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Port Allen, Louisiana

Der Tag war dunkel und regnerisch, ganz anders als der heitere, wolkenlose Vortag. D’Agosta hatte absolut nichts dagegen. So würde es im Doughnut-Laden weniger Kunden geben, mit denen sie sich befassen mussten. Pendergasts Plan erfüllte ihn mit gravierenden Bedenken.

Pendergast, der am Steuer des Rolls saß, nahm die Port-Allen-Abfahrt von der I-10. Die Reifen zischten über den nassen Asphalt. D’Agosta saß neben ihm und blätterte im New Orleans Star-Picayune. »Ich verstehe nicht, warum wir das nicht nachts machen können«, sagte er.

»Das Geschäft hat eine Alarmanlage. Und der Lärm würde in der Nacht mehr auffallen.«

»Das Reden übernehmen besser Sie. Ich habe das Gefühl, dass mein Queens-Akzent in diesem Teil des Landes nicht so gut ankommen würde.«

»Ein ausgezeichneter Punkt, Vincent.«

D’Agosta fiel auf, dass Pendergast zum wiederholten Male in den Rückspiegel blickte. »Haben wir Gesellschaft?«, fragte er.

Als Antwort lächelte Pendergast nur. Statt des gewohnten schwarzen Anzugs trug er heute ein buntkariertes Flanellhemd und Jeans. Nun ähnelte er nicht mehr einem Beerdigungsunternehmer, sondern einem Totengräber.

D’Agosta blätterte um und hielt inne, als er auf einen Artikel mit der Schlagzeile »Pensionierter Wissenschaftler in seinem Haus ermordet« stieß. »He, Pendergast«, sagte er, nachdem er die ersten Absätze überflogen hatte. »Schauen Sie sich das mal an. Das ist der Typ, mit dem Sie reden wollten, Morris Blackletter. Helens früherer Chef. Er wurde ermordet in seinem Haus aufgefunden.«

»Ermordet? Wie?«

»Erschossen. Schrotflinte.«

»Geht die Polizei davon aus, dass er einen Einbrecher überrascht hat?«

»Das steht hier nicht.«

»Er muss gerade eben erst aus dem Urlaub zurückgekommen sein. Ein Jammer, dass wir nicht früher zu ihm gegangen sind. Er hätte sich als recht nützlich erweisen können.«

»Jemand anders hat ihn zuerst erwischt. Und ich kann mir denken, wer dieser Jemand war.« D’Agosta schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir nach Florida zurück und Blast in die Mangel nehmen.«

Pendergast bog in die Court Street ein und folgte der Straße Richtung Innenstadt und Mississippi. »Möglich. Aber mir ist sein Motiv unklar.«

»Mir nicht. Vielleicht hat Helen ihrem Chef erzählt, dass Blast sie bedroht hat.« D’Agosta faltete die Zeitung zusammen und schob sie zwischen Sitz und Mittelkonsole. »Wir reden mit Blast, und am nächsten Abend wird Blackletter getötet. Sie sind doch derjenige, der nicht an Zufälle glaubt.«

Pendergast blickte nachdenklich drein. Aber anstatt etwas zu erwidern, bog er von der Court Street ab und manövrierte den Rolls einen Block von ihrem Ziel entfernt vorsichtig in eine Parklücke. Sie traten in den Nieselregen hinaus, und Pendergast öffnete den Kofferraum. Er reichte D’Agosta einen gelben Bauhelm und eine große Arbeitstasche aus Segeltuch. Einen zweiten Helm setzte er sich auf den Kopf. Zuletzt zog er einen schweren Werkzeuggürtel hervor, von dem eine Ansammlung von Taschenlampen, Maßbändern, Drahtschneidern und anderem Werkzeug baumelte, und schnallte ihn um.

»Wollen wir?«, fragte er.

In Pappy’s Donette Hole herrschte kaum Betrieb. Zwei rundliche Mädchen standen hinter der Theke, ein einsamer Kunde bestellte ein Dutzend Jumbo-Doughnuts mit doppelt Schokoladenguss. Pendergast wartete, bis der Kunde bezahlt hatte und gegangen war, dann trat er vor, mit klirrendem Werkzeuggürtel.

»Ist der Chef zu sprechen?«, fragte er gebieterisch. Sein Südstaatenakzent hatte ungefähr fünf Stufen an Vornehmheit und Kultiviertheit eingebüßt.

