3

Die Fieberbäume

In der Nacht war es still gewesen. Selbst die lokalen Rudel, deren Brüllen sonst oft in der Dunkelheit erklang, schwiegen, und die üblichen Laute der nachtaktiven Tiere klangen gedämpft. Aus der Ferne drang das leise Gurgeln und Rauschen des mächtigen Flusses herüber und versetzte die Luft mit dem Geruch von Wasser. Erst im Morgengrauen erklangen die ersten Geräusche der sogenannten Zivilisation: Heißes Wasser wurde in Vorbereitung der Morgentoilette in Kübelduschen gegossen.

Pendergast und seine Frau hatten ihre Hütte verlassen und saßen, die Waffen neben sich, im schwachen Schein der einzelnen Glühbirne im Speisezelt. Es waren keine Sterne am Himmel zu sehen – es war bewölkt, die Finsternis total. Regungslos und schweigend hatten sie in der vergangenen Dreiviertelstunde dort gegessen. Sie hatten ihr Zusammensein genossen, verbunden durch jene Art unausgesprochener Symbiose, die ihre Ehe charakterisierte, und sich mental und emotional auf die Jagd vorbereitet. Helen hatte den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Pendergast streichelte ihre Hand und spielte ab und zu mit dem Stern-Saphir an ihrem Ehering.

»Den gebe ich nie wieder her, weißt du«, sagte sie schließlich, wobei ihre Stimme nach dem langen Schweigen hauchig klang.

Er lächelte nur und streichelte weiter ihre Hand.

Aus dem Halbdunkel erschien eine kleine Gestalt; sie hatte einen langen Speer in der Hand und trug eine lange Hose und ein langes Hemd, beides von dunkler Farbe.

Helen und Pendergast richteten sich auf. »Jason Mfuni?«, fragte Pendergast leise.

»Ja, Sir.«

Pendergast streckte die Hand aus. »Es wäre mir lieb, wenn Sie mich nicht mit ›Sir‹ ansprächen. Mein Name ist Pendergast. Und das hier ist meine Frau, Helen. Sie zieht es vor, beim Vornamen angeredet zu werden, ich beim Nachnamen.«

Der Mann nickte und schüttelte Helen langsam, geradezu phlegmatisch die Hand. »Der Distriktskommissar will mit Ihnen sprechen, Miss Helen, in der Messe.«

Helen stand auf. Pendergast ebenso.

»Entschuldigen Sie, Mr. Pendergast, er wollen allein mit ihr sprechen.«

»Was soll das denn?«

»Er machen sich Sorgen, ob sie genug Erfahrung mit Jagd hat.«

»Das ist doch lächerlich«, sagte Pendergast. »Die Frage ist doch längst geklärt.«

Helen winkte ab und lachte. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Hier draußen herrscht offenbar immer noch das British Empire. Die Frauen sitzen auf der Veranda, fächeln sich kühle Luft zu und fallen beim Anblick von Blut in Ohnmacht. Ich werde das richtigstellen.«

Pendergast nahm wieder Platz. Der Fährtenleser wartete neben ihm und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.

»Möchten Sie sich nicht setzen, Jason?«

»Nein, danke.«

»Wie lange arbeiten Sie schon als Fährtenleser?«, fragte Pendergast.

»Seit ein paar Jahren«, lautete die lakonische Antwort.

»Sind Sie gut?«

Schulterzucken.

»Haben Sie Angst vor Löwen?«

»Manchmal.«

»Haben Sie mit diesem Speer schon einmal einen Löwen getötet?«

»Nein.«

»Verstehe.«

»Das ist ein neuer Speer, Mr. Pendergast. Wenn ich Löwen mit Speer töte, brechen oder verbiegen er meistens, muss dann neuen besorgen.«

Stille senkte sich über das Camp; das Morgenlicht zog hinter dem Busch herauf. Fünf Minuten vergingen, dann zehn.

»Wieso brauchen die so lange?«, fragte Pendergast verärgert. »Wir wollen nicht zu spät losgehen.«

Mfuni zuckte mit den Achseln, stützte sich auf den Speer, wartete.

Plötzlich erschien Helen. Rasch setzte sie sich.

»Hast du dem Quälgeist deine Meinung gesagt?«, fragte Pendergast und lachte.

