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Penumbra-Plantage

Im großen Kamin in der Bibliothek prasselte ein Feuer; Hayward verfolgte, wie der alte Diener Maurice nach dem Essen dort den Kaffee servierte. Er schlängelte sich zwischen den Möbeln hindurch, ein sehr alter Mann mit faltigem Gesicht und seltsam ausdrucksloser Miene. Ihr war aufgefallen, wie sorgsam er darauf bedacht war, nicht auf die Blutergüsse auf Pendergasts Kiefer zu starren. Vielleicht, dachte Hayward, hat sich der alte Knabe im Laufe der Jahre ja daran gewöhnt, seinen Arbeitgeber im lädierten Zustand zu sehen.

Das Herrenhaus und die Parkanlagen waren genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte: uralte Eichen, mit Spanischem Moos behangen, weißer Säulenvorbau, verblichene Antebellum-Einrichtung. Es gab sogar ein Familiengespenst, hatte der alte Diener ihr versichert, das in den nahen Sümpfen umging – noch ein vorhersagbares Klischee. Die einzige Überraschung war im Grunde das Erscheinungsbild allgemeinen Verfalls, das Penumbra von außen bot. Es war schon ein wenig seltsam, denn sie war immer davon ausgegangen, dass Pendergast jede Menge Geld hatte. Entschlossen verbannte sie diese Überlegungen aus ihren Gedanken und ermahnte sich, dass sie nicht das geringste Interesse an Pendergast oder seiner Familie hatte.

Bevor sie am gestrigen Abend das Krankenhaus verlassen hatten, hatte Pendergast sie ausführlich nach ihrem Besuch bei Constance Greene befragt. Danach hatte er ihr angeboten, auf Penumbra zu übernachten. Hayward hatte abgelehnt und sich entschlossen, in einem Hotel in der Nähe des Krankenhauses abzusteigen. Doch ein Besuch bei D’Agosta am folgenden Morgen hatte noch einmal in aller Deutlichkeit bestätigt, was der Arzt ihr gesagt hatte: Es würde eine lange, langsame Rekonvaleszenz werden. Sie konnte sich freinehmen, das war kein Problem, sie hatte sowieso schon zu viele Urlaubstage angehäuft, aber die Vorstellung, eine Ewigkeit und drei Tage in einem deprimierenden Hotelzimmer warten zu müssen, war unerträglich. Insbesondere, da Vinnie auf Pendergasts Drängen hin an einen sicheren Ort verlegt werden würde, sobald er irgendwie transportfähig war, einen Ort, wo sie ihn aus Gründen der Sicherheit nicht besuchen durfte. Heute Morgen, als Vinnie kurz bei Bewusstsein gewesen war, hatte er sie erneut inständig gebeten, den Fall zu übernehmen und dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte, es bis zum bitteren Ende durchzuziehen.

Als Pendergast ihr also nach dem Mittagessen seinen Wagen geschickt hatte, um sie abzuholen, checkte sie aus dem Hotel aus und nahm seine Einladung an, auf Penumbra zu wohnen. Ihre Hilfe hatte sie noch nicht zugesichert, aber sie war bereit gewesen, sich die Einzelheiten anzuhören. Einiges wusste sie bereits aus ihren Telefonaten mit Vinnie. Es hatte sich angehört wie eine typische Pendergast-Ermittlung: Ahnungen, Sackgassen und sich widersprechende Hinweise, durch hochgradig fragwürdige Polizeiarbeit zusammengeschustert.

Doch in Penumbra, während Pendergasts Schilderung des Falls – er hatte beim Essen damit begonnen und führte sie beim Kaffee fort –, erkannte Hayward, dass die bizarre Geschichte durchaus ihre innere Logik hatte. Pendergast erzählte von der Obsession seiner verstorbenen Frau für Audubon und davon, wie er und D’Agosta der Spur des Karolinasittichs, des verschollenen Gemäldes, des entflogenen Papageis und dem seltsamen Schicksal der Doane-Familie nachgegangen waren. Er las ihr Abschnitte aus dem Tagebuch der Doane-Tochter vor, ihren beängstigenden Abstieg in den Wahnsinn. Er schilderte ihre Begegnung mit Blast, einem Mann, der ebenfalls auf der Suche nach dem Gemälde war und vor kurzem ermordet worden war – genau wie Helens früherer Arbeitgeber bei den Doctors With Wings, Morris Blackletter. Und schließlich erklärte Pendergast die Folge von Schlussfolgerungen und Entdeckungen, die zur Auffindung des verschollenen Gemäldes geführt hatten.