Eines der Mädchen drehte sich wortlos um und verschwand hinten im Laden. Eine Minute später kehrte sie mit einem Mann mittleren Alters zurück. Seine dicken Oberarme waren mit blonden Härchen bedeckt, und er schwitzte, obwohl es ein kühler Tag war.

»Ja?«, sagte er und wischte Mehl an einer Schürze ab, die bereits voller Fett und Doughnut-Teig war.

»Sind Sie der Chef hier?«

»Ja.«

Pendergast langte in die Tasche seiner Jeans und zückte ein aufklappbares Mäppchen. »Wir sind vom Bauamt, Prüfstelle Baustatik und Baugenehmigungen. Mein Name ist Addison, und mein Partner hier heißt Steele.«

Der Mann studierte den Dienstausweis, den Pendergast gestern Nacht gefälscht hatte, und grunzte. »Und was wollen Sie?«

Pendergast steckte den Ausweis weg und zog ein paar zusammengeheftete, offiziell wirkende Papiere. »Unser Amt hat eine Prüfung der Bau- und Baugenehmigungsunterlagen von Gebäuden hier in der Gegend vorgenommen, und dabei hat sich gezeigt, dass es bei verschiedenen Gebäuden – einschließlich diesem hier – Probleme gibt. Große Probleme.«

Der Mann blickte auf die Papiere, die ihm entgegengestreckt wurden, und runzelte die Stirn. »Was denn für Probleme?«

»Unregelmäßigkeiten beim Genehmigungsverfahren. Probleme mit der Bausubstanz.«

»Das kann nicht sein«, verwahrte der Mann sich. »Wir haben hier regelmäßige Inspektionen, die Lebensmittel und die sanitären Anlagen werden –«

»Wir sind nicht vom Gesundheitsamt«, unterbrach Pendergast ihn sarkastisch. »Die Unterlagen zeigen, dass dieses Gebäude ohne eine ordentliche Baugenehmigung errichtet wurde.«

»Warten Sie mal. Wir sind schon ein Dutzend Jahre hier drin –«

»Warum, glauben Sie wohl, wurde eine Überprüfung angeordnet?«, sagte Pendergast, der immer noch mit den Papieren vor dem verschwitzten Gesicht des Mannes herumwedelte. »Es hat Unregelmäßigkeiten gegeben. Vorwürfe von Korruption.«

»Hey, ich bin nicht der Mann, mit dem Sie deswegen reden sollten. Der Franchisegeber regelt –«

»Sie sind aber der Mann, der jetzt vor Ort ist.« Pendergast beugte sich vor. »Wir müssen in den Keller hinunter und feststellen, wie schlimm die Situation ist.« Er stopfte die Papiere zurück in die Hemdtasche. »Und zwar sofort.«

»Sie wollen den Keller sehen? Meinetwegen«, sagte der Filialleiter, der heftig schwitzte. »Nicht meine Schuld, wenn’s ein Problem gibt. Ich arbeite hier nur.«

»Gut. Packen wir’s an.«

»Joanie wird Sie runterbringen, während Mary Kate sich um die Kunden kümmert –«

»O nein«, fiel Pendergast ihm ins Wort. »O nein. Nein, nein. Keine Kunden. Nicht, bevor wir fertig sind.«

»Keine Kunden?«, wiederholte der Mann. »Ich versuche, hier einen Doughnut-Laden zu führen.«

Pendergast rückte näher. »Wir haben hier eine gefährliche, vielleicht sogar lebensbedrohliche Situation. Unsere Analysen haben gezeigt, dass das Gebäude baufällig ist. Sie sind verpflichtet, das Geschäft für die Öffentlichkeit zu schließen, bis wir unsere Überprüfungen der Fundamente und der tragenden Bauteile abgeschlossen haben.«

»Ich weiß nicht.« Das Stirnrunzeln des Filialleiters vertiefte sich. »Ich werde im Hauptbüro anrufen müssen. Wir haben den Laden noch nie während der Geschäftszeiten dichtgemacht, und in meinem Franchisevertrag steht –«

»Sie wissen nicht!? Wir werden hier bestimmt nicht rumstehen und warten, bis Sie jeden Hinz und Kunz angerufen haben, der Ihnen einfällt.« Pendergast rückte noch näher. »Warum genau versuchen Sie, Zeit zu schinden? Wissen Sie, was passieren würde, wenn der Fußboden unter einem Kunden nachgibt, der gerade eine Packung«, Pendergast hielt kurz inne, um einen Blick auf die Speisekarte zu werfen, die über der Theke hing, »glasierte XXL-Schokoladen-Bananen-Doughnuts mit doppelt Cremefüllung verspeist?«

Stumm schüttelte der Mann den Kopf.

