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Judson Esterhazy hatte den Merc 250er gestartet und steuerte das Sportfischerboot in Richtung Süden, beschleunigte auf eine gefährliche Geschwindigkeit und raste durch den alten Holzfäller-Kanal. Mit äußerster Willensanstrengung zog er den Gashebel ein wenig zurück und beruhigte den Aufruhr in seinen Gedanken. Kein Zweifel, es war höchste Zeit gewesen, seine Verluste abzuschreiben und zu flüchten. Er hatte Pendergast und die verletzte Frau im Sumpf zurückgelassen, ohne Boot, eine Meile entfernt von Spanish Island. Ob sie bis dorthin gelangten oder nicht, war nicht seine größte Sorge; er war in Sicherheit, und es war an der Zeit, einen strategischen Rückzug anzutreten. Er musste zum entscheidenden Schlag ausholen, und zwar bald, aber einstweilen war es klug, sich bedeckt zu halten, die Wunden zu lecken und erfrischt und gestärkt wieder aufzutauchen.

Doch irgendwie hatte er das ungute Gefühl, dass Pendergast Spanish Island erreichen würde. Aber trotz allem, was sich zwischen ihm und seinem Bewohner zugetragen hatte – es fiel ihm schwer, Slade allein und ungeschützt zurückzulassen; schwerer, so viel schwerer, als er in seinem Stoizismus je erwartet hatte.

Merkwürdigerweise hatte er tief im Inneren geahnt, dass die ganze Sache so enden würde, nachdem Pendergast in Savannah mit seiner verfluchten Entdeckung aufgetaucht war. Der Mann war ein Phänomen. Zwölf Jahre, in denen er gewissenhaft in Deckung geblieben war – und zwei Wochen hatten gereicht, um sie auffliegen zu lassen. Und das alles nur, weil ein Lauf eines verdammten Gewehrs nicht gereinigt worden war. Unfassbar, dass eine so kleine Nachlässigkeit so große Folgen haben konnte. Und es hatte auch nicht geholfen, sich über Audubon und New Madrid auszulassen, denn Pendergast hatte ihn überrascht, überrumpelt in dem Gespräch.

Aber wenigstens, dachte Esterhazy, habe ich nicht den Fehler begangen, ihn zu unterschätzen. Wie es so viele andere zu ihrem großen Leidwesen getan hatten. Pendergast ahnte nichts von seiner, Judsons, Beteiligung. Und wusste auch nichts von der Trumpfkarte, die er im Ärmel hatte. Diese Geheimnisse, davon war Judson ohne den geringsten Zweifel überzeugt, würde Slade mit sich nehmen – ins Grab oder sonst wohin.

Die Nachtluft wehte über sein Boot hinweg, die Sterne funkelten droben, die Bäume standen schwarz vor dem mondbeschienenen Himmel. Der Holzfäller-Kanal wurde schmaler und flach. Allmählich kam Esterhazy zur Ruhe. Es bestand immer noch die Möglichkeit – eine realistische –, dass Pendergast und die Frau im Sumpf umkamen, bevor sie ins Camp gelangten. Die Frau hatte schließlich eine seiner Kugeln abbekommen. Es konnte durchaus sein, dass sie verblutete. Selbst wenn die Wunde nicht unmittelbar zum Tod führte, es würde die absolute Hölle sein, die Frau durch diesen letzten Abschnitt des Sumpfs zu ziehen, der voll war mit Alligatoren und Wassermokassins, das Wasser wimmelnd von Egeln, die Luft zum Ersticken voll mit Stechmücken.

Er drosselte die Geschwindigkeit, und das Boot gelangte zum versandeten Ende des Kanals. Esterhazy stellte den Außenbordmotor ab, hob ihn aus dem Wasser und fing an zu staken. Die Stechmücken, an die er eben gedacht hatte, fielen in Schwärmen über ihn her, sammelten sich um seinen Kopf und landeten auf seinem Nacken und seinen Ohren. Er schlug nach ihnen und fluchte.

Der verschlammte Kanal gabelte sich, worauf er in den linken Arm stakte; er kannte sich ja gut aus im Sumpf. Er stakte weiter und warf einen Blick auf den Fischsucher, um die Wassertiefe zu überwachen. Der Mond stand inzwischen so hoch am Himmel, dass es fast taghell war. Mitternacht, noch sechs Stunden bis Sonnenaufgang.

Judson Esterhazy versuchte, sich die Szenerie auf Spanish Island vorzustellen, wenn die beiden dort ankamen, aber das deprimierte und frustrierte ihn nur. Er spuckte ins Wasser und schlug sich das Bild aus dem Kopf. Es interessierte ihn nicht mehr. Ventura, der verdammte Idiot, hatte sich von Hayward gefangen nehmen lassen, hatte allerdings nichts verraten, bis Judson ihm eine Kugel ins Hirn jagte. Blackletter war tot. Alle, die ihn mit dem Projekt Aves in Verbindung bringen konnten, waren tot. Es gab keine Möglichkeit, Aves zurück in die Flasche zu stecken. Wenn Pendergast überlebte, würde alles herauskommen, und sie könnten letztlich Wind davon bekommen, dagegen war nichts zu machen. Jetzt aber war das Entscheidende, seine Beteiligung an der ganze Sache ein für alle Mal zu verwischen.

Doch nach den Ereignissen der vergangenen Woche war eines glasklar: Pendergast würde dahinterkommen. Es war nur eine Frage der Zeit. Das bedeutete, dass seine, Judson Esterhazys, sorgfältig verborgene Rolle ans Licht kommen würde. Und darum musste Pendergast sterben.

Und diesmal würde Pendergast sterben – zu seinen Bedingungen, die er festlegen würde –, und dann, wenn der FBI-Agent am wenigsten damit rechnete. Denn er besaß einen entscheidenden Vorteil: das Überraschungsmoment.

Pendergast war ja nicht unverwundbar, und jetzt wusste er genau, wo seine Schwachstelle lag und wie er sie ausnutzen konnte. Dumm von ihm, sie nicht schon längst erkannt zu haben. In ihm begann sich ein Plan zu formen. Simpel, sauber, effektiv.

Der Kanal war inzwischen wieder so tief, dass er den Außenborder zurück ins Wasser hinablassen konnte. Er stellte ihn an und fuhr langsam durch die Kanäle, arbeitete sich nach Westen vor, wobei er ständig die Wassertiefe unterm Kiel überwachte. Weit vor Sonnenaufgang würde er am Mississippi eintreffen; dort könnte er das Boot in irgendeinem Neben-Bayou versenken und als neuer Mensch aus dem Sumpf heraustreten. Ein Satz aus Die Kunst des Krieges stieg ungebeten in ihm auf:

Komme deinem Feind zuvor, indem du dir nimmst, was er schätzt, und sinne darauf, ihn zu einer Zeit und auf dem Terrain deiner eigenen Wahl zu schlagen.

Nichts hätte seine Lage besser beschreiben können.