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Baton Rouge

Wie viel Zeit genau vergangen war – fünf Stunden oder fünfzig –, Laura Hayward hätte es nicht sagen können. Das langsame Verrinnen der Minuten verschmolz mit einer seltsamen Fuge aus Lautsprecherdurchsagen, hektischen, gedämpften Stimmen, dem leisen Piepen medizinischer Apparate. Gelegentlich war Pendergast an ihrer Seite. Manchmal stellte sie fest, dass er fort war. Anfangs wollte sie die Zeit zwingen, so schnell wie möglich zu vergehen. Dann, als das Warten länger wurde, wollte sie nur noch, dass die Zeit langsamer verging. Denn je länger Vincent D’Agosta auf dem OP-Tisch lag, desto geringer war die Chance, dass er überlebte.

Dann – urplötzlich – stand der Chirurg vor ihnen. Sein blauer OP-Kittel war zerknittert, sein Gesicht bleich und abgespannt. Hinter ihm stand Pater Bell.

Beim Anblick des Priesters machte Haywards Herz einen schrecklich großen Satz. Sie hatte gewusst, dass dieser Augenblick kommen musste. Und doch, jetzt, wo es so weit war, wusste sie nicht, ob sie es ertragen würde. O nein. O nein, nein, nein, nein … Sie merkte, dass Pendergast ihre Hand nahm.

Der Arzt räusperte sich. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass die Operation erfolgreich verlaufen ist. Wir haben sie vor fünfundvierzig Minuten abgeschlossen und den Patienten seitdem intensiv überwacht. Die Zeichen sind vielversprechend.«

»Ich bringe Sie zu ihm«, sagte Pater Bell.

»Nur ganz kurz«, fügte der Arzt hinzu. »Er ist kaum bei Bewusstsein und noch sehr schwach.«

Einen Augenblick saß Hayward reglos, wie betäubt da und versuchte, das Ganze zu begreifen. Pendergast sagte etwas, aber sie verstand nicht, was. Dann spürte sie, wie sie hochgezogen wurde – der FBI-Agent stützte sie auf einer Seite, der Priester auf der anderen –, und dann gingen sie den Krankenhausflur hinunter. Links um die Ecke, rechts um die Ecke, an geschlossenen Türen vorbei und durch Gänge voller Tragbahren und leerer Rollstühle. Durch eine offene Tür kamen sie in einen kleinen Bereich, der von tragbaren Wandschirmen abgeschlossen wurde. Eine Schwester zog einen der Wandschirme beiseite, und da war Vinnie. Angeschlossen an ein Dutzend Apparate, die Augen geschlossen. Schläuche schlängelten sich unter die Bettwäsche: Blutplasma, eine Tropfinfusion. Trotz seiner vierschrötigen Gestalt wirkte er zerbrechlich, beinahe durchsichtig.

Der Atem stockte ihr. Dann öffnete er die Augen, schloss sie wieder, schlug sie wieder auf. Er sah sie der Reihe nach stumm an und schaute ihr dann in die Augen.

Als Hayward auf ihn hinuntersah, spürte sie, wie der Rest ihrer Selbstbeherrschung – dieser gebieterischen Geistesgegenwart, auf die sie so stolz war – bröckelte. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen.

»O Vinnie«, schluchzte sie.

D’Agostas Augen füllten sich mit Tränen. Und dann fielen sie langsam zu.

Pendergast legte stützend den Arm um sie; einen Augenblick barg sie ihr Gesicht am Stoff seines Hemds und ließ ihren Gefühlen freien Lauf, von Schluchzern geschüttelt. Erst jetzt, als sie Vinnie lebendig wiedersah, wurde ihr klar, wie nahe sie daran gewesen war, ihn zu verlieren.

»Ich fürchte, Sie müssen jetzt gehen«, sagte der Arzt leise.

Sie richtete sich auf, trocknete ihre Tränen und holte tief und zittrig Luft, ein reinigendes Luftholen.

»Noch ist er nicht über den Berg. Sein Herz wurde durch das Trauma schwer geschädigt. Er braucht so bald wie möglich eine neue Aortenklappe. Eine Bio-Prothese.«

Hayward nickte. Sie löste sich von Pendergast, warf noch einen Blick auf D’Agosta und wandte sich dann ab.

»Laura«, hörte sie ihn krächzen.

Sie schaute zurück. Er lag noch immer auf dem Bett, die Augen geschlossen. Hatte sie es sich nur eingebildet?

Da rührte er sich leicht, seine Augen öffneten sich. Sein Kiefer bewegte sich, aber er brachte keinen Laut hervor.

Sie trat vor und beugte sich über sein Bett.

»Sorg dafür, dass meine Arbeit hier einen Sinn hatte«, sagte er, die Stimme kaum mehr als ein Hauch.