37
Sie fuhren auf den Alexander Drive und dann über den Zubringer auf die Interstate 10 und über die Horace Wilkinson Bridge. D’Agosta sank dankbar in seinen Sitz zurück. Der breite Mississippi strömte unter ihnen dahin, düster unter dem bleiernen Himmel.
»Glauben Sie, es ist es?«, fragte D’Agosta. »Das Schwarzgerahmte?«
»Ganz bestimmt.«
Hinter der Brücke begann das eigentliche Baton Rouge. Es war früher Nachmittag und der Verkehr moderat. Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe und trommelte auf das Wagendach. Die Autos, die Richtung Süden unterwegs waren, reihten sich hinter ihnen ein. Als sie das I-12-Autobahnkreuz passierten, zappelte D’Agosta unruhig hin und her. Er wollte sich nicht allzu viele Hoffnungen machen. Doch vielleicht – nur vielleicht – bedeutete das ja, dass er Laura Hayward früher wiedersehen konnte als erwartet. Er hatte nicht geahnt, wie schwer ihm diese erzwungene Trennung fallen würde. Natürlich telefonierten sie jeden Abend miteinander, aber das war kein Ersatz für …
»Vincent«, sagte Pendergast. »Schauen Sie doch bitte mal in den Rückspiegel.«
D’Agosta kam der Bitte nach. Erst entdeckte er nichts Ungewöhnliches in der Reihe von Autos hinter ihnen. Doch dann, als Pendergast die Spur wechselte, sah er, dass ein anderer Wagen – vier, vielleicht fünf Autos hinter ihnen – dasselbe tat. Es war eine Limousine neueren Baujahrs, dunkelblau oder schwarz; bei dem Regen war das schwer zu sagen.
Pendergast beschleunigte ein wenig, überholte einige Fahrzeuge und kehrte dann in seine ursprüngliche Spur zurück. Ein, zwei Minuten später tat die Limousine dasselbe.
»Ich sehe ihn«, murmelte D’Agosta.
Sie setzten die Fahrt einige Minuten fort. Der Wagen blieb weit hinter ihnen, bemüht, nicht allzu sehr aufzufallen.
»Glauben Sie, es ist der Filialleiter?«, fragte D’Agosta. »Bona?«
Pendergast schüttelte den Kopf. »Der Bursche hinter uns beschattet uns schon seit heute Morgen.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Ich warte, bis wir aus der Stadt raus sind. Dann sehen wir weiter. Die Landstraßen könnten sich als nützlich erweisen.«
Sie passierten das Louisiana-Einkaufszentrum, dann mehrere Parks und Country Clubs. Die Stadtlandschaft wich städtischen Randgebieten und schließlich Flecken ländlichen Flachlands. D’Agosta holte seine Glock heraus und lud sie durch.
»Heben Sie sich das als letzten Ausweg auf«, sagte Pendergast. »Wir dürfen nicht riskieren, dass das Gemälde beschädigt wird.«
Und was ist mit uns?, dachte D’Agosta. Er blickte in den Rückspiegel, aber es war unmöglich, ins Innere der dunklen Limousine zu schauen. Als sie die Ausfahrt Sorrento passierten, wurde der Verkehr noch spärlicher.
»Wollen wir ihn stellen?«, sagte D’Agosta. »Ihn zum Handeln zwingen?«
»Ich würde es vorziehen, ihn abzuhängen«, sagte Pendergast. »Sie werden überrascht sein, zu was so ein Oldtimer fähig ist.«
»Ja, klar …«
Pendergast trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und schlug das Steuer scharf nach rechts ein. Der Rolls, der für einen so großen Wagen bemerkenswert gut ansprach, schoss vorwärts, wechselte zwei Fahrspuren und jagte die Autobahnausfahrt hinunter, ohne das Tempo zu drosseln.
D’Agosta prallte heftig gegen die Beifahrertür. Ein erneuter Blick in den Rückspiegel zeigte, dass ihr Verfolger nachgezogen hatte und ebenfalls in die Ausfahrt eingebogen war.
Am Ende der Ausfahrt raste Pendergast an dem Stoppschild vorbei auf die Route 22 und trat hart auf die Bremse. Die Reifen quietschten, als das Heck des Wagens einen 120-Grad-Bogen beschrieb. Geschickt nutzte Pendergast die Schleuderbewegung aus, manövrierte den Wagen in die richtige Spur und trat dann wieder aufs Gaspedal. Sie jagten die Bundesstraße entlang und schossen am Transporter eines Malers, einem Buick und einem Langustenlieferwagen vorbei. Wütendes Gehupe ertönte hinter ihnen.