Einen Augenblick gab ihm Helen keine Antwort. Als er sich fragend an sie wandte, erschrak er, weil sie ganz blass im Gesicht war. »Was hast du denn?«

»Nichts. Nur … Schmetterlinge im Bauch wegen der bevorstehenden Jagd.«

»Du kannst immer noch im Camp bleiben, weißt du.«

»O nein«, widersprach sie vehement. »Nein, ich darf das hier auf keinen Fall verpassen.«

»Dann sollten wir jetzt endlich aufbrechen.«

»Noch nicht«, sagte sie leise. Er spürte ihre kühle Hand auf seinem Arm. »Aloysius … ist dir eigentlich klar, dass wir gestern Abend vergessen haben, den Mondaufgang zu beobachten? Es war Vollmond.«

»Bei all der Aufregung wegen dieses Löwen wundert mich das gar nicht.«

»Komm, wir wollen uns einen Augenblick Zeit nehmen und zuschauen, wie der Mond untergeht.« Helen fasste ihn bei der Hand und umschloss sie mit ihrer, eine für sie ungewöhnliche Geste. Aber zumindest fühlte sich ihre Hand nicht mehr so kalt an.

»Helen …«

Sie drückte seine Hand. »Nicht reden.«

Der Vollmond versank gerade im Busch am gegenüberliegenden Ufer des Flusses – eine buttergelbe Scheibe, die durch einen malvenfarbenen Himmel herabstieg und deren Spiegelbild sich wie vergossene Sahne über das strudelnde Wasser des Luangwa-Flusses ergoss. Sie hatten sich in einer Vollmondnacht kennengelernt und gemeinsam zugesehen, wie der Mond aufgegangen war. Seit ihrer Werbungszeit und Hochzeit war es Tradition, dass sie, ganz gleich, was sonst in ihrem Leben geschah, egal, vor welchen Reisen oder Verpflichtungen sie standen, dem Aufgang des Vollmonds zuschauten.

Der Mond streifte die fernen Baumkronen jenseits des Flusses, dann glitt er langsam hinter die Wipfel. Der Himmel wurde heller, und schließlich verschwand der Mond hinter dem dichten Buschwerk. Die geheimnisvolle Nacht war vorüber, der Tag war angebrochen.

»Good-bye, alter Mond«, sagte Pendergast leichthin.

Helen drückte ihm die Hand, dann stand sie auf, während der Distriktskommissar und Wisley auf dem Weg von der Küchenhütte erschienen. Bei ihnen war ein dritter Mann, hohlgesichtig, sehr hoch aufgeschossen und schlaksig. Das Weiße seiner Augen war gelb.

»Das ist Wilson Nyala«, sagte Wisley, »Ihr Waffenträger.«

Hände wurden geschüttelt. Der Barkeeper, der sie am Vorabend bedient hatte, trat mit einer großen Kanne Lapsang-Souchong-Tee aus der Küche; alle Tassen wurden mit dem heißen, kräftigen Rauchtee gefüllt.

Sie tranken schnell und schweigend. Pendergast stellte seine Tasse ab. »Es ist hell genug, wir können uns jetzt ansehen, wo der Löwe angegriffen hat.«

Nyala schlang sich je eine Jagdbüchse über die Schultern, dann betraten sie den Trampelpfad, der sich am Fluss entlangzog. Dort, wo er an den dichtstehenden Miombo-Sträuchern vorbeiführte, war ein Bereich mit einem Seil und Holzpfählen abgesperrt. Pendergast kniete sich hin und untersuchte die Fährte. Im Staub waren zwei riesige Tatzenabdrücke zu erkennen, daneben sah man eine Lache dunklen Bluts, das inzwischen trocken und rissig geworden war. Während er sich umsah, rekonstruierte er in Gedanken die Attacke. Es war ziemlich eindeutig, was geschehen war: Der Mann war aus dem Unterholz gezerrt, niedergeworfen, gebissen worden. Die ersten Berichte trafen zu. Der Staub zeigte, wo der Löwe das wild um sich schlagende Opfer zurück ins Unterholz gezerrt und dabei eine Blutspur hinterlassen hatte.

Pendergast erhob sich. »Also, so kann’s klappen: Ich bleibe knapp drei Meter hinter Jason, ein wenig links von ihm. Helen wiederum geht knapp drei Meter hinter mir, aber rechts von Jason. Und Sie, Wilson, Sie gehen einfach hinter uns.« Pendergast warf seiner Frau einen Blick zu, die knapp und zustimmend nickte.