Als Pendergast endlich verstummte, lehnte Hayward sich in ihrem Sessel zurück, trank ihren Kaffee, ging die bizarren Informationen im Kopf noch einmal durch und suchte nach Verknüpfungen und logischen Verbindungen, fand allerdings herzlich wenig. Es würde noch sehr viel Arbeit nötig sein, um die Lücken zu füllen.

Sie betrachtete das Gemälde, das als das »Schwarzgerahmte« bekannt war. Es wurde nur indirekt durch das Kaminfeuer beleuchtet, aber sie konnte trotzdem Details erkennen: die Frau auf dem Bett, der kahle Raum, die kühle, weiße Nacktheit ihres Körpers. Verstörend, um es gelinde auszudrücken.

Sie schaute Pendergast an, der wieder in seinem Markenzeichen steckte, einem schwarzen Anzug. »Sie glauben also, dass Ihre Frau an Audubons Krankheit interessiert war. Einer Krankheit, die ihn irgendwie in ein kreatives Genie verwandelte.«

»Durch irgendeine unbekannte neurologische Wirkung, ja. Für jemanden mit Helens Interessen wäre das eine höchst wertvolle pharmakologische Entdeckung gewesen.«

»Und das Gemälde wollte sie lediglich, um eine Bestätigung ihrer Theorie zu erhalten.«

Pendergast nickte. »Dieses Gemälde ist das Bindeglied zwischen Audubons frühen, mittelmäßigen Werken und seinem späteren Genie. Es ist der Beweis für die Verwandlung, die bei ihm vonstattenging. Aber damit wären wir noch nicht bei der Schlüsselfrage dieses Falls angelangt, den Vögeln.«

Hayward runzelte die Stirn. »Den Vögeln?«

»Die Karolinasittiche. Der Doane-Papagei.«

Hayward hatte schon selbst über eine Verbindung zu Audubons Krankheit nachgegrübelt, aber erfolglos. »Und?«

Pendergast nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich glaube, wir haben es mit einem Typ des Virus H5N1 zu tun.«

»Virus H5N1? Sie meinen Vogelgrippe?«

»Das, glaube ich, ist die Krankheit, die Audubon niedergestreckt hat, die ihn fast umgebracht hätte und die verantwortlich für das Erblühen seiner Kreativität war. Seine Symptome – hohes Fieber, Kopfschmerzen, Delirium, Husten – sind sämtlich mit Grippe vereinbar. Einer Grippe, die er sich zweifellos beim Präparieren eines Karolinasittichs zugezogen hat.«

»Nun mal langsam. Woher wollen Sie das alles wissen?«

Statt zu antworten, griff Pendergast nach einem abgegriffenen, in Leder gebundenen Buch. »Das ist das Tagebuch meines Ururgroßvaters Boethius Pendergast. Er hat sich in Audubons jüngeren Tagen mit dem Maler angefreundet.« Er schlug das Tagebuch auf einer Seite auf, die mit einem seidenen Lesezeichen gekennzeichnet war, fand den gesuchten Abschnitt und begann, laut vorzulesen:

21. Aug. Den Abend wieder mit J. J. A. verbracht. Er hatte sich am Nachmittag mit dem Präparieren zweier Karolinasittiche vergnügt – einer Vogelart mit eigentümlicher Farbgebung, aber ansonsten wenig bemerkenswert. Er hat die Sittiche ausgestopft und auf Zypressenholz montiert. Nach einem ausgezeichneten Essen drehten wir noch eine Runde durch den Park. Gegen halb elf verabschiedete er sich. In der nächsten Woche plant er eine Reise stromaufwärts, wo er seinen Worten nach Geschäftsinteressen hat.