D’Agosta blickte über die Schulter zurück. Die Limousine, die jeden Versuch eines Versteckspiels aufgegeben hatte, blieb an ihnen dran.
»Er ist noch hinter uns«, sagte er.
Pendergast nickte.
Er gab Gas, und mit noch größerer Geschwindigkeit rasten sie durch ein kleines Gewerbegebiet. Drei Häuserblocks mit Geschäften, die landwirtschaftliche Geräte oder Eisenwaren verkauften, huschten wie Schemen vorbei. Vor ihnen markierte eine Ampel die Kreuzung Route 22 und Airline Highway, die gerade von einer Reihe Autos überquert wurde; man sah einen dichten Strom aufleuchtender Bremslichter. Der Rolls schoss über die Eisenbahnschienen und hob kurz vom Boden ab, dann näherten sie sich der Kreuzung. Die Ampel schaltete auf Gelb und dann auf Rot.
»Herr im Himmel«, murmelte D’Agosta und packte den Griff der Beifahrertür.
Unter Betätigung der Lichthupe und wüstem Gehupe fand Pendergast eine Lücke zwischen den Fahrzeugen vor ihnen und dem entgegenkommenden Verkehr. Ein neues Hupkonzert ertönte, als sie über die regenglatte Kreuzung rasten, wobei sie knapp einem Achtzehntonner entgingen. Pendergast hatte den Fuß nicht vom Gaspedal genommen, so dass die Nadel des Tachos zitternd bei über hundert Meilen pro Stunde stand.
»Vielleicht sollten wir einfach anhalten und den Typen stellen«, schlug D’Agosta vor. »Ihn fragen, für wen er arbeitet.«
»Wie langweilig. Außerdem wissen wir, für wen er arbeitet.«
Sie zogen an einem Auto vorbei, dann an noch einem und noch einem, so schnell, dass die Fahrzeuge kaum mehr waren als stillstehende Farbflecke auf der Straße. Jetzt hatten sie den Verkehr hinter sich gelassen, die Straße vor ihnen war leer. Häuser, Geschäftsgebäude und gelegentlich ein trostlos aussehender Futtermittelladen oder Discounter blieben zurück, als sie ins Sumpfland hineinfuhren. Eine Gruppe Kreppmyrten, schwarze Wächter unter einem Himmel, der düster war wie das Metall einer Pistole, huschte in Windeseile vorbei. Die Scheibenwischer fuhren im stetigen Rhythmus über das Glas. D’Agosta gestattete sich, seinen Griff etwas zu lockern und sich ein wenig zu entspannen.
Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Sie hatten es geschafft.
Nein – nein, hatten sie nicht.
»Mist«, fluchte D’Agosta. »Er ist uns über die Kreuzung gefolgt. Hartnäckiger Scheißkerl.«
»Wir haben das, was er haben will«, sagte Pendergast. »Ein weiterer Grund dafür, dass wir uns nicht einholen lassen dürfen.«
Je weiter sie ins sumpfige Tiefland hineinfuhren, desto schmaler wurde die Straße. D’Agosta hielt den Blick nach hinten gerichtet, während sie eine lange, nicht einsehbare Kurve nahmen. Als die Limousine nicht mehr in Sicht war, verschwunden hinter der Kurve und hohem Sumpfgras, merkte er, dass der Rolls langsamer wurde.
»Das ist unsere Chance, ihn –«, begann er.
Plötzlich schwenkte der Rolls heftig zur Seite. D’Agosta, der fast nach hinten geschleudert worden wäre, kämpfte darum, seinen Sitz wiederzufinden. Sie waren von der Landstraße auf ein schmales, unbefestigtes Sträßchen abgebogen, das in den tiefsten Sumpf hineinführte. Auf einem dreckigen, verbeulten Schild stand DESMIRAIL WILDLIFE AREA – FORSTFAHRZEUGE FREI.
Der Wagen schleuderte heftig von einer Seite zur anderen, als sie die matschige Fahrspur entlang bretterten. D’Agosta flog gegen die Wagentür, und im nächsten Moment fühlte er sich aus dem Sitz gehoben; nur der Gurt verhinderte, dass er sich beim Zusammenstoß mit dem Wagendach eine Gehirnerschütterung zuzog. Noch eine Minute weiter so, dachte er grimmig, dann brechen uns beide Achsen. Er wagte einen erneuten Blick in den Rückspiegel, aber die Straße schlängelte sich derart, dass man nicht mehr als hundert Meter weit nach hinten sehen konnte.