»Wenn es so weit ist«, fuhr er fort, »machen wir Zeichen, uns die Waffen zu bringen – mit geschlossenen Sicherheitsriegeln. Und nehmen Sie von meiner Büchse den Gurt ab. Ich möchte nicht, dass er sich im Unterholz verfängt.«

»Mein Gurt bleibt dran«, sagte Helen entschlossen.

Wilson Nyala nickte mit seinem knochigen Kopf.

Pendergast streckte den Arm aus. »Mein Gewehr bitte.«

Wilson reichte es ihm. Pendergast öffnete den Verschluss, untersuchte den Lauf, schob zwei Teilmantelgeschosse 465 Nitro Express – groß wie Macanudos-Zigarren – in die Läufe, schloss die Jagdbüchse, verriegelte sie, vergewisserte sich, dass die Sperre vor war, und reichte sie Nyala zurück. Helen tat das Gleiche mit ihrer Jagdbüchse und lud sie mit 500/416ern, oben gerundeten Teilmantelgeschossen.

»Das ist ein ziemlich großes Gewehr für eine zarte Frau«, sagte Woking.

»Ich finde große Waffen recht anziehend«, erwiderte Helen.

»Also, ich kann dazu nur eines sagen«, fuhr Woking fort. »Ich bin heilfroh, dass ich diesem Menschenfresser nicht in den Busch folgen muss, ob nun mit oder ohne großem Gewehr.«

»Haltet die Formation ›Langes Dreieck‹ so eng wie möglich, solange wir vorrücken«, sagte Pendergast und blickte von Mfuni zu Nyala und wieder zurück. »Der Wind ist auf unserer Seite. Gesprochen wird nur, wenn es absolut notwendig ist. Verwendet Handzeichen. Lasst die Taschenlampen hier.«

Alle nickten. Rasch verflog die Stimmung der aufgesetzten Fröhlichkeit. Schweigend warteten sie, bis die Sonne so hoch stand, dass das Unterholz in ein schwaches, bläulich schimmerndes Halbdunkel getaucht war. Dann bedeutete Pendergast Mfuni loszugehen.

Der Fährtenleser betrat, den Speer in der Hand, das Buschwerk und folgte der Blutspur. Der Pfad entfernte sich vom Fluss und führte durch dichtes Dornengestrüpp und durchgewachsene Mopane-Sträucher an einem kleinen Seitenarm des Luangwa namens Chitele entlang. Sie gingen langsam und folgten der Spur, die das Gras und das Laub durchzog. Der Fährtenleser blieb stehen und wies mit dem Speer auf ein Dickicht aus flachgedrücktem Gras. Dort war eine große, mit Blut befleckte Fläche zu sehen, noch feucht, das Laub ringsum war mit arteriellem Blut vollgespritzt. Hier hatte der Löwe sein Opfer das erste Mal abgelegt und zu fressen begonnen, während es noch lebte und bevor auf ihn geschossen wurde.

Jason Mfuni beugte sich vor und hielt schweigend einen Gegenstand hoch: die Hälfte eines Unterkieferknochens, samt Zähnen, abgenagt an den Rändern und sauber geleckt. Schweigend schaute Pendergast darauf. Mfuni legte den Knochen wieder hin und zeigte auf eine Bresche in der Mauer aus Vegetation.

Sie gingen weiter, durch diese Lücke und hinein in dichtes grünes Buschwerk. Mfuni blieb alle zwanzig Schritte stehen, um zu lauschen und die Luft zu schnuppern oder einen Blutfleck auf einem Blatt zu untersuchen. Ab diesem Punkt war die Leiche ausgeblutet, und die Blutspur wurde schwächer: Nur noch winzige Schlieren und kleine Flecken waren zu sehen.

Der Fährtenleser blieb zweimal stehen, um auf eine Fläche mit flachgedrücktem Gras zu zeigen. Dort hatte der Löwe den Leichnam abgelegt, um ihn besser mit dem Maul packen zu können, und wieder vom Boden aufgehoben. Der Tag zog schnell herauf, die Sonne erschien über den Baumkronen. Nur war es an diesem Morgen, bis auf das ständige Gesumme der Insekten, ungewöhnlich still und leise.