»Sie würden angeklagt werden. Sie persönlich. Wegen Fahrlässigkeit. Fahrlässiger Tötung. Vielleicht sogar wegen vorsätzlicher Tötung.«

Der Filialleiter trat einen Schritt zurück. Er schnappte nach Luft, und frische Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.

Pendergast ließ das angespannte Schweigen andauern. »Ich sag Ihnen, was wir machen«, bot er dann mit plötzlicher Großmütigkeit an. »Sie hängen das GESCHLOSSEN-Schild raus, und Mr. Steele und ich führen unten eine kurze Inspektion durch. Wenn die Lage weniger ernst ist, als man uns zu glauben veranlasst hat, kann der Betrieb weitergehen, bis unser Gutachten vorliegt.«

In der Miene des Mannes zeichnete sich Erleichterung ab. Er wandte sich an seine Mitarbeiterinnen. »Mary Kate, wir schließen für ein paar Minuten. Joanie, begleite diese Männer in den Keller.«

Pendergast und D’Agosta folgten Joanie durch die Küche, an einem Vorratsraum und den Toiletten vorbei zu einer unbezeichneten Tür. Dahinter führte eine steile Betontreppe hinunter in die Dunkelheit. Das Mädchen schaltete das Licht an und enthüllte einen Friedhof alter Elektrogeräte – Profi- Standmixer und Gastronomie-Fritteusen, die offenbar sämtlich auf Reparatur warteten. Der Keller selbst war offensichtlich sehr alt, mit Wänden aus unbehauenem Stein, grob gemörtelt. Zwei der Wände bestanden aus Backstein. Obgleich ebenfalls sehr alt, waren sie doch viel sorgfältiger gemauert. Neben der Treppe standen Kunststoffmülltonnen aufgereiht, und in einer Ecke lag ein unordentlicher, offenbar vergessener Haufen Plastikplanen.

Pendergast drehte sich um. »Danke, Joanie. Wir werden allein arbeiten. Bitte schließen Sie die Tür, wenn Sie hinausgehen.«

Das Mädchen nickte und trat den Rückzug die Treppe hinauf an.

Pendergast trat zu einer der Backsteinwände. »Vincent«, sagte er wieder in seinem normalen Tonfall, »wenn ich mich nicht sehr irre, liegt ungefähr vier Meter dahinter eine andere Wand, die von Arne Torgenssons Keller. Und dazwischen sollten wir den Abschnitt des alten Wasserrohrs finden, in dem der gute Doktor möglicherweise etwas versteckt hat.«

D’Agosta ließ die Werkzeugtasche zu Boden fallen. »Ich denk mal, wir haben zwei Minuten, maximum, bevor dieser Esel da oben seinen Chef anruft, und dann ist die Kacke am Dampfen.«

»Sie verwenden immer so bildhafte Ausdrücke«, murmelte Pendergast, untersuchte die Ziegelmauer mit seiner Lupe und klopfte mit einem Kugelhammer dagegen. »Ich glaube jedoch, ich kann uns ein wenig mehr Zeit erkaufen.«

»Ach ja? Und wie?«

»Ich werde unseren Freund, den Filialleiter, wohl leider darüber in Kenntnis setzen müssen, dass die Lage sogar noch ernster ist als ursprünglich angenommen. Der Laden muss für Kunden geschlossen bleiben, aber nicht nur das – die Angestellten müssen ebenfalls das Haus räumen, bis wir unsere Inspektion beendet haben.«

Pendergasts leichte Schritte treppauf verklangen rasch. D’Agosta wartete in der kühlen, trockenen Dunkelheit. Einen Augenblick später brach ein Tumult aus: Proteste, erhobene Stimmen. Der Lärm verstummte fast so rasch, wie er losgebrochen war. Pendergast tauchte wieder auf dem Treppenabsatz auf. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen und abgesperrt hatte, stieg er die Treppe hinunter und trat zu der Werkzeugtasche. Er griff hinein, zog einen Vorschlaghammer hervor und reichte ihn D’Agosta.

»Vincent«, sagte er mit dem geisterhaften Anflug eines Lächelns, »ich lasse Ihnen den Vortritt.«