Pendergast klappte das Tagebuch zu. »Audubon hat diese Reise nie angetreten. Denn innerhalb einer Woche entwickelte er die Symptome, die ihn schließlich ins Meuse St. Claire-Sanatorium brachten.«

Hayward deutete mit dem Kopf auf das Tagebuch. »Glauben Sie, Ihre Frau hat diesen Abschnitt gelesen?«

»Ganz bestimmt. Warum sonst hätte sie die beiden Karolinasittiche stehlen sollen, eben die, die von Audubon präpariert worden waren? Sie wollte sie auf Vogelgrippe testen.« Er hielt inne. »Ja mehr noch: Sie hoffte, ihnen einen lebendigen Erreger entnehmen zu können. Vincent sagt, von den Papageien, die meine Frau entwendet hat, sind nur noch ein paar Federn vor Ort geblieben. Morgen früh werde ich zur Oakley-Plantage fahren, diese übrig gebliebenen Federn mit großer Vorsicht einsammeln und sie testen lassen, um eine Bestätigung meines Verdachts zu erhalten.«

»Aber das alles erklärt noch immer nicht, was diese Papageien mit der Familie Doane zu tun haben sollen.«

»Das ist ganz einfach. Die Doanes erkrankten an der gleichen Infektion wie Audubon.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Es gibt einfach zu viele Gemeinsamkeiten, Captain, das kann unmöglich Zufall sein. Das plötzliche Erblühen genialer Kreativität. Gefolgt von einem geistigen Zerfall. Zu viele Gemeinsamkeiten – und Helen wusste das. Deshalb ist sie hingefahren, um den Papagei an sich zu nehmen.«

»Aber als sie den Papagei wegholte, war die Familie noch gesund. Sie hatten keine Grippe.«

»In einem der Tagebücher im Haus der Doanes wird ganz nebenbei vermerkt, dass die Familie kurz nach Ankunft des Papageis die Grippe bekam.«

»O mein Gott.«

»Und dann, ziemlich schnell, zeigten sich bei allen Familienmitgliedern Zeichen kreativer Genialität.« Wieder hielt er kurz inne. »Helen ist hingefahren, um den Vogel von den Doanes wegzuholen – da bin ich mir ganz sicher. Vielleicht um zu verhindern, dass die Krankheit sich weiter ausbreitete. Und natürlich, um ihn zu testen und eine Bestätigung ihrer Theorie zu erhalten. Beachten Sie, was Karen Doane in ihrem Tagebuch über den Tag schreibt, an dem Helen ihnen den Papagei wegnahm. Sie trug Lederhandschuhe und stopfte den Vogel samt Käfig in einen Müllsack. Warum? Ursprünglich nahm ich an, dass der Müllsack einfach der Geheimhaltung diente. Aber er sollte dafür sorgen, dass sie und das Auto nicht kontaminiert wurden.«

»Und die Lederhandschuhe?«

»Die trug sie ohne Zweifel, um die Chirurgenhandschuhe darunter zu verbergen. Helen versuchte, einen Virus von der menschlichen Bevölkerung fernzuhalten. Zweifellos wurden Vogel, Käfig und Müllsack sämtlich verbrannt, nachdem sie die notwendigen Proben entnommen hatte, selbstverständlich.«

»Verbrannt?«, wiederholte Hayward.

»Standard-Vorgehensweise. Die entnommenen Proben werden letztlich ebenfalls vernichtet worden sein.«

»Warum? Wenn die Familie Doane infiziert war, konnten sie die Krankheit doch übertragen. Den Papagei zu verbrennen, das wäre doch, als ob man den Brunnen erst zudecken würde, nachdem das Kind hineingefallen ist.«

»Nicht ganz. Sehen Sie, das Vogelgrippevirus wird leicht vom Vogel auf den Menschen übertragen, aber nur sehr schwer vom Menschen auf den Menschen. Für die Nachbarn bestand keine Gefahr. Für die Doanes war es natürlich zu spät.« Pendergast trank einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse ab. »Aber damit wäre die zentrale Frage noch nicht geklärt: Von wo ist der Papagei entwischt? Und, noch wichtiger, wie wurde er zum Krankheitsüberträger?«