Mehr als anderthalb Kilometer folgten sie der Fährte des Löwen. Die sengende Sonne stand über dem Horizont, im Unterholz herrschte eine backofenähnliche Hitze, die Tsetse-Fliegen stoben sirrend in Wolken auf. Es roch stark nach Staub und Gras. Schließlich endete der Pfad und führte aus dem Buschland hinaus in eine Salzpfanne unter dem breiten Geäst eines Akazienbaums, auf der sich ein einzelner Termitenhügel wie eine Zinne vor dem weißglühenden Himmel abzeichnete. In der Mitte der Salzpfanne erhob sich ein roter und weißer, von einer laut summenden Wolke aus Fliegen umschwärmter Haufen.

Mfuni ging vorsichtig darauf zu, Pendergast, Helen und der Waffenträger folgten ihm. Schweigend versammelten sie sich um den halb aufgefressenen Leichnam des deutschen Fotografen. Der Löwe hatte den Schädel aufgebrochen, das Gesicht und einen Großteil des Oberkörpers gefressen; übrig geblieben waren zwei völlig unversehrte Beine, sauber geleckt, sowie ein abgetrennter Arm, dessen Faust ein Büschel Mähnenhaare umklammert hielt. Niemand sprach ein Wort. Mfuni beugte sich vor, zog das Mähnenhaar aus der Faust und betrachtete es eingehend. Dann legte er es Pendergast in die Hand. Es war von tiefroter Farbe. Pendergast reichte es weiter an Helen, die es ebenfalls inspizierte und anschließend Mfuni zurückreichte.

Während die anderen in der Nähe der Leiche stehen blieben, umkreiste der Fährtenleser langsam die Trockensenke auf der Suche nach Spuren in der alkalihaltigen Erdkruste. Er legte den Finger an den Mund und zeigte über die Senke in ein vlei, eine sumpfige Niederung in der Regenzeit, in der – jetzt, wo die Trockenzeit kurz bevorstand – extrem dichtstehendes, drei bis vier Meter hohes Gras gewachsen war. Mehrere hundert Meter in dem vlei stand ein großer, dichter Hain aus Fieberakazien, deren regenschirmähnliche Kronen sich vor dem Horizont abzeichneten. Der Fährtenleser deutete auf die Spur im hohen Gras, die der Löwe bei seinem Rückzug hinterlassen hatte. Mit ernster Miene kehrte er zu den anderen zurück und flüsterte Pendergast ins Ohr: »Da drin.« Dabei zeigte er mit seinem Speer. »Er ruhen.«

Pendergast nickte und warf Helen einen kurzen Blick zu. Sie war noch immer blass, schien aber völlig gefasst zu sein; ihr Blick wirkte kühl und entschlossen.

Nyala, der Waffenträger, war nervös. »Was ist denn?«, fragte Pendergast leise und drehte sich zu ihm um.

Nickend wies er in die Richtung des extrem hohen Grases. »Der Löwe schlau. Zu schlau. Ganz schlechter Ort.«

Pendergast zögerte, er blickte vom Waffenträger zum Fährtenleser, zum hohen Gras und wieder zurück. Dann bedeutete er dem Fährtensucher voranzugehen.

Langsam und verstohlen betraten sie das extrem hohe Gras. Die Sicht betrug jetzt weniger als fünf Meter. Die hohlen Stengel raschelten bei jeder Bewegung, in der stehenden Luft war der süßliche Geruch nach dem von der Sonne erwärmten Gras beinahe erstickend. Ein grünlich schimmerndes Halbdunkel hüllte sie ein, während sie sich weiter in das dichte Gras hineinbegaben. Das Gesumme der Insekten wurde zu einem steten, lauten Brummen.

Je weiter sich die Gruppe dem Hain der Akazienbäume näherte, desto langsamer ging der Fährtenleser; er hob die Hand, zeigte auf seine Nase. Pendergast atmete ein und roch den schwachen, moschusartigen Löwengeruch, überlagert von einem leicht süßlichen Geruch nach Aas.

Der Fährtenleser ging in die Hocke und machte den anderen Zeichen, das Gleiche zu tun. Die Sicht in dem Horstgras war am Boden besser, dort bot sich ihnen eine größere Chance, das gelbbraune Aufblitzen des Löwen zu erkennen, bevor er sich tatsächlich auf sie stürzte. Langsam rückten sie in den Hain der Fieberbäume vor, wobei sie sich in der Hocke fortbewegten. Der getrocknete Schlicksand war hart gebacken wie Fels und wies keinerlei Spuren auf, aber die gebrochenen und geknickten Stengel bewiesen, dass der Löwe hier hindurchgegangen war.

