschte Stille. Hayward blieb reglos sitzen, plötzlich wie erstarrt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie brachte es nicht über sich, Pendergast anzusehen oder die Krankenschwestern, sie konnte nur zu Boden starren. Sie konnte an nichts anderes denken als an den Ausdruck in den Augen des Arztes, als er davongeeilt war.
Kurz darauf kam der Priester, eine schwarze Tasche in der Hand, die ihn fast selbst wie einen Arzt wirken ließ, ein kleiner Mann mit weißem Haar und einem sorgsam gestutzten Bart. Mit hellen, vogelähnlichen Augen schaute er von ihr zu Pendergast.
»Ich bin Pater Bell.« Er stellte seine Tasche ab und streckte seine kleine Hand aus. Hayward nahm sie, aber anstatt ihr die Hand zu schütteln, hielt er sie tröstend umfasst. »Und Sie sind?«
»Captain Hayward. Laura Hayward. Ich bin … eine enge Freundin von Lieutenant D’Agosta.«
Er hob leicht die Augenbrauen. »Sie sind also bei der Polizei?«
»NYPD.«
»Wurde er im Dienst verwundet?«
Hayward zögerte; Pendergast übernahm geschickt das Gespräch. »In gewisser Weise. Ich bin Special Agent Pendergast vom FBI, ein Kollege des Lieutenants.«
Ein knappes Nicken und ein Handschlag. »Ich bin hier, um Lieutenant D’Agosta die Sakramente zu erteilen, insbesondere das Sakrament, das wir Krankensalbung nennen.«
»Krankensalbung«, wiederholte Hayward.
»Früher haben wir es die Letzte Ölung genannt, aber das war stets eine wenig zutreffende und ungenaue Bezeichnung. Schauen Sie, es ist ein Sakrament für die Lebenden, nicht für die Sterbenden, und es ist ein heilendes Sakrament.« Seine Stimme war hell und melodisch.
Hayward neigte den Kopf und schluckte.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich etwas ausführlicher darauf eingehe. Meine Anwesenheit kann manchmal ein wenig beunruhigend wirken. Die Leute glauben, dass ich nur gerufen werde, wenn jemand im Sterben liegt, was aber nicht der Fall ist.«
Hayward war zwar nicht katholisch, empfand seine Direktheit aber trotzdem als beruhigend. »Dieser Code, den wir da gerade gehört haben.« Sie verstummte kurz. »Bedeutet das …?«
»Der Lieutenant wird von einem Team hervorragender Ärzte operiert. Wenn es einen Weg gibt, ihn da rauszuholen, werden sie ihn finden. Wenn nicht, wird Gottes Wille geschehen. Also, was meinen Sie, gibt es irgendeinen Grund, weshalb der Lieutenant wünschen könnte, dass ich ihm die Sakramente nicht erteile?«
»Er ist, ehrlich gesagt, kein praktizierender Katholik …« Hayward zögerte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Vinnie zum letzen Mal in die Kirche gegangen war. Aber etwas an der Vorstellung, den Priester bei ihm zu wissen, schien tröstlich, und sie spürte, dass Vinnie es zu schätzen wissen würde. »Ich würde sagen, ja, tun Sie es. Ich glaube, Vincent würde zustimmen.«
»Sehr schön.« Der Priester drückte ihre Hand. »Gibt es noch etwas, das ich für einen von Ihnen tun kann? Irgendwelche Erledigungen? Anrufe?« Er hielt kurz inne. »Eine Beichte? Wir haben eine Kapelle hier im Krankenhaus.«
»Nein, danke«, sagte Hayward. Sie warf einen Blick auf Pendergast, aber der schwieg.
Pater Bell nickte ihnen beiden zu, griff nach seiner schwarzen Tasche und steuerte mit schnellen, sicheren Schritten, vielleicht sogar mit einem leichten Anflug von Eile, auf die Operationssäle zu.
Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Fünf Prozent oder weniger. Eins zu zwanzig. Das kurze Gefühl von Trost, das der Priester ihr vermittelt hatte, löste sich auf. Sie sollte sich besser an den Gedanken gewöhnen, dass Vinnie es nicht schaffen würde. Es war so sinnlos, eine solche Vergeudung eines Menschenlebens. Er war noch nicht mal fünfundvierzig. Erinnerungen stiegen in ihr auf, zersplittert, quälend, die schlechten Erinnerungen peinigend, die guten Erinnerungen sogar noch schlimmer.
Irgendwo im Hintergrund hörte sie Pendergasts Stimme. »Ich möchte gern, dass Sie eines wissen, falls es schlecht ausgeht: Vincent hat sein Leben nicht weggeworfen.«
Sie blickte durch die Finger auf den leeren Krankenhausflur, dorthin, wo der Priester verschwunden war, und schwieg.
»Captain. Ein Polizist riskiert jeden Tag sein Leben. Er kann jederzeit den Tod finden, überall, wegen allem und jedem. Beim Schlichten eines häuslichen Streits, beim Abwehren eines Terrorangriffs. Jeder Tod im Dienst ist ehrenhaft. Und Vincent war mit der ehrenhaftesten Aufgabe befasst, die es gibt, dem Wiedergutmachen eines Unrechts. Seine Bemühungen waren ausschlaggebend für das Lösen dieses Mordfalls, absolut entscheidend.«
Hayward antwortete nicht. Sie dachte wieder an den Code. Das war vor einer Viertelstunde gewesen. Vielleicht, dachte sie, war der Priester bereits zu spät gekommen.