Bei ihrer Skepsis war Hayward doch fasziniert. »Vielleicht irren Sie sich. Möglicherweise hat das Virus die ganze Zeit geschlummert. Und der Papagei hat sich auf natürliche Weise angesteckt.«

»Unwahrscheinlich. Vergessen Sie nicht, er war beringt. Nein. Das Genom des Virus wird mühsam in einem Labor sequenziert und nachgebildet worden sein, unter Verwendung genetischen Materials des Erregers aus den gestohlenen Karolinasittichen. Und dann wurden lebende Vögel damit infiziert.«

»Der Vogel ist also aus einem Labor entkommen.«

»Genau.« Pendergast erhob sich. »Das größte Rätsel von allen bleibt: Was hat das mit dem Mord an Helen, den beiden Morden in den letzten Tagen und dem Angriff auf Vincent und mich zu tun?«

»Vergessen Sie da nicht eine andere Frage, die gestellt werden müsste?«, erkundigte sich Hayward.

Pendergast sah sie an.

»Sie sagen, Helen hat die Papageien gestohlen, die Audubon studiert hat – die von ihm präparierten Papageien, bei denen er sich vermutlich angesteckt hat. Helen ist zur Familie Doane gefahren, um auch deren Papagei zu stehlen, weil sie wusste, wie Sie ebenfalls sagen, dass er infiziert war. Daraus folgt: Helen stellte den gemeinsamen Nenner, das Verbindungsglied zwischen diesen beiden Vorgängen dar. Sind Sie da nicht neugierig zu erfahren, welche Rolle Ihre Frau bei dem Sequenzieren und Infizieren gespielt hat?«

Pendergast wandte sich ab, doch vorher huschte noch ein schmerzlicher Ausdruck über sein Gesicht. Hayward bereute beinahe, die Frage aufgeworfen zu haben.

Ein langes Schweigen senkte sich über die Bibliothek. Schließlich drehte Pendergast sich zu ihr um. »Wir müssen da weitermachen, wo Vincent und ich aufgehört haben.«

»Wir?«

»Sie werden Vincents Bitte entsprechen, nehme ich doch an. Ich brauche einen kompetenten Partner. Und soweit ich mich erinnere, stammen Sie ursprünglich aus dieser Region. Sie werden Ihre Sache gut machen, das weiß ich.«

Pendergasts anmaßende, herablassende Haltung war hochgradig irritierend. Hayward war nur zu gut mit seinen unorthodoxen Ermittlungstechniken vertraut, seiner Art, unbekümmert Vorschriften und Regeln zu umgehen, seinem Vorgehen am Rande der Legalität. Sie würde die ganze Sache als höchst ärgerlich empfinden, wenn nicht gar als unerträglich. Es könnte sogar ihrer Karriere schaden. Sie erwiderte seinen ruhigen Blick. Wenn dieser Mann nicht wäre, dann würde Vinnie jetzt nicht im Krankenhaus liegen, schwer verwundet, und eine neue Herzklappe brauchen.

Und dennoch … Vinnie hatte sie darum gebeten. Zweimal.

Ihr ging auf, dass sie sich bereits entschieden hatte.

»Nun gut. Ich werde Ihnen helfen, die Sache durchzuziehen. Um Vinnies willen, nicht um Ihretwegen. Aber –« Sie zögerte. »Unter einer Bedingung. Und die ist nicht verhandelbar.«

»Natürlich, Captain.«

»Wenn wir – falls wir – denjenigen finden, der für den Tod Ihrer Frau verantwortlich ist, müssen Sie mir versprechen, ihn nicht umzubringen.«

Pendergast wurde sehr still. »Ihnen ist doch wohl klar, worüber wir hier sprechen? Über den kaltblütigen Mord an meiner Frau.«

»Ich glaube nicht an Selbstjustiz. Zu viele Täter sind tot, bevor sie vor Gericht gestellt werden können. Dieses Mal werden wir dafür sorgen, dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen kann.«

Es entstand eine Pause. »Was Sie da von mir verlangen, ist schwierig.«

»Es ist der Preis für den Tanz«, sagte Hayward schlicht.

Pendergast ließ den Blick lange auf ihr ruhen. Dann, fast unmerklich, nickte er.