Wieder blieb der Fährtenleser kurz stehen und machte Zeichen, dass sie sich beratschlagen sollten. Pendergast und Helen gingen zu ihm, dann kauerten sie zu dritt in dem dichten Gras, wobei sie gerade so laut flüsterten, dass ihre Stimmen trotz des Insektengesumms zu hören waren.

»Löwe ist irgendwo vor uns. Zwanzig, dreißig Meter. Bewegen sich langsam.« Mfunis Gesichtszüge wirkten faltig vor lauter Sorge. »Vielleicht wir sollten warten.«

»Nein«, flüsterte Pendergast. »Jetzt ist die beste Gelegenheit, ihn zu erwischen. Er hat gerade gefressen.«

Sie rückten vor und gelangten auf eine kleine, offene Fläche ohne Gras, nicht größer als drei Quadratmeter. Der Fährtenleser blieb stehen und schnüffelte die Luft, dann zeigte er nach links. »Löwe«, flüsterte er.

Pendergast blickte nach vorn, schaute nach rechts, dann schüttelte er den Kopf und zeigte geradeaus.

Der Fährtenleser runzelte die Stirn und beugte sich vor an Pendergasts Ohr. »Löwe nach links gegangen. Er sehr schlau.«

Pendergast schüttelte weiterhin den Kopf und beugte sich über Helen. »Du bleibst hier«, flüsterte er, so nahe, dass seine Lippen ihr Ohr streiften.

»Aber der Fährtenleser …«

»Der Fährtenleser irrt sich. Du bleibst hier, ich gehe nur ein paar Schritte vor. Wir nähern uns dem hinteren Ende des vlei. Der Löwe wird in Deckung bleiben wollen. Wenn ich mich auf ihn zubewege, wird er sich unter Druck gesetzt fühlen. Er könnte losstürmen. Mach dich bereit und halt rechts von mir eine Schussbahn frei.«

Pendergast winkte nach seiner Büchse. Er packte den wegen der Hitze warmen Metalllauf und schob ihn sich unter den Arm. Mit dem Daumen löste er die Sperre und stellte das Nachtsichtgerät auf – ein Korn aus Elfenbein –, damit er im Zwielicht, das hier mitten im Gras herrschte, besser zielen konnte. Nyala reichte Helen ihr Gewehr.

Pendergast betrat das unmittelbar vor ihm liegende dichte Gras, der Fährtenleser folgte ängstlich schweigend, sein Gesicht eine Fratze der Angst.

Pendergast drängte sich durch das Gras und trat dabei mit äußerster Vorsicht auf den steinharten Boden. Gleichzeitig lauschte er auf den ganz besonderen, hustenähnlichen Laut, der den Angriff ankündigte. Er würde Zeit für einen einzigen Schuss haben: ein attackierender Löwe konnte hundert Meter in vier Sekunden zurücklegen. Er fühlte sich sicherer, weil Helen hinter ihm stand; zwei Gelegenheiten, den tödlichen Schuss abzugeben.

Nach zehn Metern blieb er stehen und wartete. Der Fährtenleser stellte sich neben ihn, größtes Unbehagen zeichnete sich in seinen Gesichtszügen ab. Geschlagene zwei Minuten blieben beide Männer reglos stehen. Pendergast lauschte angestrengt, hörte jedoch nur Insekten. Die Jagdbüchse fühlte sich glatt in den schweißnassen Händen an, er schmeckte den alkalischen Staub auf der Zunge. Ein Windstoß, gesehen, aber nicht gefühlt, fuhr ins Gras in der unmittelbaren Umgebung und erzeugte ein leises Rascheln. Das Insektengesumme wurde leiser und erstarb schließlich ganz. Jetzt war alles völlig still.

Langsam, ohne irgendeinen anderen Körperteil zu bewegen, streckte Mfuni einen Finger aus – abermals neunzig Grad zu seiner Linken.

Pendergast blieb völlig regungslos stehen und folgte der Geste mit den Augen. Während er in den trüben Dunst aus Gras spähte, versuchte er einen Blick auf ein gelbbraunes Fell oder das Leuchten eines bernsteinfarbenen Auges zu erhaschen. Nichts.

Ein leises Husten – und dann ein fürchterliches, die Erde erschütterndes, eruptives Geräusch, ein gewaltiges Brüllen, das wie ein Frachtzug auf sie zukam. Nicht von links, sondern von unmittelbar geradeaus.