Vor ihnen verengte sich die Straße und gabelte sich. Ein weit schmalerer, holpriger Fußweg bog davon ab und lief direkt an einem Bayou entlang. Eine Kette war davorgespannt, an der ein Schild hing: WARNUNG: GESPERRT FÜR KRAFTFAHRZEUGE.
Anstatt abzubremsen und in die Kurve zu gehen, stieg Pendergast aufs Gaspedal.
»Oha!«, rief D’Agosta, als sie direkt auf den Fußweg zuhielten. »Herr im Himmel –«
Mit einem Knall wie ein Flintenschuss brachen sie durch die Kette. Eine ungeheure Anzahl von Reihern, Geiern und Brautenten erhob sich mit protestierendem Krakeelen von den umstehenden Gelbholzbäumen und kahlen Zypressen. Der große Wagen schlingerte und ruckte einmal nach links, einmal nach rechts, immer wieder, bis D’Agosta nur noch verschwommen sah und ihm die Zähne im Schädel klapperten. Sie tauchten in ein Dickicht aus Zyperngras ein, und die hohen Halme teilten sich mit einem seltsamen whack, whack vor ihnen.
D’Agosta hatte ja schon einige haarsträubende Verfolgungsjagden mitgemacht, aber so etwas noch nicht. Das Sumpfgras war jetzt so hoch und dicht, dass sie nur wenige Wagenlängen vor sich erkennen konnten. Doch anstatt das Tempo zu drosseln, langte Pendergast hinüber und schaltete die Scheinwerfer ein, ohne abzubremsen.
D’Agosta klammerte sich fest, als ob es um sein Leben ginge, und wagte nicht, den Blick auch nur eine Sekunde von dem Sumpfgelände vor ihnen abzuwenden. »Langsamer, Pendergast«, rief er. »Wir haben ihn abgehängt! Um Himmels willen, fahren Sie –«
Und dann, ganz plötzlich, waren sie aus dem Gras heraus. Der Wagen fuhr über eine Bodenerhebung, und sie segelten, ganz buchstäblich, auf ein offenes, etwas höher gelegenes Gelände, das aus dem tiefen Sumpf ragte. Ein paar graue Nebengebäude und eingezäunte Teiche waren zu sehen. Erst jetzt, als die Sicht besser war und es Erkennungszeichen gab, an denen man sich orientieren konnte, erkannte D’Agosta so richtig, wie schnell sie gefahren waren. Auf einer großen, verwitterten Reklametafel stand:
GATORVILLE U.S.A.
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* IM WINTER GESCHLOSSEN *
Der Rolls prallte auf den Boden auf, hob sich mit ungeheurer Wucht und schoss weiter vorwärts. Pendergast trat auf die Bremse, worauf der Wagen über den unbefestigten Hof schlitterte. D’Agostas Blick glitt von dem Schild zu dem direkt vor ihnen liegenden wackeligen Holzgebäude mit Wellblechdach, dessen scheunenartige Tore offen standen. Auf einem Schild im Fenster war zu lesen: VERARBEITUNG. Er erkannte, dass sie auf keinen Fall rechtzeitig anhalten konnten.
Der Rolls krachte in den Schuppen, man spürte eine gewaltsame Geschwindigkeitsabnahme und einen halben Crash, der D’Agosta zurück in die Ledersitze warf, und dann standen sie. Eine gewaltige Staubwolke rollte über sie hinweg. Als sie sich langsam hob, sah er, dass der Rolls einen Stapel übergroßer Plastik-Fleischbehälter gerammt hatte und ein Dutzend von ihnen weit aufgerissen waren. Drei gepökelte, gehäutete Alligatorleichen, hellrosa mit langen weißlichen Fettstreifen, klebten an der Motorhaube und der Windschutzscheibe.
Es entstand ein Augenblick eigentümlichen Stillstands. Pendergast blickte auf die Windschutzscheibe – voll mit Regentropfen, Sumpfgras, Spanischem Moos und Reptilienschmutz –, dann sah er D’Agosta an. »Da fällt mir ein«, sagte er, während der Motor zischte und tickte. »Irgendwann müssen wir Maurice wirklich mal bitten, uns sein Alligator-Étouffée zu machen. Seine Verwandten stammen aus dem Atchafalaya-Becken, und er hat da so ein wunderbares Rezept, das seit langem in der Familie weitergegeben wird.«