Pendergast wirbelte im selben Moment herum, als ein Schemen aus ockerfarbenen Muskeln und rötlichem Fell aus dem Gras hervorbrach, das rosafarbene, mit dolchartigen Zähnen bestückte Maul weit aufgerissen. Er gab einen Schuss mit gewaltigem Krawumm! ab, aber weil er keine Zeit gehabt hatte, ruhig zu zielen, sprang der Löwe auf ihn, knapp dreihundert Kilo stinkende Riesenkatze, die ihn zu Boden warf, wobei er spürte, wie sich die Reißzähne in seine Schulter bohrten, so dass er aufschrie, sich unter der erstickenden Körpermasse wand und mit dem freien Arm um sich schlug, um an seine Waffe heranzukommen, die ihm durch den gewaltigen Prankenhieb aus der Hand geschlagen worden war.

Der Löwe hatte sich so gut versteckt, und der Angriff war so schnell und aus der Nähe erfolgt, dass Helen Pendergast erst schussbereit war, als der Löwe sich bereits auf ihren Mann gestürzt hatte. Da war es aber schon zu spät, denn die beiden befanden sich so dicht beieinander, dass sie keinen Schuss riskieren konnte. Sie lief von der Stelle zehn Meter hinter ihrem Mann los und drängte sich durch das hohe Gras, schrie dabei und versuchte, die Aufmerksamkeit des monströsen Löwen auf sich zu ziehen, während sie auf den grässlichen Laut eines gedämpften, feuchten Knurrens zurannte. Als sie am Schauplatz des Geschehens eintraf, bohrte Mfuni dem Löwen gerade seinen Speer in die Eingeweide. Das Tier – größer, als ein Löwe eigentlich wurde – sprang von Pendergast herunter, schlug mit der Pranke nach dem Fährtenleser und riss ihm einen Teil seines Beins ab, dann sprang er mit einem Satz ins Gras, den im Bauch steckenden Speer hinter sich herschleifend.

Helen zielte genau auf den Rücken des fliehenden Löwen und drückte ab, während der Rückschlag der großen 500/416 Nitro Express-Patrone sie heftig durchrüttelte.

Der Schuss war danebengegangen. Der Löwe war verschwunden.

Sie lief zu ihrem Mann. Er war noch bei Bewusstsein. »Nein«, sagte Pendergast. »Ihn.«

Sie blickte zu Mfuni. Er lag auf dem Rücken; dort, wo der Wadenmuskel seines rechten Beins an einem Hautfetzen herabhing, spritzte Blut in den Staub.

»O mein Gott.« Sie riss von ihrem Hemd die untere Hälfte ab, drehte den Stoff fest zusammen und schlang ihn oberhalb der durchtrennten Arterie ums Bein. Dann tastete sie nach einem Stock, steckte ihn zwischen Stoff und Bein und drehte ihn, um einen Druckverband anzulegen.

»Jason?«, sagte sie eindringlich. »Halten Sie durch! Jason!«

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, seine Augen waren weit aufgerissen und zitterten leicht.

»Halten Sie den Stock hier fest. Lockern Sie den Verband, wenn das Bein anfängt, sich taub anzufühlen.«

Die Augen des Fährtenlesers weiteten sich. »Misses, der Löwe kommt zurück.«

»Halten Sie einfach den –«

»Er kommt zurück!« Mfuni brach vor Todesangst die Stimme.

Sie ignorierte ihn und widmete sich ihrem Mann. Er lag auf dem Rücken, sein Gesicht war grau. Seine Schulter wirkte deformiert und war von verklumptem Blut überzogen. »Helen«, sagte er mit rauher Stimme und versuchte aufzustehen. »Hol deine Waffe. Sofort.«

»Aloysius –«

»Um Himmels willen, hol dein Gewehr!«

Es war zu spät. Unter ohrenbetäubendem Gebrüll brach der Löwe erneut aus der Deckung, ein Wirbel aus Staub und herumfliegendem Gras stob auf, und dann war er auf ihr. Helen schrie auf und wollte ihn abwehren, aber da packte er sie auch schon am Arm. Als der Löwe seine Zähne in Helen schlug, hörte man einen Knochen brechen. Das Letzte, was Pendergast von ihr sah, ehe er ohnmächtig wurde, war, wie sie wild um sich schlagend und schreiend ins hohe Gras fortgezerrt wurde.